Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 30.10.2016, Az. 1 BvR 1766/14

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2016, 3093

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Gewährung von Akteneinsicht gem § 406e Abs 1 StPO ohne Anhörung des Beschuldigten stellt schweren Verfahrensfehler dar - zur Rechtswegerschöpfung muss jedoch nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens bzw Abschluss des Hauptverfahrens Beschwerde gem § 304 Abs 1 StPO eingelegt werden


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Der Beschwerdeführer und Beschuldigte in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die einem [X.] gemäß § 406e Abs. 1 [X.] gewährte Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft, ohne ihn hierzu vorher anzuhören. Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf richterliche Feststellung, dass die bewilligte Akteneinsicht ohne vorheriges rechtliches Gehör rechtswidrig war, bestätigte das Amtsgericht die staatsanwaltschaftliche Verfügung zur Bewilligung von Akteneinsicht. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

2

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] nicht vorliegen. Sie ist aus Gründen der materiellen Subsidiarität unzulässig, weil der Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des Amtsgerichts keine Beschwerde gemäß § 406e Abs. 4 Satz 4 in Verbindung mit § 304 Abs. 1 [X.] eingelegt hat.

3

1. Der aus § 90 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleitete Grundsatz der materiellen Subsidiarität fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne (formelle Subsidiarität) hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in den unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. [X.] 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 129, 78 <92>; 134, 106 <115 Rn. 27>; stRspr). Es entspricht der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen [X.] selbst gewähren und etwaige im Instanzenzug auftretende Fehler durch Selbstkontrolle beheben ([X.] 68, 376 <380>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2015 - 1 BvR 3276/08 -, NJW 2015, [X.]). Hat sich der Eingriff erledigt bevor der Betroffene Abhilfe im fachgerichtlichen Verfahren erlangen konnte, gebietet der von den Fachgerichten zu gewährende Grundrechtsschutz, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung eines schwer wiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs nachträglich gerichtlich klären zu lassen (vgl. [X.] 96, 27 <40>; 104, 220 <232 f.>; 117, 244 <268 f.>; stRspr).

4

2. Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht. Mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung in entsprechender Anwendung von § 406e Abs. 4 Satz 2 [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 18. Januar 1993 - 5 AR ([X.]) 44/92 -, NJW 1993, S. 1341 <1342>; [X.]/[X.], [X.], 58. Auflage 2015, § 406e Rn. 11 m.w.N.) hat der Beschwerdeführer den Rechtsweg zwar formell erschöpft, da die Entscheidung des Amtsgerichts als Ermittlungsgericht gemäß § 406e Abs. 4 Satz 4 [X.] unanfechtbar ist, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind. Nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptverfahrens ist gegen die Entscheidung des nach § 406e Abs. 4 Satz 2 [X.] angerufenen [X.] jedoch die Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 [X.] statthaft (vgl. BTDrucks 16/12098, [X.]). Diese Möglichkeit des Rechtsschutzes vor den Fachgerichten mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Akteneinsicht wegen der unterlassenen vorherigen Anhörung hat der Beschwerdeführer nicht ausgeschöpft. Er trägt auch nicht vor, weshalb ihm die Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs nicht zumutbar ist. Dass in der [X.] bis zur Entscheidung die Akten von der Staatsanwaltschaft erneut ohne Anhörung des Beschwerdeführers herausgegeben würden, ist nicht zu erwarten, da sie nicht mehr bei der Staatsanwaltschaft, sondern nunmehr bei Gericht sind. Über die Gewährung der Akteneinsicht nach Anklageerhebung entscheidet gemäß § 406e Abs. 4 Satz 1 [X.] der Vorsitzende; seine Entscheidung kann mit der Beschwerde angefochten werden.

5

3. Bei der Entscheidung über die Beschwerde wird das [X.] zu berücksichtigen haben, dass die Gewährung von Akteneinsicht regelmäßig mit einem Eingriff in [X.] des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden ist und die Staatsanwaltschaft vor Gewährung der Akteneinsicht deshalb zu einer Anhörung des von dem [X.] betroffenen Beschuldigten verpflichtet ist (vgl. [X.], in: [X.] Kommentar zur [X.], 7. Auflage 2013, § 406e, 8.; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 15. April 2005 - 2 BvR 465/05 -, NStZ-RR 2005, [X.]; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2006 - 2 BvR 67/06 -, NJW 2007, [X.]). Die unterlassene Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 12. April 2013 - 13 [X.]/13 -, juris; entgegen [X.], Beschluss vom 10. Januar 2005 - 22 [X.]/04 -, juris; KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015 - 4 Ws 83/15 - 141 Ar 417/15, [X.], [X.] zur Nachholung im Beschwerdeverfahren).

6

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

7

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1766/14

30.10.2016

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend AG München, 16. April 2014, Az: ER II Gs 2151/14, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 90 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 304 Abs 1 StPO, § 406e Abs 1 StPO, § 406e Abs 4 S 2 StPO, § 406e Abs 4 S 4 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 30.10.2016, Az. 1 BvR 1766/14 (REWIS RS 2016, 3093)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 3093

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 1362/16 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör eines Verfahrensbeteiligten (Art 103 Abs 1 GG) …


1 BvR 1259/16 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Fortbestehendes Rechtsschutzinteresse trotz prozessualer Überholung bzgl Rechtsschutz gegen Gewährung von Akteneinsicht an Dritte …


1 BvR 2192/21 (Bundesverfassungsgericht)

Erfolgreicher Eilantrag zur vorläufigen Außervollzugsetzung der Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren - unterlassene Anhörung der …


2 BvR 453/19 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde wegen Subsidiarität (§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG) bei unterbliebener …


2 BvR 2577/14 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Handhabung von Formerfordernissen im PKH-Verfahren - hier: Darlegungsobliegenheiten im Rahmen …


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.