Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.09.2020, Az. VI ZR 544/19

6. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1116

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Gegenstand

Rechtsanwaltsverschulden bei Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist für einen mittellosen Revisionsführer: Anwaltliche Pflicht zur Überprüfung der ordnungsgemäßen Notierung der durch die Bekanntgabe eines Prozesskostenhilfebeschlusses in Lauf gesetzten Frist für einen Wiedereinsetzungsantrag


Leitsatz

Wird ein Beschluss über die Gewährung von Prozesskostenhilfe dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers gemäß § 174 Abs. 1 ZPO gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, so hat der Prozessbevollmächtigte bei Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses anhand der Handakte zu überprüfen, ob eine durch Bekanntgabe dieses Beschlusses in Lauf gesetzte Frist für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ordnungsgemäß notiert ist. Unterlässt er dies, so liegt bereits hierin ein Verschulden im Sinne des § 233 Abs. 1 ZPO; unterbleibt infolge des Versäumnisses die rechtzeitige Stellung des Wiedereinsetzungsantrags, so scheidet eine Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist aus (Fortführung Senatsbeschlüsse vom 2. Februar 2010 - VI ZB 58/09, NJW 2010, 1080 Rn. 6; vom 12. Januar 2010 - VI ZB 64/09, NJW-RR 2010, 417 Rn. 9; vom 5. November 2002 - VI ZR 399/01, NJW 2003, 435, 436, juris Rn. 9; BGH, Beschluss vom 12. September 2019 - IX ZB 13/19, MDR 2019, 1397 Rn. 13 mwN).

Tenor

Der Antrag des Beklagten, ihm hinsichtlich der versäumten Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wird zurückgewiesen.

Die Revision gegen das Urteil des 11. Zivilsenats des [X.] vom 28. Februar 2019 wird auf Kosten des Beklagten als unzulässig verworfen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis zu 22.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt den Beklagten in Zusammenhang mit dem Erwerb einer Kapitalanlage auf Schadensersatz in Anspruch. Das [[X.]] hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des [[X.]] hat das [[X.]] die Entscheidung des [[X.]]s teilweise - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung - abgeändert, den Beklagten zur Zahlung von [[X.]] nebst Zinsen an den Kläger verurteilt und festgestellt, dass die Schadensersatzpflicht des Beklagten auf einer vorsätzlich begangenen deliktischen Handlung beruht. Die Revision hat das Berufungsgericht zugelassen.

2

Das Berufungsurteil wurde den vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 15. März 2019 zugestellt. Mit beim [[X.]] am 26. März 2019 eingegangenem Schriftsatz beantragte der beim [[X.]] zugelassene Rechtsanwalt [X.] als Prozessbevollmächtigter des Beklagten, diesem Prozesskostenhilfe für das Revisionsverfahren zu gewähren und dem Beklagten ihn, den Prozessbevollmächtigten, gemäß § 121 Abs. 2 ZPO beizuordnen. Mit in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten am 18. November 2019 eingegangenem und von ihm mit [X.] unter dem 19. November 2019 als zugestellt anerkanntem Beschluss vom 12. November 2019 hat der erkennende Senat diesen Anträgen entsprochen. Auf telefonische Mitteilung der Rechtspflegerin an die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten vom 18. Dezember 2019, dass bislang kein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingegangen sei, hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten mit am 20. Dezember 2019 eingegangenem Schriftsatz beantragt, dem Beklagten Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Wiedereinsetzung in die versäumte [X.] und Wiedereinsetzung in die versäumte [X.] zu gewähren, und zugleich für den Beklagten Revision eingelegt.

3

Zur Begründung seines Antrags hat er - unter anwaltlicher Versicherung und Beifügung einer eidesstattlichen Versicherung seiner Kanzleiangestellten - im Wesentlichen ausgeführt, seine Kanzlei sei mit einer Rechtsanwaltsfachgehilfin und einer Rechtsfachwirtin, [X.], besetzt. Die eingehende Post werde abwechselnd von der einen oder von der anderen bearbeitet. Beide Mitarbeiterinnen seien darüber informiert, dass im Falle der Gewährung von Prozesskostenhilfe für einen Rechtsmittelführer, bei dem im Hinblick auf den rechtzeitig gestellten [X.] die Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfrist versäumt worden seien, innerhalb der Zweiwochenfrist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung beantragt werden müsse und diese Frist mit dem Zugang des Beschlusses über die Gewährung von Prozesskostenhilfe zu laufen beginne. Die Mitarbeiterinnen seien angewiesen, diese Frist mit dem Eingang der [X.] im [X.] und im elektronischen Fristenkalender sowie in der Handakte einzutragen. Am Tag des Eingangs des Beschlusses des erkennenden Senats über die Gewährung von Prozesskostenhilfe und seine Beiordnung vom 12. November 2019, nämlich dem 18. November 2019, habe die Rechtsfachwirtin, [X.], die eingehende [X.] bearbeitet. Sie sei in der Kanzlei seit dem [X.] angestellt und habe die ihr obliegende Aufgabe der Fristenerfassung und -notierung stets äußerst zuverlässig bewältigt, wovon er, der Prozessbevollmächtigte, sich durch stichprobenweise Kontrolle der Eintragungen im [X.] und in der Handakte regelmäßig vergewissere. Im Streitfall habe [X.] aus ihr selbst und dem Prozessbevollmächtigten unerklärlichen Gründen die Fristennotierung komplett versäumt. Deshalb sei die [X.] - anders als die im Hinblick auf den [X.] versäumte und wegen dieses Antrags als "erledigt" vermerkte Revisions- und Revisionsbegründungsfrist, die in den Fristenkalendern eingetragen gewesen seien - nicht erfasst und notiert worden. Erst durch den Anruf vom 18. Dezember 2019 sei das Versäumnis bemerkt worden.

II.

4

1. Der Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte [X.] hat keinen Erfolg.

5

a) Nach § 234 Abs. 1 ZPO muss die Wiedereinsetzung in eine versäumte Frist grundsätzlich innerhalb von zwei Wochen beantragt werden; die Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist. Besteht das Hindernis für die Einlegung eines Rechtsmittels darin, dass die betreffende [X.] die für die Einlegung des Rechtsmittels erforderlichen Mittel nicht aufzubringen vermag, so entfällt das Hindernis mit Bekanntgabe des Beschlusses über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe, so dass der Lauf der [X.] zu diesem Zeitpunkt beginnt (vgl. nur [X.], Beschluss vom 19. Juni 2007 - [X.], [X.]Z 173, 14 Rn. 10 mwN). Nachdem der [X.] dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 18. November 2019 zugegangen und der Empfang von ihm unter dem 19. November 2019 gemäß § 174 ZPO bestätigt wurde, war die Frist zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten [X.] bei Eingang des diesbezüglichen Antrags am 20. Dezember 2019 bereits abgelaufen.

6

b) Die Versäumung dieser Frist erfolgte nicht ohne ein - dem Beklagten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes - Verschulden seines Prozessbevollmächtigten.

7

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist für den Fall der Zustellung eines Urteils an einen Rechtsanwalt gegen [X.] gemäß § 174 ZPO anerkannt, dass ein die Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsmittelfrist ausschließendes Verschulden regelmäßig bereits darin liegt, dass der Prozessbevollmächtigte das [X.] ohne Überprüfung auch nur der Handakte - durch die das Versäumnis im Streitfall bereits aufgefallen wäre - unterzeichnet und zurückreicht (vgl. Senatsbeschlüsse vom 2. Februar 2010 - [X.], NJW 2010, 1080 Rn. 6; vom 12. Januar 2010 - [X.], NJW-RR 2010, 417 Rn. 9; vom 5. November 2002 - [X.], [X.], 435, 436, juris Rn. 9; [X.], Beschluss vom 12. September 2019 - [X.], [X.], 1397 Rn. 13 mwN). Für die im Streitfall maßgebliche Sachverhaltskonstellation der Zustellung eines Prozesskostenhilfe gewährenden Beschlusses, durch den die [X.] des § 234 Abs. 1 ZPO in Bezug auf eine versäumte Rechtsmittelfrist zu laufen beginnt, kann nichts anderes gelten. Zwar ist eine förmliche Zustellung des [X.]es in diesem Fall - anders als die förmliche Zustellung eines Urteils für den Lauf der Rechtsmittelfrist - keine für den Lauf der Frist notwendige Voraussetzung (vgl. [X.], Beschluss vom 5. November 1984 - [X.], [X.], 68, 69, juris Rn. 5 mwN). Erfolgt aber eine solche Zustellung, so lässt der das [X.] unterzeichnende Prozessbevollmächtigte auch hier ihm ohne weiteres zur Verfügung stehende und zumutbare Kontrollmöglichkeiten außer [X.], wenn er das [X.] unterzeichnet, ohne sich in der Handakte zu vergewissern, dass die nunmehr in Lauf gesetzte [X.] des § 234 Abs. 1 ZPO für den Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsmittelfrist und Rechtsmitteleinlegung (vgl. § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) ordnungsgemäß notiert ist.

8

Auf die von der Revisionserwiderung verneinte Frage, ob die vom Prozessbevollmächtigten für einen solchen Fall allgemein getroffenen organisatorischen Vorkehrungen den diesbezüglichen Anforderungen genügen, kommt es vor diesem Hintergrund im Streitfall nicht mehr an.

9

2. Scheidet eine Wiedereinsetzung des Beklagten in den vorigen Stand in Bezug auf die [X.] aus, so ist die Revision des Beklagten als unzulässig zu verwerfen. Denn die nach § 548 ZPO einmonatige [X.] ist bereits am 15. April 2019 und damit vor Eingang der [X.] am 20. Dezember 2019 abgelaufen.

Seiters     

        

von Pentz     

        

Offenloch

        

Roloff      

        

Müller      

        

Meta

VI ZR 544/19

15.09.2020

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Celle, 28. Februar 2019, Az: 11 U 23/18

§ 85 Abs 2 ZPO, § 114 ZPO, §§ 114ff ZPO, § 121 ZPO, § 174 Abs 1 ZPO, § 233 Abs 1 ZPO, § 234 ZPO, § 542 ZPO, § 548 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.09.2020, Az. VI ZR 544/19 (REWIS RS 2020, 1116)

Papier­fundstellen: MDR 2020, 1429-1430 WM2020,2047 REWIS RS 2020, 1116

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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