Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 25.04.2012, Az. 1 BvR 2869/11

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 6956

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Zu den Grenzen zulässiger Beweisantizipation im PKH-Verfahren - Befugnis des Fachgerichts zu Ermittlungen im Rahmen der Schlüssigkeitsprüfung sowie zur Beseitigung von Substantiierungsmängeln - hier: Bitte um Entbindung behandelnder Ärzte von der Schweigepflicht - keine Verletzung der Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) durch Versagung von Prozesskostenhilfe für sozialgerichtliches Berufungsverfahren


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Berufungsverfahren.

I.

2

Der Beschwerdeführer begehrte vor dem [X.] wegen Erwerbsminderung, nachdem der Rentenversicherungsträger nach Einholung eines Gutachtens seines sozialmedizinischen Dienstes die Rentengewährung abgelehnt hatte.

3

Das Sozialgericht wies die Klage mit Gerichtsbescheid ab, weil ein unter sechsstündiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht festgestellt werden könne. Es stützte sich dabei auf zwei im Gerichtsverfahren eingeholte ärztliche Sachverständigengutachten, denen es mehr Beweiswert zubilligte als den Einschätzungen der behandelnden Ärzte.

4

Gegen den Gerichtsbescheid legte der Beschwerdeführer - anwaltlich vertreten - Berufung ein und beantragte zugleich Prozesskostenhilfe. Der Beschwerdeführer wandte sich gegen die Beweiswürdigung des Sozialgerichts und forderte die Einholung weiterer Sachverständigengutachten.

5

In einem späteren Schriftsatz wiederholte der Beschwerdeführer sein Vorbringen aus der Berufungsschrift und teilte darüber hinaus mit, dass seitens des für ihn zuständigen Trägers der Grundsicherung für Arbeitsuchende ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben worden sei, um seine Erwerbsfähigkeit zu überprüfen. Zuvor sei ihm von einem Vertragsarzt des [X.]eine Arbeitsunfähigkeit für fünf bis sechs Monate attestiert worden; diese Stellungnahme legte der Beschwerdeführer dem [X.]vor. Zugleich wurde um Entscheidung über den [X.] gebeten.

6

Daraufhin bat das [X.] in einem Schreiben den Beschwerdeführer, seine Ärzte gegenüber dem [X.]schriftlich von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden, das vor allem folgenden Text enthielt: "In dem Rechtsstreit […] sind zur Aufklärung des Sachverhaltes Ermittlungen erforderlich. Der Kläger wird deshalb gebeten, die beiliegende Erklärung über die Entbindung von Geheimhaltungspflichten und von der ärztlichen Schweigepflicht abzugeben. Die alsbaldige Abgabe der unterschriebenen Erklärung fördert das Verfahren."

7

Der Beschwerdeführer fragte sodann nach der Entscheidung über den [X.] und übersandte wenige Tage später dem [X.] die Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht.

8

Mit angegriffenem Beschluss lehnte das [X.] die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren mangels Erfolgsaussichten ab, weil der angefochtene Gerichtsbescheid nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen nicht fehlerhaft sei. Im Berufungsverfahren seien bisher keine neuen Unterlagen eingegangen, aufgrund derer sich das Gericht gedrängt fühlen müsste, von Amts wegen weitere Feststellungen zum Leistungsvermögen des Beschwerdeführers zu treffen.

9

In der Folgezeit forderte das [X.] beim behandelnden Hausarzt und bei der behandelnden Nervenärztin Befundberichte an.

Die parallel zur Verfassungsbeschwerde erhobene Gegenvorstellung des Beschwerdeführers blieb erfolglos.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit [ref=95773377-7f94-4fc0-9d78-0d2439efab66]Art. 20 Abs. 3 [X.]]. Die Erfolgsaussichten der Berufung seien jedenfalls deswegen als offen zu bezeichnen, weil das [X.] selbst Ermittlungen in Form der Anfragen bei den behandelnden Ärzten durchgeführt habe.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.]G nicht vorliegen. Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil sie unbegründet ist. Das aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Gebot der weitgehenden Angleichung der Situation von [X.] und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. [X.] 81, 347 <356>) ist nicht verletzt. Der - nicht als verletzt gerügte - Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht einschlägig, weil der Zugang zum Gericht im vorliegenden sozialgerichtlichen Verfahren mangels Gerichtskostenpflicht und mangels Anwaltszwang nicht von der Gewährung von Prozesskostenhilfe abhängt.

[X.] müssen nur solchen [X.] weitgehend gleichgestellt werden, die ihre Prozessaussichten vernünftig abwägen und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigen (vgl. [X.] 9, 124 <130 f.>; 81, 347 <357>; 122, 39 <51>). Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG steht einer Besserstellung der Unbemittelten gegenüber [X.] entgegen (vgl. [X.], 406 <408>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 2. September 2010 - 1 BvR 1974/08 -, [X.] 2011, [X.] <463>; Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Dezember 2011 - 1 BvR 2735/11 -, juris, Rn. 7). Es entspricht daher den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn die Gewährung von Prozesskostenhilfe in § 114 Satz 1 ZPO - hier in Verbindung mit § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG - davon abhängig gemacht wird, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. [X.] 81, 347 <357>). Das bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen ist, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. [X.] 81, 347 <357>).

Die Auslegung und Anwendung des § 114 Satz 1 ZPO obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben (vgl. [X.] 81, 347 <357>). Das [X.] kann hier nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Rechtsschutzgleichheit beruhen (vgl. [X.] 81, 347 <357 f.>).

3. a) Vor diesem Hintergrund begegnet die Entscheidung des Landessozial-gerichts, hinreichende Erfolgsaussichten der Berufung des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Antrag auf Prozesskostenhilfe zu verneinen, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Mit Blick auf die im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten und deren Würdigung durch das Sozialgericht ist die Einschätzung des [X.]s jedenfalls vertretbar. Der Entscheidungsspielraum, der den Fachgerichten bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich zukommt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 5. Mai 2009 - 1 BvR 255/09 -, [X.] 2010, [X.]), ist damit nicht überschritten.

b) Zu keinem anderen Ergebnis führt der Umstand, dass das [X.] den Beschwerdeführer vor seiner Entscheidung über den [X.] gebeten hatte, seine behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden, und dabei erklärt hatte, dass Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhaltes erforderlich seien, deshalb um Entbindung von Schweigepflichten gebeten werde und die alsbaldige Abgabe von Erklärungen das Verfahren fördere.

aa) Die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussichten durch das Fachgericht setzt unter anderem eine entsprechende Kenntnis der tatsächlichen Grundlagen des [X.] voraus. Dem dienen zum einen Darlegungsobliegenheiten der [X.](vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. April 2010 - 1 BvR 362/10 -, juris, Rn. 15), zum anderen aber auch die Befugnis des Gerichts, vor der Entscheidung über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erhebungen anzustellen, insbesondere die Vorlegung von Urkunden anzuordnen und Auskünfte einzuholen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit [ref=32c28319-6deb-417a-b8b2-9f2988fe2f86]§ 118 Abs. 2 Satz 2 ZPO[/ref]). Es können ausnahmsweise sogar Zeugen und Sachverständige vernommen werden, wenn auf andere Weise nicht geklärt werden kann, ob die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit [ref=afe25fa4-0bbb-4dec-aa26-c31a4508a5a6]§ 118 Abs. 2 Satz 3 ZPO[/ref]).

Allerdings darf die Rechtsverfolgung nicht in das Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert werden; das Prozesskostenhilfeverfahren soll die Rechtsschutzgleichheit gewährleisten, aber nicht die Hauptsacheentscheidung vorwegnehmen (vgl. [X.] 81, 347 <357>). Zwar ist eine begrenzte Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren zulässig (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Februar 2002 - 1 BvR 1450/00 -, NJW-RR 2002, S. 1069, m.w.N.; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. April 2003 - 1 BvR 1998/02 -, NJW 2003, [X.]76 <2977>). Es verstößt aber gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit, wenn der [X.] wegen Fehlens der Erfolgsaussichten ihres [X.] Prozesskostenhilfe verweigert wird, obwohl eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 15. Dezember 2008 - 1 BvR 1404/04 -, juris, Rn. 30 m.w.N.). Eine vom Gericht im Rahmen der Amtsermittlung durch Beweisbeschluss bereits eingeleitete Beweisaufnahme indiziert daher hinreichende Erfolgsaussichten, so dass ab diesem Zeitpunkt Prozesskostenhilfe zu bewilligen sein wird, sofern nicht besondere Umstände des Einzelfalles ausnahmsweise eine andere Entscheidung nahelegen.

Von diesem Verfahrensstadium zu unterscheiden ist die Phase des Verfahrens, in der das Gericht noch nicht die Begründetheit des mit der Klage geltend gemachten Begehrens selbst, sondern lediglich im Rahmen der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch die Schlüssigkeit der Klage prüft und hierzu im Rahmen der [X.] anstellt, um [X.] zu beseitigen. Im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung ist es in dieser Phase zudem möglich, dass das Gericht Handlungen vornimmt, die noch der Vorbereitung der Durchführung des Hauptsacheverfahrens dienen.

bb) Nach diesen Grundsätzen ist die Entscheidung des [X.]s verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Gericht ist noch nicht in die Prüfung des Klagebegehrens eingetreten, sondern hat lediglich Vorbereitungen getroffen, um über die hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage und damit über den [X.] entscheiden zu können. Die Anforderung der Entbindungserklärung und von [X.] der behandelnden Ärzte dienen dazu, den klägerischen Vortrag zu [X.]und schlüssig zu machen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2869/11

25.04.2012

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 2. September 2011, Az: L 2 R 256/11, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 73a Abs 1 S 1 SGG, § 114 S 1 ZPO, § 118 Abs 2 S 2 ZPO, § 118 Abs 2 S 3 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 25.04.2012, Az. 1 BvR 2869/11 (REWIS RS 2012, 6956)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6956

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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