Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.10.2015, Az. 3 StR 363/15

3. Strafsenat | REWIS RS 2015, 3294

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Gegenstand

Verminderte Schuldfähigkeit: Anlass zur Prüfung der Schuldfähigkeit auf Grund besonderer Tatumstände; Bindung des neuen Tatrichters an die erstinstanzlichen Feststellung zur Schuldfähigkeit im durch das Revisionsgericht aufgehobenen Urteil


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 10. Juni 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den bereits aufgrund des Urteils des [X.]s Hannover vom 23. April 2012 rechtskräftig des Mordes für schuldig befundenen Angeklagten zur lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere seiner Schuld festgestellt. Die hiergegen gerichtete, auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

2

Das [X.] Hannover hatte den Angeklagten durch Urteil vom 23. April 2012 wegen Mordes zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hatte der Senat dieses Urteil, soweit es den Angeklagten betraf, durch Urteil vom 20. Dezember 2012 (3 [X.], [X.], 629) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Das [X.] hatte die Anwendung des gesetzlich vertypten [X.] gemäß § 46b StGB nicht rechtsfehlerfrei begründet. Im Umfang der Aufhebung hatte der Senat die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere [X.] des [X.]s zurückverwiesen.

3

Durch Urteil vom 12. August 2013 hatte das [X.] Hannover den Angeklagten sodann (wiederum) zur Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Diese Entscheidung hatte der Senat auf die Revision der Staatsanwaltschaft durch Urteil vom 12. Juni 2014 (3 [X.], [X.], 182) mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine [X.] des [X.]s Hildesheim zurückverwiesen. Dieses Urteil des [X.]s Hannover hatte der rechtlichen Nachprüfung nicht standgehalten, da es gegen den Grundsatz der innerprozessualen Bindung an nicht aufgehobene Feststellungen des früheren Urteils vom 23. April 2012 verstoßen hatte. Das [X.] war in seiner neuen Entscheidung aufgrund der auch in der zweiten Hauptverhandlung abgegebenen Einlassung des Angeklagten davon ausgegangen, dass während dessen Aufenthalts in der Wohnung des Opfers bei ihm das Verlangen hinzugekommen sei, den durch Erinnerungen an Kindheitserlebnisse aufkommenden Hass an dem Tatopfer auszulassen und einem Gefühl, sich gegen zuvor erlebtes Unrecht wehren zu müssen, nachzugeben, indem er das Opfer umbringt. Auf der Grundlage dieser neuen Feststellungen hatte die sachverständig beratene [X.] - anders als die [X.] im früheren Urteil - angenommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat erheblich vermindert im Sinne von § 21 StGB gewesen sei und hatte den Strafrahmen des § 211 Abs. 1 StGB gemäß § 49 Abs. 1 StGB gemildert. Indes hatte das [X.] in seinem ersten Urteil die diesen zusätzlichen Feststellungen zugrunde liegende Einlassung des Angeklagten als widerlegt angesehen und festgestellt, dass beide Täter sich schon vor ihrem Aufbruch zum Tatort einig waren, dass der Angeklagte das Tatopfer töten sollte und dass es dabei (allein) um die Erlangung von Laptops und den Bezug der Wohnung des Opfers ging. Diese Feststellungen waren durch die Entscheidung des [X.] nicht aufgehoben worden und für den neuen Tatrichter daher bindend. Diese Bindungswirkung hatte das [X.] bei seinen neuen Feststellungen, die den bisherigen widersprachen, nicht beachtet.

II.

4

Das angefochtene Urteil des [X.]s Hildesheim hält der aufgrund der Sachbeschwerde des Angeklagten veranlassten materiell-rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das [X.] hat es versäumt, (selbst) zu prüfen und zu entscheiden, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit erheblich vermindert im Sinne von § 21 StGB gewesen ist.

5

Im Einzelnen:

6

1. Allerdings ist in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass die Schuldfähigkeit eines [X.] keiner näheren Prüfung und Erörterung bedarf, wenn Anhaltspunkte für ihre Beeinträchtigung völlig fehlen (vgl. LK/[X.], StGB, 12. Aufl., § 20 Rn. 234 mwN). [X.] jedoch tatsächliche Gründe behauptet (§ 267 Abs. 2 [X.]) oder liegen Umstände vor, die den Ausschluss oder die (erhebliche) Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von §§ 20, 21 StGB auch nur möglich erscheinen lassen, so bedarf es regelmäßig - gegebenenfalls unter Heranziehung eines Sachverständigen (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 5 [X.], [X.], 115; MüKoStGB/Streng, 2. Aufl., § 20 Rn. 162 ff.; LK/[X.] aaO, Rn. 236 f.) - von Amts wegen ihrer Prüfung, Erörterung und Darlegung im Urteil (vgl. [X.]/Kühl, StGB, 28. Aufl., § 20 Rn. 19 mwN; S/[X.]/Weißer, 29. Aufl., § 20 Rn. 45; [X.]/[X.]/[X.], Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl., Rn. 1416).

7

Gemessen daran war hier die Prüfung und Erörterung der Schuldfähigkeit des Angeklagten sachlich-rechtlich geboten.

8

a) Dies ergibt sich schon aus den vom [X.] im angefochtenen Urteil - zutreffend selbst getroffenen - Feststellungen zum Lebensweg des Angeklagten und seiner Persönlichkeit: Danach schlugen der Vater und die Stiefmutter den Angeklagten häufig und sperrten ihn wiederholt über längere [X.] ein. Sein Vater missbrauchte ihn sexuell. Kurz vor seinem siebten Lebensjahr kam der Angeklagte wegen der Inhaftierung seines [X.] in ein Heim und wuchs in den Folgejahren in verschiedenen Heimen auf, weil es stets nach nicht allzu langer [X.] zu Problemen kam. In einem dieser Heime kam es zu sexuellen Übergriffen auf ihn mit Oral- und Analverkehr durch ältere Mitbewohner. Der Angeklagte fiel durch [X.] auf, war leicht erregbar, fühlte sich schnell angegriffen und zeigte neben einem geringen Selbstwertgefühl auch Kontaktschwierigkeiten. Außerdem provozierte, bedrohte und beschimpfte er Mitmenschen. Ab April 1997 wurde der - damals sieben Jahre alte - Angeklagte psychotherapeutisch und im [X.] erstmals stationär psychiatrisch behandelt. In den Folgejahren kam es wegen zunehmender Verhaltensauffälligkeiten und Selbstschädigungen zweimal für mehrere Monate zu weiteren stationären Behandlungen. Ab dem Jahr 2003 verstärkten sich seine Verhaltensauffälligkeiten: Der Angeklagte zeigte wenig Empathie, eine geringe Frustrationstoleranz, Distanzschwierigkeiten, eine herabgesetzte Kritikfähigkeit und oppositionelles Verhalten mit aggressiven Durchbrüchen.

9

b) Aber auch die - vom [X.] Hannover durch sein Urteil vom 23. April 2012 insoweit bindend festgestellten - besonderen Tatumstände, insbesondere das außergewöhnliche Verhalten des Angeklagten bei der Tatausführung, machten die Prüfung seiner Schuldfähigkeit erforderlich (vgl. [X.], Urteile vom 15. Dezember 1988 - 1 [X.], NJW 1989, 2958 und 4 StR 535/88, [X.], 190 mwN; LK/[X.] aaO, Rn. 236 mwN). Insoweit ist im Wesentlichen von Bedeutung, dass der Angeklagte - nachdem er seinem Opfer in dessen Wohnung zunächst den Hals durchstochen hatte - diesem über einen [X.]raum von etwa einer Stunde in unterschiedlichen [X.]abständen weitere verschiedene, insgesamt 61 Stich- und Schnittverletzungen beibrachte, darunter einen Stich durch die Schädeldecke, die teilweise nicht lebensgefährlich, aber schmerzhaft waren, um sein Opfer über längere [X.] besonders leiden zu lassen. Schließlich legte er seinem klagenden Opfer ein Kissen auf das Gesicht, setzte sich darauf und wartete, eine Zigarette rauchend, bis dieses kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

c) Sollte das [X.] Hildesheim - wofür die Urteilsgründe sprechen könnten - davon ausgegangen sein, dass die Verneinung einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten durch das [X.] Hannover in seinem Urteil vom 23. April 2012 für die [X.] bindend gewesen sei, so wäre dies rechtlich unzutreffend. Das ergibt sich aus dem Folgenden:

Hebt das Revisionsgericht ein Urteil in Anwendung des § 353 Abs. 2 [X.] im Strafausspruch mit den (dazugehörigen) Feststellungen auf, so bezieht sich diese Aufhebung auf solche Umstände tatrichterlicher Sachverhaltsfeststellung, die ausschließlich die Straffrage betreffen. Hinsichtlich des nicht beanstandeten Schuldspruchs tritt [X.] ein. [X.] Feststellungen, die ausschließlich die Schuldfrage betreffen, und solche, die als doppelrelevante Umstände zugleich für Schuld- und Straffrage von Bedeutung sind, bleiben aufrechterhalten und sind für das weitere Verfahren bindend. Hierzu zählen nicht die Feststellungen zur erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten; diese gehören nur zum Rechtsfolgenausspruch (vgl. [X.]/[X.], [X.], 58. Aufl., § 353 Rn. 20 mwN). Daher bezieht sich die Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen auch auf die Feststellungen und die Entscheidung des früheren Tatgerichts zur Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des [X.] im Sinne von § 21 StGB. Eine Bindung des neuen Tatrichters an das insoweit teilweise aufgehobene Urteil besteht in der Regel nur in dem vom Senat in seiner Entscheidung vom 12. Juni 2014 dargelegten Umfang, also an festgestellte Sachverhaltsumstände, in denen die gesetzlichen Merkmale der dem Angeklagten zur Last gelegten Straftat gefunden worden sind und an solche Bestandteile der Sachverhaltsschilderung, aus denen der frühere Tatrichter im Rahmen der Beweiswürdigung seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten abgeleitet hat und die das Tatgeschehen im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs näher beschreiben, zum Beispiel die Umstände schildern, die der Tatausführung das entscheidende Gepräge gegeben haben. Hierzu darf der neue Tatrichter keine neuen, den bisherigen widersprechende Feststellungen treffen und seiner Entscheidung zugrunde legen (vgl. auch LR/[X.], [X.], 26. Aufl., § 353 Rn. 29 ff.).

Danach war die - für sich gesehen rechtlich nicht zu beanstandende - Feststellung des [X.]s Hannover in dessen Urteil vom 23. April 2012, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei nicht erheblich vermindert im Sinne von § 21 StGB gewesen, nach der Aufhebung dieses Urteils im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen weggefallen. Da das [X.] die Schuldfähigkeit unter den gegebenen Umständen nach sachlich-rechtlichen Grundsätzen nicht unerörtert lassen konnte, war es daher gehalten, die Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten selbst zu prüfen und (neu) zu entscheiden.

Die Sache bedarf daher zum Strafausspruch (erneut) neuer Verhandlung und Entscheidung.

2. Der neue Tatrichter wird darauf hingewiesen, dass die im angefochtenen Urteil für das Vorliegen der besonderen Schuldschwere gegebene Begründung zum Teil rechtlichen Bedenken begegnet.

Das [X.] Hildesheim hat die besondere Schwere der Schuld festgestellt (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; vgl. [X.], Beschluss vom 3. Juni 1992 - 2 BvR 1041/88 u.a., [X.]E 86, 288) und dies unter anderem zu Lasten des Angeklagten damit begründet, dass er mehrere Straftaten mit körperlichen Übergriffen zum Nachteil verschiedener Personen begangen habe, welche das [X.] Hannover festgestellt hatte. Darüber hinaus habe der Angeklagte nur wenige Stunden nach der menschenverachtenden Tat zum Nachteil des   [X.]auf dem Weg zurück zu dem von ihm und seinem Mittäter bewohnten Zelt Gegenstände aus mehreren Autos entwendet und sei später in ein Restaurant eingebrochen. Eigene Feststellungen zu diesen Straftaten - beruhend etwa auf diesbezüglichen Angaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung oder sonstigen Beweiserhebungen - hat das [X.] Hildesheim nach den Urteilsgründen nicht getroffen, sondern sich insoweit ersichtlich allein auf die entsprechenden - im Wortlaut wiedergegebenen - früheren Feststellungen des [X.]s Hannover bezogen. Dies ist rechtlich bedenklich. Denn aufgrund der Revisionsentscheidungen des [X.], durch die der Strafausspruch der früheren Urteile mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben worden war, hatte der neue Tatrichter zum Strafausspruch, zu dem auch die Feststellung der besonderen Schuldschwere gehört, eigene Feststellungen zu treffen. Es stellt daher einen sachlich-rechtlichen Fehler dar, wenn der neue Tatrichter - wie hier - sein Urteil auf aufgehobene Feststellungen stützt (vgl. [X.]/[X.], [X.], 58. Aufl., § 353 Rn. 20 ff.; [X.], Beschluss vom 29. Mai 2012 - 3 [X.], [X.], 356).

Unabhängig davon gilt allgemein: Sollen aus Vortaten und Vorstrafen gewichtigere Konsequenzen gezogen werden, ist es in der Regel sachlich-rechtlich geboten, die früheren Taten mit einer (zusammengefassten) Sachverhaltsschilderung und ggf. auch mit relevanten früheren Strafzumessungserwägungen festzustellen und mitzuteilen (vgl. [X.]/[X.]/[X.] aaO, Rn. 1387). In solchen Fällen kann unter Umständen die bloße Mitteilung des [X.] nicht genügen. Dies hat das [X.] Hildesheim hier nur hinsichtlich des Urteils des [X.] vom 21. Februar 2013 beachtet.

[X.]                                 Hubert

                         Mayer                               Gericke

Meta

3 StR 363/15

27.10.2015

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hildesheim, 10. Juni 2015, Az: 17 Js 28567/14 - 12 Ks

§ 21 StGB, § 267 Abs 2 StPO, § 353 Abs 2 StPO, § 358 Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.10.2015, Az. 3 StR 363/15 (REWIS RS 2015, 3294)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 3294

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