Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.02.2012, Az. V S 1/12 (PKH)

5. Senat | REWIS RS 2012, 9183

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Zugangsvermutung bei Bekanntgabe von Verwaltungsakten; Verteilung der Beweislast, Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien


Leitsatz

1. NV: Die Rechtsfrage, ob die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 AO die Beweislast der Zustellung umkehren kann, ist angesichts des Wortlauts der Norm und der dazu ergangenen Rechtsprechung des BFH nicht mehr klärungsbedürftig .

2. NV: Aus der Behauptung, das auf § 122 Abs. 2 AO beruhende Urteil des FG beinhalte einen Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien, ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache .

Tatbestand

1

I. Innerhalb der Beschwerdefrist beantragte der nicht vertretene Kläger und Antragsteller (Kläger) Prozesskostenhilfe (PKH) für eine noch einzulegende Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision im Urteil des Finanzgerichts ([X.]) vom 1. Dezember 2011  1 K 276/09.

2

Das [X.] hat die Klage unter Hinweis auf die in der Einspruchsentscheidung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --[X.]--) dargelegten Gründe als unbegründet abgewiesen (§ 105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Danach war der am 31. Juli 2009 beim [X.] eingegangene Einspruch des [X.] vom 22. Juli 2009 verspätet und somit unzulässig. Der angegriffene [X.] vom 18. Juni 2009 sei noch am selben [X.] gegeben worden und gelte --da der dritte Tag ein Sonntag gewesen [X.] am 22. Juni 2009 als bekanntgegeben. Die Einspruchsfrist sei mit Ablauf des 22. Juli 2009 verstrichen. Der Vortrag des [X.], ihm sei der Steuerbescheid tatsächlich erst am 12. Juli 2009 zugegangen, sei unsubstantiiert und zudem unglaubhaft, da es sich bei dem 12. Juli 2009 um einen Sonntag gehandelt habe. Trotz Aufforderung des [X.] habe der Kläger auch keine Wiedereinsetzungsgründe vorgetragen. Ergänzend wies das [X.] darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des [X.] ([X.]) nicht jedes einfache Bestreiten des Zugangszeitpunkts genüge, um die Zugangsvermutung und -fiktion des § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung ([X.]) außer [X.] zu setzen. Der Kläger habe substantiierte Tatsachen, die für einen späteren Zugang sprechen, nicht vorgetragen. Zudem habe er die ihm obliegende [X.], zum Beispiel in Form einer umgehenden Anzeige des verzögerten Zugangs beim [X.], unterlassen.

3

Der Kläger macht geltend, der Fall sei von grundsätzlicher Bedeutung. Zu klären sei, ob eine Zugangsvermutung und -fiktion die Beweislast der Zustellung umkehren könne. Wie sich auch aus § 130 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ergebe, habe die Beweislast für den Zugang von Willenserklärungen immer derjenige zu tragen, der sich auf den Zugang berufe. Außerdem verweise er auf das [X.]-Urteil vom 29. April 2009 [X.]/08 ([X.]/NV 2009, 1777). Der Fall müsse letztlich vom [X.] entschieden werden, da sich nach dem angegriffenen Urteil ein [X.] nicht an rechtsstaatliche Prinzipien halten müsse; in einem Rechtsstaat müsse der Absender den Nachweis der Zustellung erbringen. Wie durch Zeugen zu belegen sei, habe er im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eine eidesstattliche Versicherung angeboten.

4

Nach Aufforderung der Geschäftsstelle des [X.] hat der Kläger innerhalb der Beschwerdefrist eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (§ 142 [X.]O i.V.m. § 117 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--) vorgelegt.

Entscheidungsgründe

5

II. Der Antrag hat keinen Erfolg.

6

1. Für den beim [X.] als Prozessgericht zu stellenden Antrag auf [X.] besteht kein Vertretungszwang (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 5. September 2011 [X.] ([X.]), nicht veröffentlicht --n.v.--; vom 26. Januar 2011 [X.]/10 ([X.]), [X.]/NV 2011, 633). Der Gewährung von [X.] steht daher nicht entgegen, dass der Antragsteller den Antrag auf Gewährung von [X.] selbst und nicht durch eine vor dem [X.] vertretungsberechtigte Person oder [X.] von § 62 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 [X.]O gestellt hat.

7

2. Die vom Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet aber keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Gemäß § 142 Abs. 1 [X.]O i.V.m. § 114 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag [X.], wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. In dem Antrag ist das Streitverhältnis unter Angabe der Beweismittel darzustellen (§ 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Dazu muss in einem Rechtsmittelverfahren ein nicht rechtskundig vertretener Antragsteller zumindest erkennen lassen, in welchen Punkten und in welchem Umfang das angefochtene Urteil angegriffen werden soll ([X.]-Beschlüsse vom 6. Dezember 2011 [X.] ([X.]), n.v.; vom 27. September 2006 [X.] ([X.]), [X.]/NV 2007, 89, und vom 16. September 2010 [X.] ([X.]), [X.]/NV 2010, 2295).

8

Die Rechtsverfolgung verspricht hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn bei summarischer Prüfung die Gründe für und gegen einen Erfolg zumindest gleichwertig zu bewerten sind; eine abschließende Prüfung darf bei der Abwägung nicht vorgenommen werden (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 22. Dezember 2008 [X.] ([X.]), n.v., und vom 30. Juli 2004 [X.] ([X.]), [X.]/NV 2005, 216).

9

Bei der summarischen Prüfung des Vortrags des [X.], des Inhalts der vorliegenden Akten und des beanstandeten [X.] sind jedoch keine Anhaltspunkte für einen Grund i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 [X.]O ersichtlich, der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Zulassung der Revision führen könnte.

a) Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O erfordert substantiierte Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit einer hinreichend bestimmten Rechtsfrage, die im konkreten Streitfall voraussichtlich [X.] ist und deren Beurteilung zweifelhaft oder umstritten ist ([X.]-Beschluss vom 25. Januar 2011 [X.]/09, [X.]/NV 2011, 863).

aa) Soweit der Kläger sinngemäß die Rechtsfrage aufwirft, "ob eine Zugangsvermutung und Fiktion die Beweislast der Zustellung umkehren kann", ist diese Rechtsfrage durch den Wortlaut des § 122 Abs. 2 Nr. 1 [X.] und die dazu ergangene Rechtsprechung des [X.] bereits geklärt. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 [X.] gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Hinsichtlich der Beweislast für die Bekanntgabe regelt § 122 Abs. 2 [X.] im zweiten Halbsatz, dass die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs "im Zweifel" zu beweisen hat. Um die Beweislast der Behörde zu begründen, muss der Steuerpflichtige nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung durch substantiierte Erklärungen darlegen, dass er nicht rechtzeitig in den Besitz des Bescheides gekommen ist (vgl. zuletzt [X.]-Beschlüsse vom 25. Februar 2010 [X.], [X.]/NV 2010, 1115; vom 31. März 2008 [X.]/07, [X.]/NV 2008, 1335; vom 30. November 2006 [X.], [X.]/NV 2007, 389; [X.]-Urteile vom 6. September 1989 II R 233/85, [X.]E 158, 297, [X.] 1990, 108; vom 16. September 1986 [X.]/81, [X.]E 148, 104, [X.] 1987, 435).

Ob sich aus § 130 BGB eine davon abweichende Verteilung der Beweislast ergibt, kann der Senat offen lassen, da § 122 Abs. 2 [X.] eine Sonderregelung der Bekanntgabe für öffentlich-rechtliche Willenserklärungen darstellt (vgl. [X.] in Tipke/ [X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 122 Rz 48; [X.] in [X.]/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 122 Rz 50) und § 130 BGB insoweit nicht anwendbar ist.

bb) Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache wird auch nicht durch die Behauptung des [X.] dargelegt, das Urteil des [X.] beruhe auf einem Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien, weil --entgegen § 122 Abs. 2 [X.]-- in einem Rechtsstaat der Absender den Nachweis der Zustellung erbringen müsse. Denn der [X.] hat bereits im Urteil vom 8. Dezember 1976 [X.]/74 ([X.]E 121, 142, [X.] 1977, 321) die Verfassungsmäßigkeit der inhaltsgleichen Vorgängernorm (§ 17 des [X.]) ausdrücklich bejaht. Auch im Schrifttum wird die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm bejaht (vgl. [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 122 Rz 49; Müller-Franken in [X.]/[X.]/[X.], § 122 [X.] Rz 322; Güroff in [X.], [X.] § 122 Rz 32.1).

b) Soweit dem Hinweis des [X.] auf das [X.]-Urteil in [X.]/NV 2009, 1777 die Rüge der Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 [X.]O zu entnehmen sein sollte, liegt eine für die Zulassung wegen Divergenz erforderliche Abweichung nicht vor, da dem vorgeblichen Divergenzurteil und dem Urteil des [X.] unterschiedliche Sachverhalte zugrunde liegen. Das [X.]-Urteil in [X.]/NV 2009, 1777 betrifft die Frage der Beweislast in einem Fall, in dem der Steuerpflichtige bestreitet, einen durch die Post übermittelten Steuerbescheid überhaupt erhalten zu haben, während es im Streitfall um die Beweislast für den verspäteten Zugang eines Steuerbescheides geht.

c) Auch die Behauptung des [X.], er habe in der mündlichen Verhandlung zur Glaubhaftmachung des (verspäteten) Zugangs des [X.] 2007 eine eidesstattliche Versicherung angeboten, ist nicht geeignet, eine Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensfehlers nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O zu begründen. Abgesehen davon, dass der Kläger nicht gehindert war, dem Gericht zur Bekräftigung seines Vortrags eine derartige Versicherung an Eides statt vorzulegen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass sich aus einer eidesstattlichen Versicherung die Umstände des behaupteten Zugangs in einer Weise ergeben hätten, die beim [X.] zu substantiierten Zweifeln am Zugang innerhalb der Dreitagesfrist geführt hätten. Auf der Grundlage des vom [X.] eingenommenen materiell-rechtlichen Standpunkts konnte eine eidesstattliche Versicherung ohne diese Angaben die Entscheidung des [X.] nicht beeinflussen.

3. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen. Gerichtsgebühren entstehen nicht (§ 142 [X.]O i.V.m. § 118 Abs. 1 Sätze 4 und 5 ZPO und § 1 Abs. 2 Nr. 2, § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes in Verbindung mit dem Kostenverzeichnis).

Meta

V S 1/12 (PKH)

14.02.2012

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

nachgehend BVerfG, 19. April 2012, Az: 1 BvR 529/12, Kammerbeschluss ohne Begründung

§ 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 FGO, § 114 Abs 2 Nr 3 FGO, § 142 FGO, § 114 ZPO, § 117 ZPO, § 122 Abs 2 AO, § 130 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.02.2012, Az. V S 1/12 (PKH) (REWIS RS 2012, 9183)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9183


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. V S 1/12 (PKH)

Bundesfinanzhof, V S 1/12 (PKH), 14.02.2012.


Az. 1 BvR 529/12

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 529/12, 19.04.2012.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

12 K 758/20 (FG München)

Dienstleistungen, Unfallversicherung, Bescheid, Revision, Werbungskosten, Einspruch, Einspruchsfrist, Aufwendungen, Zugang, Wiedereinsetzung, PKH], Einkommensteuerbescheid, Steuerberater, Einspruchsverfahren, Aufgabe …


V B 17/11 (Bundesfinanzhof)

Bekanntgabe von Steuerbescheiden


IX R 41/15 (Bundesfinanzhof)

Bekanntgabe eines Verwaltungsakts im Ausland - Übermittlung mittels einfachen Briefs - Zugangsvermutung - Gegenstand des …


III R 27/17 (Bundesfinanzhof)

Zugangsvermutung bei Beauftragung eines privaten Postdienstleisters unter Einschaltung eines Subunternehmers


VIII B 123/10 (Bundesfinanzhof)

Behauptung eines von der Zugangsvermutung abweichenden Zugangszeitpunkts


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.