Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.11.2016, Az. VI ZB 27/15

6. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 1714

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Gegenstand

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Entscheidung über den Antrag vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist


Leitsatz

Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darf das Gericht nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. Eine vorzeitige Entscheidung kann den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzen und die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011, V ZB 310/10, NJW 2011, 1363).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des [X.] wird der Beschluss des 5. Zivilsenats des [X.] vom 12. Mai 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 39.500 €.

Gründe

I.

1

Das [X.] hat die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Einstandspflicht wegen angeblicher Behandlungsfehler gerichtete Klage mit Urteil vom 11. Februar 2015 weit überwiegend abgewiesen. Das Urteil ist der erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des [X.] am 13. Februar 2015 zugestellt worden. Am 12. März 2015 hat der nunmehr mandatierte Prozessbevollmächtigte des [X.] Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 20. April 2015, dem Prozessbevollmächtigten des [X.] am 22. April 2015 zugegangen, hat das Berufungsgericht auf die beabsichtigte Verwerfung der Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hingewiesen. Am 29. April 2015 hat der Prozessbevollmächtigte des [X.] einen Antrag auf Wiedereinsetzung übersandt und die Berufung begründet. Er hat vorgetragen, vom 22. bis 28. April 2015 urlaubsbedingt abwesend gewesen zu sein. Die Fristversäumung beruhe auf dem Versehen seiner zuverlässigen und ansonsten beanstandungsfrei arbeitenden Rechtsanwaltsfachangestellten Frau [X.], die die Berufungsbegründungsfrist nicht in den [X.] eingetragen habe. Dem Wiedereinsetzungsantrag ist eine entsprechende eidesstattliche Versicherung der Frau [X.] beigefügt gewesen.

2

Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 12. Mai 2015 den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unbegründet sei. Der Kläger habe bereits nicht schlüssig dargelegt, dass er ohne ihm [X.] Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gehindert gewesen sei, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten.

3

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Rechtsbeschwerde.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Indem das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der [X.] zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen hat, hat es den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.

5

1. Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der [X.]en haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung jedes Schriftsatzes, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht ([X.] 53, 219, 222; vgl. auch [X.]/[X.], ZPO, 31. Aufl., Vor § 128 Rn. 6 jeweils mwN). Danach darf das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der [X.] entscheiden; dabei ist unerheblich, ob es die Sache für entscheidungsreif hält, weil der Antragssteller innerhalb der Frist zu den [X.] ergänzend vortragen kann und darf (vgl. [X.], Beschluss vom 17. Februar 2011 - [X.]/10, NJW 2011, 1363 Rn. 4).

6

2. Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Berufungsgericht hat sich in [X.] unzulässiger Weise der Möglichkeit begeben, Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, da es vor Fristablauf einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beschieden hat. Die Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung beträgt nach § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO einen Monat, wenn die [X.] verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Sie beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Abs. 2 ZPO). Dem Prozessbevollmächtigten des [X.] ist die Verfügung des Berufungsgerichts am 22. April 2015 zugestellt worden. Selbst wenn man für dessen Kenntnis von der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als Zeitpunkt der Behebung des Hindernisses auf dieses Datum abstellt, war am 12. Mai 2015 die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO noch nicht abgelaufen. Die Bescheidung des [X.] war mithin verfrüht. Dabei kann dahinstehen, ob - wie von der Beschwerde vorgetragen - eine gerichtliche Hinweispflicht bestand, den Kläger auf seinen für unzureichend erachteten Vortrag hinzuweisen (vgl. zur Reichweite der Hinweispflichten bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etwa Senatsbeschluss vom 16. August 2016 - [X.], [X.], 1463 Rn. 7 ff.; [X.], Beschlüsse vom 3. April 2008 - [X.], [X.], 837; und vom 10. März 2011 - [X.], NJW-RR 2011, 790).

7

Der Verstoß war entscheidungserheblich, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger seinen Vortrag zur Begründung des [X.] bis zum Fristablauf hinreichend ergänzt hätte.

8

3. Danach kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Die Sache ist gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens des [X.] im Rechtsbeschwerdeverfahren an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Galke      

        

Wellner      

        

von [X.]

        

Oehler      

        

[X.]      

        

Meta

VI ZB 27/15

29.11.2016

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG Köln, 12. Mai 2015, Az: 5 U 38/15, Beschluss

Art 103 Abs 1 GG, § 234 Abs 1 ZPO, § 236 Abs 2 ZPO, § 574 Abs 2 Nr 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.11.2016, Az. VI ZB 27/15 (REWIS RS 2016, 1714)

Papier­fundstellen: NJW 2017, 1111 REWIS RS 2016, 1714


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. XI ZR 430/16

Bundesgerichtshof, XI ZR 430/16, 16.05.2017.


Az. VI ZB 27/15

Bundesgerichtshof, VI ZB 27/15, 29.11.2016.


Az. 5 U 38/15

Oberlandesgericht Köln, 5 U 38/15, 12.05.2015.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Wiedereinsetzungsantrag: Anforderung an konkludente Antragstellung; Nachweis der korrekten Sendezeit bei Übertragung der Berufungsbegründung per Fax


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