Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16.06.2016, Az. 1 BvR 2509/15

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2016, 9834

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) durch Versagung von PKH wegen vermuteter Prozessunfähigkeit des Antragstellers nach bloßer Aktenlage - Ausschöpfung aller Beweismittel (insb Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung des Antragstellers) geboten


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 4. August 2015 (3 Oa 1/15) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Die [X.] hat dem Beschwerdeführer ein Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Beschlüsse des [X.], mit denen über einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, eine Anhörungsrüge und ein Ablehnungsgesuch entschieden wurde.

2

Der Beschwerdeführer beantragte für eine beabsichtigte Klage auf Entschädigung wegen überlanger Dauer mehrerer arbeitsgerichtlicher Verfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Der dem Antrag beigefügte Klageentwurf war geprägt von Verunglimpfungen und Beschimpfungen der Justiz im Allgemeinen und auch von einzelnen, namentlich genannten Richtern.

3

Das [X.] wies den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zurück, weil für die beabsichtigte Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten bestünden. Die schriftlichen Äußerungen des Beschwerdeführers in seinem Klageentwurf, mit denen er gegen die mit den zugrunde liegenden Verfahren betrauten Richterinnen und Richtern in äußerst beleidigender Weise schwerwiegende Vorwürfe erhoben habe, seien nur vor dem Hintergrund erklärbar, dass dem Beschwerdeführer jeglicher Realitätsbezug fehle. Es lägen Anhaltspunkte vor, dass er unter einer wahnhaften Entwicklung im Sinne eines sogenannten Querulantenwahns leide. Es sei mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer zumindest partiell geschäftsunfähig und damit auch prozessunfähig sei. Die Rechtsbeschwerde wurde vom [X.] nicht zugelassen.

4

Daraufhin erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge und lehnte [X.] wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Mit beidem blieb der Beschwerdeführer erfolglos.

5

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Das [X.] habe ihn insbesondere weder persönlich angehört noch ein Sachverständigengutachten über die Frage der Prozessfähigkeit eingeholt.

6

Die Verfassungsbeschwerde wurde der Justizbehörde der [X.] zugestellt, die keine Stellungnahme abgegeben hat. Die Akten des Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

7

Nicht zur Entscheidung anzunehmen ist die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen die das Ablehnungsgesuch und die Anhörungsrüge zurückweisenden Beschlüsse richtet. Sie ist insoweit nicht hinreichend substantiiert begründet (§ 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 [X.]).

8

Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, soweit sie sich gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss des [X.] wendet, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Eine insoweit stattgebende Entscheidung kann die Kammer treffen, da die maßgeblichen Fragen vom [X.] bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde in diesem Umfang zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]). In der Rechtsprechung des [X.]s sind Inhalt und Tragweite des aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG erwachsenden Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit geklärt (vgl. [X.] 81, 347 <357 f.>).

9

Die gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde stehen etwaige Zweifel an der Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers nicht entgegen. Wegen der besonderen Eigenart der verfassungsgerichtlichen Verfahren können im Verfahren vor dem [X.] die Bestimmungen anderer Verfahrensordnungen, die hinsichtlich der Prozessfähigkeit an die Geschäftsfähigkeit anknüpfen, nicht ohne weiteres angewendet werden (vgl. [X.] 1, 87 <89>; 19, 93 <100 f.>). Die [X.] ist insbesondere zuzuerkennen, wenn sich nur so ein effektiver Grundrechtsschutz verwirklichen lässt. Das ist hier der Fall.

2. Unabhängig davon, dass das [X.] die Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers nicht im Rahmen der Zulässigkeit des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, sondern allein als Frage der Begründetheit behandelt hat, was Bedenken aufwirft (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Juni 1997 - 1 W 24/97 -, juris, Rn. 2; [X.], Beschlüsse vom 22. Februar 2012 - [X.]/11, 13 W 44/11 -, juris, Rn. 2, und vom 10. Juni 2014 - I-11 [X.] 27/12, 11 [X.] 27/12 -, juris, Rn. 10; [X.], in: [X.], ZPO, 31. Aufl. 2016, § 117 Rn. 5), verletzt der Beschluss des [X.] den Beschwerdeführer in seinem in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.]s gebietet Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG keine vollständige Gleichstellung Unbemittelter mit Bemittelten, sondern nur eine weitgehende Angleichung. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist es danach, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten darf jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. [X.] 81, 347 <357>). Eine Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren ist zwar in eng begrenztem Rahmen zulässig. Kommt jedoch eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil Beschwerdeführender ausgehen würde, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussichten ihres [X.] Prozesskostenhilfe zu verweigern (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 28. August 2014 - 1 BvR 3001/11 -, juris, Rn. 12).

Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen. Auslegung und Anwendung der §§ 114 ff. ZPO obliegen dabei in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Verfassungsrecht wird jedoch dann verletzt, wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der grundrechtlich verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen (vgl. [X.] 81, 347 <357 f.>).

b) Danach hat das [X.] die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwiderlaufend überspannt. Es hat bei der summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten allein darauf abgestellt, dass der Beschwerdeführer nach Aktenlage mit großer Wahrscheinlichkeit prozessunfähig ist und die beabsichtigte Klage daher keinen Erfolg haben kann. Dabei hat das [X.] verkannt, dass es, um die Prozessfähigkeit von Verfahrensbeteiligten beurteilen zu können, erforderlich ist, sämtliche Beweismittel auszuschöpfen, (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Mai 2009 - 6 [X.] 17/09 -, juris, Rn. 4, m.w.N.; [X.], Urteil vom 8. Dezember 2009 - [X.]/08 -, juris, Rn. 8, m.w.N.), insbesondere ein Sachverständigengutachten einzuholen und vor einer Beweisaufnahme zur Prozessfähigkeit eine persönliche Anhörung durchzuführen ist (vgl. [X.]K 6, 380 <383>).Unbeachtet geblieben ist zudem die Pflicht, dass Gerichte bei angenommener Prozessunfähigkeit auf die Bestellung einer Betreuungsperson hinzuwirken haben ([X.], Beschluss vom 28. Mai 2009 - 6 [X.] 17/09 -, juris, Rn. 6, m.w.N.; [X.], Beschluss vom 22. Februar 2012 - [X.]/11, 13 W 44/11 -, juris, Rn. 3). Dass eine Beweisaufnahme über die Frage der Prozessfähigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit das Ergebnis erbrächte, der Beschwerdeführer sei prozessunfähig, ist nicht offensichtlich. Ebenso wenig kann ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Prozessunfähigkeit für eine ordnungsgemäße Vertretung gesorgt hätte, indem er sich um die Bestellung einer Betreuungsperson bemüht hätte.

Der die Bewilligung von Prozesskostenhilfe versagende Beschluss ist gemäß § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2509/15

16.06.2016

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg, 7. Oktober 2015, Az: 3 Oa 2/15, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 11a Abs 1 ArbGG, § 51 Abs 1 ZPO, § 56 Abs 1 ZPO, § 114 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16.06.2016, Az. 1 BvR 2509/15 (REWIS RS 2016, 9834)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9834

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