Bundessozialgericht, Beschluss vom 15.06.2016, Az. B 4 AS 651/15 B

4. Senat | REWIS RS 2016, 9897

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil statt Sachurteil - Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses - Berufungsrücknahme - Auslegung einer Prozesserklärung - wirklicher Wille - verfassungsrechtliche Grenzen


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 11. Juni 2015 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit ist noch ein Anspruch des [X.] für die [X.] vom 1.2.2011 bis 31.7.2011 auf Leistungen für einen Mehrbedarf nach dem [X.] wegen Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit seinem [X.]. Die ursprünglich auch auf höhere Regelleistungen gerichtete Klage blieb vor dem [X.] erfolglos (Gerichtsbescheid vom 8.10.2012). Im Berufungsverfahren hat der dort unvertretene Kläger sein zunächst in vollem Umfang aufrechterhaltenes Begehren beschränkt auf die Zahlung von [X.], beziffert auf monatlich 49 Euro.

2

In einem parallel geführten Berufungsverfahren vor dem L[X.]-Brandenburg wegen Leistungen für den vorhergehenden Bewilligungszeitraum vom [X.] bis zum 31.1.2011 hatte der Kläger ua beantragt, als Mehrbedarf für Fahrtkosten 17,44 Euro monatlich zu gewähren. In diesem Verfahren war erstinstanzlich vom [X.] ein solcher Betrag für Fahrtkosten errechnet, aber nicht zuerkannt worden, weil das [X.] die Höhe dieses Mehrbedarfs als nicht erheblich angesehen hatte (Urteil vom [X.] zum [X.] [X.] A[X.]4324/10). Im vorliegenden Berufungsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom [X.] seine Berufungsbegründung aus dem Parallelverfahren (vom [X.]) sowie das Urteil des [X.] übersandt und Folgendes ausgeführt: "… bittet der Kläger um Kenntnisnahme des beiliegenden Schriftsatzes des [X.] in ähnlicher Sache und macht ihn zum Gegenstand des Verfahrens. Er bittet in gleicher Weise mit dem ebenfalls in Kopie beiliegenden Urteil des [X.] vom 06.03.2013 ([X.].: [X.] A[X.]4324/10) zu verfahren." Zudem hat der Kläger in einem am 12.12.2014 eingegangenen Schriftsatz wegen der (erneuten) Ablehnung von PKH durch das L[X.] darauf hingewiesen, dass in dem parallelen Berufungsverfahren das L[X.] "bei nunmehr identischem Klageumfang" PKH bewilligt habe.

3

Der Beklagte hat für den streitbefangenen [X.]raum während des Berufungsverfahrens Leistungen wegen Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts von monatlich 17,44 Euro anerkannt und bewilligt (Änderungsbescheid vom [X.]). Das L[X.] hat daraufhin die Berufung des [X.] als unzulässig verworfen (Urteil vom 11.6.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Kläger habe mit Schriftsatz vom [X.] unter Hinweis auf seine Berufungsschrift im Parallelverfahren und auf das Urteil des [X.] vom [X.] seine Berufung im hiesigen Verfahren insoweit zurückgenommen, als diese monatliche Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts in Höhe von mehr als monatlich 17,44 Euro zum Gegenstand hatte. Nach der Bewilligung monatlicher Fahrtkosten in Höhe von 17,44 Euro durch den Änderungsbescheid des Beklagten sei das Rechtsschutzbedürfnis für die Berufung entfallen. Selbst bei unterstellter Zulässigkeit der Berufung hätte kein Anspruch des [X.] in der von ihm geltend gemachten Höhe im Hinblick auf den bereits bewilligten Betrag von 17,44 Euro und den im Regelsatz enthaltenen Betrag von 22,78 Euro bestanden.

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das L[X.] wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er macht geltend, das L[X.] hätte durch Sachurteil statt durch Prozessurteil entscheiden müssen, denn es sei [X.] von einer teilweisen Berufungsrücknahme hinsichtlich der Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts ausgegangen.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das L[X.] Erfolg (§ 160a Abs 5 [X.]G). Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das L[X.]-Urteil beruht auf einem von dem Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 [X.] [X.]G bezeichneten Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G). Zutreffend rügt dieser, dass das L[X.] zu Unrecht durch Prozessurteil und nicht in der Sache entschieden hat. Darin liegt ein Verfahrensmangel, denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung ([X.], vgl nur Senatsbeschluss vom 5.6.2014 - [X.] A[X.]49/13 B - Rd[X.] 9; B[X.] Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - Rd[X.] 5, jeweils mwN).

6

Das L[X.] hätte die Berufung des [X.] nicht mit der Begründung, es fehle ein Rechtsschutzbedürfnis, als unzulässig verwerfen dürfen. Entgegen der Auffassung des L[X.] hat der Kläger seine Berufung nämlich nicht zurückgenommen, soweit diese auf höhere Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts als 17,44 Euro monatlich gerichtet war.

7

Bei [X.] wie einer Berufungsrücknahme hat das Revisionsgericht die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Dabei ist nach dem in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (vgl zum Ganzen nur B[X.] Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 8/80 - juris Rd[X.] 8; B[X.] Urteil vom [X.] - B 11 AL 23/02 R - juris Rd[X.] 21; B[X.] Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.] 2; B[X.] Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - Rd[X.] 6). Bei der Auslegung sind zudem das aus Art 3 Abs 1 GG abzuleitende Willkürverbot, das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs 4 GG und das Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem [X.], das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten [X.] und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl [X.] 77, 275, 284 mwN). Eine angemessene Auslegung dient also zugleich der Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl dazu [X.] 107, 395, 401 ff = [X.] 4-1100 Art 103 [X.] 1, Rd[X.] 5 ff; [X.] 110, 77, 85).

8

Danach durfte das L[X.] aus dem klägerischen Schreiben vom [X.] nicht auf eine teilweise Berufungsrücknahme des [X.] schließen. Eine ausdrückliche Berufungsrücknahme bezogen auf die [X.] wegen der Ausübung des Umgangsrechts findet sich - anders als etwa bei der wörtlich erklärten Rücknahme der "[X.]" bezogen auf die ursprünglich beantragten höheren Regelleistungen - in diesem Schreiben nicht und auch in keinem anderen der vom Kläger persönlich verfassten Schriftsätze. Denn weder der Formulierung im Schreiben vom [X.], der Kläger bitte um Kenntnisnahme des beiliegenden Schriftsatzes in ähnlicher Sache und mache ihn zum Gegenstand des Verfahrens, noch seiner Anregung, "in gleicher Weise mit dem ebenfalls in Kopie beiliegenden Urteil des [X.] vom [X.] … zu verfahren", lassen sich klare oder eindeutige [X.] entnehmen. Gleiches gilt für den Hinweis in dem am 12.12.2014 eingegangenen Schreiben auf einen identischen Klageumfang.

9

Vielmehr sind die Schreiben anhand der oben genannten Grundsätze auszulegen. Wirklich gewollt hat der Kläger danach keinesfalls eine (teilweise) Berufungsrücknahme. So hat er in der Folgezeit mehrfach ausdrücklich der vom L[X.] erstmals in dem ablehnenden [X.] vom 20.1.2015 geäußerten Auffassung, er haben seine Berufung teilweise zurückgenommen, widersprochen. Eine Rücknahme entsprach auch nicht seinem erkennbaren Interesse. Soweit das L[X.] den Hinweis des [X.] auf das Urteil des [X.] im Parallelverfahren als Beleg für eine gewollte Berufungsrücknahme ansieht, ist dies schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil durch dieses Urteil die Klage in vollem Umfang abgewiesen wurde und der Kläger dagegen ausdrücklich Berufung eingelegt hatte. Auch dass der Kläger seine Berufungsbegründung vom [X.] in dem Parallelverfahren zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens machen wollte, rechtfertigt nicht den Schluss des L[X.] auf eine gewollte Berufungsbeschränkung. Dem steht schon entgegen, dass der Kläger in dieser Begründung ausgeführt hat, die tatsächlichen Fahrt- und weiteren Umgangskosten seien wesentlich höher als 17,44 Euro pro Monat ([X.] drittletzter Absatz).

Vor diesem Hintergrund hätte es sich dem L[X.] aufdrängen müssen, bei dem anwaltlich nicht vertreten Kläger nachzufragen, was er tatsächlich noch begehrt. Stattdessen hält es den Kläger buchstäblich an einem möglicherweise ungeschickten Antrag in einem anderen Verfahren fest, ohne weitere Äußerungen zu berücksichtigen. Dadurch hat das L[X.] den Zugang des [X.] zur Rechtsmittelinstanz in einer Weise vereitelt, die dem verfassungsrechtlichen Auftrag der Gerichte widerspricht, möglichst lückenlosen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt sicherzustellen.

Die Entscheidung des L[X.] beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre es nicht von einer wirksamen Berufungsrücknahme ausgegangen, so hätte es den Rechtsstreit in der Sache entscheiden müssen.

Insoweit gilt, dass eine für den Kläger günstigere Entscheidung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des B[X.] (vgl nur B[X.] vom [X.] - B 14 A[X.]0/13 R - B[X.]E 116, 86 ff = [X.] 4-4200 § 21 [X.] 18; daran anschließend B[X.] vom 18.11.2014 - [X.] A[X.]/14 R - B[X.]E 117, 240 ff = [X.] 4-4200 § 21 [X.] 19; B[X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - vorgesehen in B[X.]E und [X.] 4-4200 § 21 [X.] 21) nicht ausgeschlossen erscheint. Danach ist entgegen der nicht tragenden Hilfserwägungen im Urteil des L[X.] der im Regelsatz enthaltene Anteil für Fahrtkosten nicht als quasi teilweise Erfüllung des Anspruchs auf [X.] anzusehen (vgl B[X.] vom [X.] - B 14 A[X.]0/13 R - B[X.]E 116, 86 ff = [X.] 4-4200 § 21 [X.] 18, Rd[X.] 28). Auch wird sich das L[X.] im wiedereröffneten Berufungsverfahren mit der Länge der Fahrtstrecke und der Häufigkeit der Wahrnehmung des Umgangsrechts nach dem Vortrag des [X.] auseinanderzusetzen haben.

Gemäß § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem L[X.] vorbehalten.

Meta

B 4 AS 651/15 B

15.06.2016

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Berlin, 8. Oktober 2012, Az: S 24 AS 14342/11, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 133 BGB, Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 20 Abs 3 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 15.06.2016, Az. B 4 AS 651/15 B (REWIS RS 2016, 9897)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9897

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