Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.11.2017, Az. 10 B 2/17

10. Senat | REWIS RS 2017, 2236

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Volle gerichtliche Überprüfbarkeit der kommunalen Pflicht zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen (Soll-Regelung)


Gründe

1

Die klagende [X.] wendet sich gegen einen [X.]escheid des Landratsamtes als Kommunalaufsichtsbehörde, mit dem diese u.a. die Aufhebung ihrer Straßenausbaubeitragssatzung beanstandete. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab.

2

Die [X.]erufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Aufhebung der Ausbaubeitragssatzung der Klägerin als rechtswidrig angesehen, weil [X.] [X.]n nach [X.]. 5 Abs. 1 Satz 3 des [X.]n Kommunalabgabengesetzes ([X.]) i.d.F. der [X.]ekanntmachung vom 4. April 1993 ([X.]), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. März 2016 ([X.]) [X.]eiträge für die Verbesserung oder Erneuerung von Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wegen erheben sollen, soweit nicht Erschließungsbeiträge zu erheben sind. [X.]ei der klagenden [X.] lägen keine Umstände vor, die im Rahmen dieser "Soll"-Regelung die Annahme eines atypischen Falls rechtfertigten. Ob ein atypischer Fall gegeben sei, der gemeindliches Ermessen hinsichtlich der [X.]eitragserhebung eröffne, unterliege in vollem Umfang der Nachprüfung durch die [X.] und die Gerichte. Den [X.]n sei insoweit kein [X.]eurteilungsspielraum eingeräumt. Ein atypischer Fall komme nur in [X.]etracht, wenn bei Einhaltung der in [X.]. 62 der [X.]ordnung für den [X.] ([X.]) i.d.F. der [X.]ekanntmachung vom 22. August 1998 ([X.] 796) festgelegten Rangfolge der Deckungsmittel die stetige Aufgabenerfüllung und die dauernde Leistungsfähigkeit der [X.] sichergestellt seien ([X.]. 61 Abs. 1 [X.]). Das sei bei der Klägerin, deren Haushalt nicht unerheblich kreditfinanziert sei und deren Einnahmen zu einem wesentlichen Teil aus gegenüber [X.]eiträgen nachrangigen gemeindlichen Steuern erzielt würden, nicht der Fall. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

3

Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und des [X.] (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte [X.]eschwerde der Klägerin hiergegen hat keinen Erfolg.

4

1. Die von der Klägerin als grundsatzbedeutsam formulierte Frage,

ob die verfassungsrechtlich gewährleistete kommunale Finanzhoheit einen von der Rechtsaufsichtsbehörde und den Gerichten nur eingeschränkt kontrollierbaren [X.]eurteilungsspielraum der [X.]n bei deren Entscheidung über den Erlass bzw. die Aufhebung einer Straßenausbaubeitragssatzung fordert, wenn sie nach dem Landesrecht nur in bei wertender [X.]etrachtung des Einzelfalls atypischen Ausnahmefällen auf den Erlass einer solchen Satzung verzichten dürfen,

rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie lässt sich, soweit sie revisibles Recht betrifft und daher im Rahmen eines Revisionsverfahrens klärungsfähig wäre, auf der Grundlage der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung beantworten.

5

Das [X.] hätte in einem Revisionsverfahren von der berufungsgerichtlichen Auslegung des [X.]. 5 Abs. 1 Satz 3 [X.] auszugehen, wonach diese Regelung den [X.]n bei ihrer Entscheidung über die Erhebung von [X.] keinen [X.]eurteilungsspielraum einräumt und die Annahme eines atypischen Falls, der ein Abweichen von der "Soll"-Regelung rechtfertigt, von der Aufsichtsbehörde und von den Verwaltungsgerichten vollständig überprüft wird. Diese Auslegung entspricht im Übrigen ständiger Rechtsprechung des [X.]s zu "Soll"-Regelungen im [X.]ereich des revisiblen Rechts (vgl. nur [X.], Urteile vom 10. September 1992 - 5 C 80.88 - [X.] 436.61 § 18 [X.] Nr. 6 S. 22 und vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - [X.]E 153, 353 <359>). Sie verstößt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht gegen [X.]undesrecht.

6

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die kommunale Finanzhoheit als Ausprägung der verfassungsrechtlich garantierten gemeindlichen Selbstverwaltung nach [X.]. 28 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG nur im Rahmen der Gesetze gewährleistet ist. Der Gesetzgeber ist befugt, sie inhaltlich auszuformen und zu begrenzen. Er hat dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf nicht in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung eingreifen (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 27. Januar 2010 - 2 [X.]vR 2185/04, 2 [X.]vR 2189/04 - juris Rn. 91 ff.; [X.], Urteil vom 27. Oktober 2010 - 8 C 43.09 - [X.]E 138, 89 <94 ff.> m.w.N.). Der Gesetzgeber kann den Gesetzesvorbehalt des [X.]. 28 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise dadurch ausfüllen, dass er eine [X.]eitragserhebungspflicht der [X.]n anordnet, ohne ihnen dabei einen Ermessensspielraum zu belassen (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 3. Dezember 1996 - 8 [X.] 205.96 - juris Rn. 4). Ebenso wenig ist er zur Einräumung eines [X.]eurteilungsspielraums der [X.]n verpflichtet, wenn er anstelle einer ausnahmslos zwingenden Regelung Raum für eine Abweichung von der [X.]eitragserhebungspflicht in atypischen Fällen lässt.

7

Die [X.]n unterliegen in Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der staatlichen Rechtsaufsicht als von Verfassungs wegen vorgesehenem Korrelat der kommunalen Selbstverwaltung. Diese Aufsicht ist auf eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit des gemeindlichen Handelns beschränkt (vgl. [X.], Urteil vom 27. Oktober 2010 - 8 C 43.09 - [X.]E 138, 89 <97>). Des Weiteren ist in der Rechtsprechung des [X.]undesverfassungsgerichts geklärt, dass [X.]. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich eine vollständige gerichtliche Nachprüfung hoheitlicher Maßnahmen gebietet, soweit nicht der Gesetzgeber der Verwaltung erkennbar Gestaltungs-, Ermessens- oder [X.]eurteilungsspielräume belässt. Für eine solche Einschränkung der gerichtlichen Überprüfungsbefugnis bedarf es eines gegenüber dem Grundsatz wirksamen Rechtsschutzes hinreichend gewichtigen Sachgrundes ([X.], [X.]eschlüsse vom 31. Mai 2011 - 1 [X.]vR 857/07 - [X.]E 129, 1 <22 f.> und vom 22. November 2016 - 1 [X.]vL 6/14 u.a. - juris Rn. 21).

8

Aus den Darlegungen der Klägerin ist keine über diese bereits höchstrichterlich geklärten Rechtsfragen hinausgehende grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache erkennbar. Soweit sie meint, bei der wertenden [X.]etrachtung des Einzelfalls im Hinblick auf das Vorliegen eines atypischen Falls sei die Entscheidung der [X.] einzubeziehen, keine Straßenausbaubeiträge erheben zu wollen, verkehrt sie das Verhältnis zwischen der Rechtsfolge einer gegebenenfalls bestehenden Atypik und ihren - hier vom [X.]erufungsgericht verneinten - tatbestandlichen Voraussetzungen. Die [X.]eschwerdebegründung verdeutlicht auch nicht, welcher hinreichend gewichtige Sachgrund zur Annahme eines [X.]eurteilungsspielraums der [X.] im Rahmen des [X.]. 5 Abs. 1 Satz 3 [X.] veranlassen müsste und inwieweit ein solcher Spielraum, wie verfassungsrechtlich gefordert, der gesetzlichen Regelung selbst hinreichend deutlich zu entnehmen ist. Gegen eine nur eingeschränkt rechtsaufsichtlich und gerichtlich kontrollierbare Entscheidungsbefugnis der einzelnen [X.] über das Vorliegen eines atypischen Falls spricht außerdem, dass eine [X.] in Wahrnehmung ihrer Finanzautonomie allenfalls die eigene Situation, nicht jedoch die für die vom Gesetz vorgesehene Regelhaftigkeit der [X.]eitragserhebung maßgebliche Situation anderer, "typischer" [X.]n im Geltungsbereich der gesetzlichen Norm einschätzen kann.

9

Soweit die Klägerin das Erfordernis eines gemeindlichen [X.]eurteilungsspielraums daraus ableitet, dass die vom [X.]erufungsgericht gegen eine Atypik der Haushaltssituation der Klägerin angeführte Rangfolge der gemeindlichen Deckungsmittel nach [X.]. 62 [X.] dort unter den Vorbehalt des Vertretbaren und Gebotenen gestellt sei, betrifft dies allein die Auslegung nicht revisiblen Landesrechts. Dies gilt auch, soweit die Klägerin die vom [X.]erufungsgericht zur Ausfüllung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des [X.]. 5 Abs. 1 Satz 3 [X.] angewandten landesrechtlichen Maßstäbe des [X.]. 62 [X.] durch das Kriterium einer andauernden gemeindlichen Haushaltsnotlage ersetzt sehen will. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der gemeindlichen Finanzhoheit [X.] im Übrigen selbst bei einer Veränderung des irrevisiblen landesrechtlichen Maßstabes für die Annahme eines atypischen Falls nicht, der [X.] insoweit einen [X.]eurteilungsspielraum zuzuerkennen. Zudem leitet die Klägerin das von ihr für einen atypischen Fall präferierte Kriterium der andauernden Haushaltsnotlage aus einer Entscheidung des [X.]s über die Rechtmäßigkeit der kommunalaufsichtlichen [X.]eanstandung von [X.] für die Grund- und Gewerbesteuern ([X.], Urteil vom 27. Oktober 2010 - 8 C 43.09 - [X.]E 138, 89) ab, die einen wesentlich anderen einfachgesetzlichen Rahmen betraf.

2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen des von der Klägerin behaupteten [X.] einer Verletzung ihres rechtlichen Gehörs ([X.]. 103 Abs. 1 GG, § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

Die Klägerin sieht in dem Urteil des [X.]erufungsgerichts ihren Vortrag unberücksichtigt, die angefochtene kommunalaufsichtliche [X.]eanstandung könne nicht auf einen formalen Fehler der Satzung zur Aufhebung der Straßenausbaubeitragssatzung gestützt werden, weil darin eine im gerichtlichen Verfahren unzulässige Auswechslung der [X.]egründung des [X.]escheides des [X.]eklagten liege. Entgegen der Auffassung der Klägerin in der [X.]eschwerdebegründung hat der Verwaltungsgerichtshof sein [X.]erufungsurteil allerdings nicht darauf gestützt, dass die [X.] an einem formalen Fehler leide. Es hat diese Satzung vielmehr bereits wegen des Verstoßes gegen [X.]. 5 Abs. 1 Satz 3 [X.] als nichtig angesehen ([X.] f.) und lediglich im Übrigen darauf hingewiesen, dass sie nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sei. Das angegriffene Urteil kann daher nicht, wie es der [X.] des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO voraussetzt, auf dem von der Klägerin behaupteten Verfahrensmangel beruhen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Meta

10 B 2/17

16.11.2017

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 9. November 2016, Az: 6 B 15.2732, Urteil

Art 5 Abs 1 S 3 KAG BY 1993, Art 61 Abs 1 GemO BY 1998, Art 62 GemO BY 1998, Art 28 Abs 2 S 1 GG, Art 28 Abs 2 S 3 GG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.11.2017, Az. 10 B 2/17 (REWIS RS 2017, 2236)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 2236

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

6 ZB 17.2087 (VGH München)

Pflicht zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen


M 2 K 15.5159 (VG München)

Rechtsaufsichtliche Beanstandung der Aufhebung einer Beitragssatzung


6 B 15.2732 (VGH München)

Pflicht zum Erlass oder Aufrechterhaltung einer Straßenausbaubeitragssatzung nach rechtsaufsichtlicher Beanstandung


10 C 1/18 (Bundesverwaltungsgericht)

Kommunalaufsichtliches Einschreiten zum Erlass einer Straßenbeitragssatzung verfassungsgemäß


8 C 43/09 (Bundesverwaltungsgericht)

Grenzen des Hebesatzrechts der Gemeinde bei anhaltender Haushaltsnotlage


Referenzen
Wird zitiert von

3 ZD 10/17

Zitiert

1 BvR 857/07

2 BvR 2185/04

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.