Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.02.2010, Az. 2 B 62/09

2. Senat | REWIS RS 2010, 9346

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Gegenstand

Verfahrensrügen: Dauer des Disziplinarverfahrens; Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (juris: MRK); Verletzung des Rechts auf Beweisteilhabe im behördlichen Disziplinarverfahren


Gründe

1

[X.]ie auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie auf einen Verfahrensmangel gestützte Beschwerde (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO und § 66 Abs. 1 Thür[X.]G) ist unbegründet.

2

[X.]as Berufungsgericht hat die Berufung des [X.]n gegen das Urteil des [X.], durch das dem [X.]n das Ruhegehalt aberkannt worden ist, zurückgewiesen. [X.]as Berufungsgericht hat festgestellt, dass der [X.] im Wintersemester 2002/2003 sowie im Mai 2002 im Zusammenhang mit seiner dienstlichen Tätigkeit als Professor an einer Kunsthochschule zwei Studentinnen seiner [X.] sowie eine Verwaltungsangestellte sexuell belästigt hat. [X.]ieses Fehlverhalten stellte ein schwerwiegendes [X.]ienstvergehen dar, das bei einem aktiven Beamten zwingend die [X.] zur Folge gehabt hätte.

3

1. [X.]ie Beschwerde sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die [X.]auer des [X.]isziplinarverfahrens in der "Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 [X.]" sowie in der "Notwendigkeit zur Vorlage der Sache an den [X.]".

4

Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und § 66 Abs. 1 Thür[X.]G, wenn sie eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche, noch ungeklärte Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO und § 66 Abs. 1 Thür[X.]G obliegt es dem Beschwerdeführer, diese Voraussetzungen darzulegen (Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> = [X.] 310 § 132 VwGO Nr. 18 S. 21 f.). [X.]iese Voraussetzungen sind hinsichtlich der vom [X.]n aufgeworfenen Rechtsfragen nicht erfüllt.

5

[X.]ie Rechtssache hat die ihr von der Beschwerde zugeschriebene grundsätzliche Bedeutung deshalb nicht, weil in der Rechtsprechung geklärt ist, dass die [X.]auer des [X.]isziplinarverfahrens nicht entlastend zu berücksichtigen ist, wenn der Beamte, wie hier, durch sein Fehlverhalten das Vertrauensverhältnis zum [X.]ienstherrn endgültig zerstört hat ([X.], [X.] vom 9. August 2006 - 2 BvR 1003/05 - [X.]VBl 2006, 1372 <1373>; Urteil vom 7. Februar 2008 - BVerwG 1 [X.] 4.07 - [X.] 235 § 77 B[X.]O Nr. 13; Beschlüsse vom 13. Oktober 2005 - BVerwG 2 B 19.05 - [X.] 235.1 § 15 B[X.]G Nr. 2; vom 26. August 2009 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 11). Zwar kann eine pflichtenmahnende [X.]isziplinarmaßnahme unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden, wenn das [X.]isziplinarverfahren unverhältnismäßig lange dauert. Bei Fortbestand des Beamtenverhältnisses kann das durch ein [X.]ienstvergehen ausgelöste Sanktionsbedürfnis gemindert werden oder sogar entfallen, weil die mit dem [X.]isziplinarverfahren verbundenen wirtschaftlichen und dienstlichen Nachteile positiv auf den Beamten eingewirkt haben.

6

[X.]emgegenüber geht es bei der [X.] darum, das Beamtenverhältnis in Fällen besonders schwerwiegender [X.]ienstvergehen zu beenden, weil der Beamte im öffentlichen [X.]ienst untragbar geworden ist. An dem endgültigen Vertrauensverlust, den er durch sein Fehlverhalten herbeigeführt hat, vermag eine lange Verfahrensdauer nichts zu ändern. [X.]enn das verlorene Vertrauen kann nicht durch Zeitablauf wiederhergestellt werden. [X.]ies gilt gleichermaßen für die Aberkennung des Ruhegehalts. Ebenso wie bei dem inhaltlich übereinstimmenden § 13 Abs. 2 Satz 2 B[X.]G kommt nach § 11 Abs. 2 Satz 2 Thür[X.]G bei einem Ruhestandsbeamten die hier ausgesprochene Aberkennung des Ruhegehalts nur in Betracht, wenn er als noch im [X.]ienst befindlicher Beamter wegen des endgültigen Verlusts des Vertrauens des [X.]ienstherrn oder der Allgemeinheit aus dem [X.]ienst entfernt werden müsste.

7

Auch in Bezug auf Art. 6 [X.] hat die Rechtssache nicht die in der Beschwerde behauptete grundsätzliche Bedeutung. Nach der Rechtsprechung der [X.] betreffen disziplinarische Maßnahmen gegen Beamte (und [X.]) kein "ziviles Recht" und stellen auch bei einer Entlassung keine "Anklage" im Sinne von Art. 6 [X.] dar ([X.], Entscheidung vom 9. Februar 2006 - Nr. 43371/02 - [X.] 2007, 409 <410> zu einer Gehaltskürzung; [X.], Nr. 734/60, [X.], 29 <33>; E 8496/79, decisions and reports 21, 168; Nr. 17089/90, [X.] 1992, 162; [X.], [X.] 1979, 261 <267>; [X.]/[X.], [X.]-Kommentar, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 25; [X.], [X.], 2. Aufl., Art. 6 Rn. 15b; [X.], Art. 6 [X.] als Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, [X.] 1993, [X.] [X.]. 58). [X.]ie höchstrichterliche Rechtsprechung schließt die Anwendung des Art. 6 [X.] in beamtenrechtlichen [X.]isziplinarverfahren ebenfalls aus (Urteil vom 19. September 1989 - BVerwG 1 [X.] 69.88 - NVwZ 1990, 373). Ist Art. 6 [X.] nicht anwendbar, kommt auch eine Verletzung der akzessorischen Verfahrensgarantie des Art. 13 [X.] nicht in Betracht. Beim Hinweis auf die Pflicht zur Vorlage übersieht die Beschwerde im Übrigen, dass die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten kein dem Art. 234 [X.] vergleichbares Vorlageverfahren kennt.

8

2. [X.]ie Zulassung der Revision kommt auch nicht wegen des geltend gemachten [X.] in Betracht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und § 66 Abs. 1 Thür[X.]G).

9

[X.]ie Beschwerde rügt die unangemessene Verfahrensdauer in Verbindung mit der deshalb fehlenden Unmittelbarkeit und Verwertbarkeit der Beweiserhebung. Auf dem Verfahrensmangel der unangemessenen Verfahrensdauer könne die Berufungsentscheidung auch beruhen. Sie stütze sich allein auf die Aussagen der Zeuginnen in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 14. Mai 2007. Bei deren Vernehmung im behördlichen Verfahren seien die Rechte des [X.]n auf Beweisteilhabe verletzt worden, weil weder er selbst noch sein Bevollmächtigter anwesend gewesen seien. [X.]ieser Verfahrensfehler habe im gerichtlichen Verfahren nicht geheilt werden können. [X.]er zeitliche Abstand zwischen den zu bezeugenden Ereignissen und der gerichtlichen Vernehmung der Zeuginnen von ca. 4 1/2 Jahren habe bei diesen zu Erinnerungslücken und Erinnerungsschwierigkeiten geführt. Zwangsläufig habe sich die Verfahrensverzögerung auf das Erinnerungsvermögen der Zeuginnen und den Inhalt ihrer Aussagen ausgewirkt. [X.]eshalb könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine ordnungsgemäße Zeugenvernehmung zu einem früheren Zeitpunkt ein anderes Ergebnis und damit eine andere gerichtliche Entscheidung zur Folge gehabt hätte.

[X.]iese Rüge greift nicht durch. [X.]er Revisionszulassungsgrund des [X.] gemäß § 133 Abs. 2 Nr. 3 VwGO erfasst nur Mängel des gerichtlichen Verfahrens, d.h. Verstöße des Gerichts gegen verwaltungsprozessrechtliche Vorschriften und Rechtsgrundsätze. Ein davon prinzipiell zu unterscheidender Mangel des behördlichen [X.]isziplinarverfahrens zieht einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nach sich, wenn das Verwaltungsgericht die sich aus § 51 Thür[X.]G (entspricht § 55 B[X.]G) ergebende Verpflichtung verletzt hat, auf die Beseitigung eines solchen Mangels durch den [X.]ienstherrn hinzuwirken (Beschluss vom 26. Februar 2008 - BVerwG 2 B 122.07 - [X.] 235.1 § 55 B[X.]G Nr. 2 Rn. 3).

Verstöße gegen das Recht auf Beweisteilhabe im behördlichen Verfahren können jedoch durch die Verwaltungsgerichte selbst geheilt werden. Sie ziehen keine prozessualen Konsequenzen nach sich, wenn die Beweiserhebung vom Gericht im gerichtlichen [X.]isziplinarverfahren fehlerfrei durchgeführt worden ist. [X.]ies ergibt sich aus der Pflicht der Gerichte zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung, die unabhängig von der Tätigkeit der Behörden besteht. Gemäß § 58 Abs. 1 B[X.]G erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Es hat selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den Nachweis des [X.]ienstvergehens und die Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme von Bedeutung sind (Urteil vom 15. [X.]ezember 2005 - BVerwG 2 A 4.04 - [X.] 235.1 § 24 B[X.]G Nr. 1 Rn. 26; Beschlüsse vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B 108.04 - [X.] 235.1 § 58 B[X.]G Nr. 1 S. 2 und vom 4. September 20089 - BVerwG 2 B 61.07 - [X.] 235.1 § 58 B[X.]G Nr. 4 Rn. 7). [X.]as Gericht hat die erhobenen Beweise nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens folgenden Überzeugung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [X.]ies umfasst die Beurteilung des Erinnerungsvermögens von Zeugen und folglich der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. [X.]ies gilt unabhängig davon, ob die Zeugen bereits im behördlichen Verfahren vernommen worden sind (Urteil vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 30.05 - [X.] 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50 Rn. 16).

Soweit die Beschwerde die Verwertbarkeit der Aussagen der Zeuginnen in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht in Frage stellt, legt sie keinen Verfahrensmangel dar, sondern greift die für den [X.]n nachteilige Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an. [X.]enn der Sache nach beanstandet der [X.], dass das Berufungsgericht im [X.] an die Beweiswürdigung des [X.], das die Zeuginnen in der mündlichen Verhandlung vernommen hatte, seiner Urteilsfindung den für den [X.]n nachteiligen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, wonach dieser im Zusammenhang mit seiner dienstlichen Tätigkeit in den Jahren 2002 und 2003 drei Frauen sexuell belästigt hat. Ein Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung - wenn er denn vorläge - ist aber revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen (Beschlüsse vom 2. November 1995 - BVerwG 9 [X.] - [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 266; vom 24. Mai 1996 - BVerwG 8 [X.] - [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 270).

[X.]ie tatrichterliche Beweiswürdigung ist aufgrund des § 137 Abs. 2 VwGO revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob [X.] wie etwa Auslegungsregeln, [X.]enkgesetze und allgemein Erfahrungssätze verletzt sind (stRspr, vgl. nur Beschluss vom 26. Februar 2008 - BVerwG 2 B 122.07 - [X.] 2008, 257 <260>; insoweit nicht in [X.] abgedruckt).

[X.]ass das angefochtene Urteil derartige Mängel aufweist, legt die Beschwerde nicht dar. Ein Verstoß gegen die [X.]enkgesetze liegt nur vor, wenn eine Schlussfolgerung aus Gründen der Logik schlechthin nicht gezogen werden kann. [X.]ie Annahme eines Gerichts, der Aussage einer Zeugin vor Gericht sei auch 4 1/2 Jahren seit dem zu bekundenden Ereignis Glauben zu schenken, widerspricht nicht der Logik. Auch besteht gerade kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass Aussagen von Zeugen über sie besonders berührende Ereignisse unglaubhaft und deshalb einer gerichtlichen Entscheidungsfindung nicht zugrunde zu legen sind, wenn das betreffende Ereignis mehr als vier Jahre zurückliegt.

[X.]ie Kostenentscheidung folgt aus § 66 Abs. 2 und § 73 Satz 1 Thür[X.]G. [X.]er Festsetzung eines Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision nach § 66 Abs. 2 und § 77 Abs. 4 Thür[X.]G gebührenfrei ist.

Meta

2 B 62/09

16.02.2010

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Thüringer Oberverwaltungsgericht, 6. November 2008, Az: 8 DO 584/07, Urteil

Art 6 Abs 1 MRK, Art 13 MRK, § 132 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 66 Abs 1 DG TH, § 13 Abs 2 BDG, § 58 Abs 1 BDG, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 11 Abs 2 DG TH

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.02.2010, Az. 2 B 62/09 (REWIS RS 2010, 9346)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 9346


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 754/10

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 754/10, 19.10.2011.


Az. 2 B 62/09

Bundesverwaltungsgericht, 2 B 62/09, 16.02.2010.


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