Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.06.2018, Az. VII B 189/17

7. Senat | REWIS RS 2018, 6896

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Zur Sachaufklärungspflicht des FG bei Anfechtung der Steuerberaterprüfung wegen eines angeblich eingeschlafenen Prüfers


Leitsatz

1. NV: Macht der Bewerber geltend, ein Prüfer habe während der mündlichen Prüfung geschlafen, können keine Angaben verlangt werden, wie lange der Prüfer geschlafen habe und welche Vorgänge ihm deshalb entgangen seien .

2. NV: Die Rechtsprechung zur mangelhaften Besetzung des Gerichts bei einem schlafenden Richter ist nicht ohne Weiteres auf den Fall eines angeblich eingeschlafenen Prüfers übertragbar. In der Prüfungssituation kommt es unter Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit nicht auf die Dauer der Schlafanzeichen an. Zweifel und Unsicherheiten müssen ausgeschlossen sein .

3. NV: Die Verwertung einer schriftlichen Stellungnahme reicht nicht aus, wenn der Bewerber die Vernehmung der Prüfer als Zeugen beantragt .

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 12. Oktober 2017  1 K 54/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht ([[[X.].].]) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ([[[X.].].]O).

2

Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [[[X.].].]O liegen vor. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat mit ihrem Vorbringen, das [[[X.].].] sei seiner Sachaufklärungspflicht nicht nachgekommen, einen Verfahrensmangel geltend gemacht, der auch vorliegt und auf dem die Vorentscheidung beruhen kann.

3

Das [[[X.].].] hat gegen seine Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 [[[X.].].]O verstoßen, konkret gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 [[[X.].].]O. Es hätte die Mitprüflinge und die Prüfungskommission zu der Behauptung, die Prüfer [[X.].] und [[X.].] seien in der mündlichen Prüfung während der [[X.].] und [[X.].] eingeschlafen, als Zeugen vernehmen müssen, wie von der Klägerin schriftsätzlich mehrfach beantragt.

4

Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das [[[X.].].] grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will (vgl. Beschluss des [[X.].] --BFH-- vom 21. Dezember 2005 I B 249/04, [[X.].], 780). Allerdings ist das [[[X.].].] nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen (z.B. [[X.].] vom 2. August 2006 I[[X.].] B 58/06, [[X.].], 2117; vom 2. März 2006 [[X.].]I B 79/05, [[X.].], 1132; vom 22. Juni 2016 III B 134/15, [[X.].], 1571). In welchem Maß eine solche Substantiierung zu fordern ist, hängt vom Umfang der Mitwirkungspflicht des Beteiligten im Einzelfall ([[X.].] vom 12. März 2014 [[X.].]I B 97/13, [[X.].], 1062) bzw. davon ab, wessen [[X.].]issens- und Einflussbereich die Tatsachen zuzurechnen sind (BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 10/14, [[X.].], 145, [[X.].], 940).

5

Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das [[[X.].].] die Anforderungen an den Vortrag der Klägerin überspannt.

6

Die Klägerin hatte im Rahmen des Erörterungstermins am 20. Januar 2016 vorgetragen, die Prüfer [[X.].] und [[X.].] seien in den [X.] zur Z und zur [[X.].] eingeschlafen. Sie hätten die Augen geschlossen und ihre Köpfe seien nach vorn gefallen. Dieser Vortrag ist ausreichend. Die Klägerin musste nicht --wie vom [[[X.].].] verlangt-- darüber hinaus vortragen, wie lange die Prüfer dem [X.] nicht folgen konnten und welche Vorgänge ihnen entgangen seien (Rz 183 im [[[X.].].]-Urteil). Es ist in der besonderen Prüfungssituation nicht zu verlangen, dass ein Prüfling derartige Aufzeichnungen anfertigt. Das würde bedeuten, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt für eventuelle Rechtsmittel Vorsorge schafft.

7

Die Prüfungssituation ist nicht mit der allgemeinen Situation in einer mündlichen Verhandlung vor einem Gericht vergleichbar. Deshalb kann die vom [[[X.].].] zitierte Rechtsprechung (Rz 180 im [[[X.].].]-Urteil) zur mangelhaften Besetzung bei einem schlafenden [[[X.].].] nicht ohne [[X.].]eiteres auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Die BFH-Rechtsprechung fordert sichere Anzeichen für das Schlafen wie beispielsweise tiefes, hörbares und gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen oder eindeutige Anzeichen von fehlender Orientierung (vgl. [[X.].] vom 16. Juni 2009 [[X.].] B 202/08, [X.], 1659; vom 17. Februar 2011 IV B 108/09, [X.], 996; vom 27. April 2011 III B 62/10, [X.], 1379).

8

In der Prüfungssituation ist der Grundsatz der [X.] als prüfungsrechtliche Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes zu beachten (Senatsurteil vom 20. Juli 1999 VII R 111/98, [X.], 280, [X.] 1999, 803). Die [X.] ist verletzt, wenn die konkrete Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens zur Folge haben kann, dass das Leistungsvermögen des Prüflings beeinträchtigt und dieser damit gegenüber anderen Prüflingen in einer vergleichbaren Prüfungssituation benachteiligt ist (vgl. Senatsurteil vom 10. März 1992 VII R 87/90, [X.], 480, 482, [X.] 1992, 634, m.w.N.), wenn sich also nicht ausschließen lässt, dass die Prüfungsbedingungen wesentlich dazu beigetragen haben, dass der Prüfling kein besseres Prüfungsergebnis erzielt hat (vgl. Senatsurteil vom 27. Juli 1993 VII R 11/93, [X.], 254, [X.] 1994, 259, und in [X.], 280, [X.] 1999, 803). Unter Anwendung dieser Grundsätze kommt es auf die Dauer der Schlafanzeichen nicht an, weil der Prüfling bereits verunsichert sein kann, wenn wegen äußerer Anzeichen anzunehmen ist, dass ein Prüfer schläft, und weil einem Prüfer auch im Fall eines nur kurz währenden Schlafs für die Bewertung wichtige Vorgänge entgehen können. Unter dem Gesichtspunkt der [X.] muss gewährleistet sein, dass solche Zweifel und Unsicherheiten ausgeschlossen sind. Die Klägerin hat schließlich zutreffend auf die Bedeutung von Art. 12 des Grundgesetzes (GG) verwiesen. Die Klägerin hat aufgrund ihres durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Rechtes, den Beruf eines Steuerberaters zu ergreifen, ein subjektives öffentliches Recht ("Anspruch"), dass eine Prüfungsentscheidung, die ihr jenen Qualifikationsnachweis versagt, nicht auf der Grundlage eines Prüfungsverfahrens getroffen wird, in dem der Grundsatz der [X.] in einer [[X.].]eise verletzt worden ist, die sich auf das Ergebnis der Prüfung ausgewirkt haben kann (Senatsurteil in [X.], 280, [X.] 1999, 803).

9

Ist danach die Vernehmung der Zeugen erforderlich, reicht es nicht aus --wie vorliegend geschehen-- eine schriftliche Stellungnahme des Prüfungsausschusses einzuholen. Darin liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 [[[X.].].]O). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gilt zwar nicht ausnahmslos. Das mittelbare Beweismittel kann verwendet werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar erscheint oder wenn die Beteiligten der Berücksichtigung des mittelbaren Beweismittels nicht widersprechen (Senatsurteil vom 26. April 1988 VII R 124/85, [X.], 463, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1988, 297, m.w.N.). Im Urteil muss zum Ausdruck kommen, dass der unterschiedliche Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis gesehen und berücksichtigt wurde ([[X.].] vom 26. Juli 2010 VIII B 198/09, [X.], 2096; Senatsbeschluss vom 12. Januar 2016 VII B 111/15, [[X.].], 579). Bereits daran fehlt es. Im Übrigen hatte die Klägerin noch mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2017 den Antrag wiederholt, die Prüfungskommission zu laden. Sie war mithin nicht mit der Verwendung des mittelbaren Beweises einverstanden.

Die Klägerin hat ihr [X.] nicht nach § 155 [[[X.].].]O i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) verloren, weil ihr [X.] die Sitzung nach Ablehnung des [X.] verlassen hat. Zwar ist die Verletzung der aus § 76 Abs. 1 Satz 1 [[[X.].].]O folgenden Sachaufklärungspflicht ein verzichtbarer Verfahrensmangel (§ 155 [[[X.].].]O i.V.m. § 295 ZPO), bei dem das [X.] nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem [[[X.].].] verloren geht, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt aber trotz unterlassener Rüge vor, wenn das [[[X.].].] --wie hier-- eine konkrete Möglichkeit, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen (vgl. u.a. [[X.].] vom 17. März 2010 [[X.].] B 95/09, [X.], 1827; vom 3. April 2007 I B 151, 152/06, [X.], 1671). Die Klägerin hatte in ihrer Beschwerde darauf hingewiesen, dass das [[[X.].].] im Rahmen seiner Amtsermittlung die Zeugen hätte laden müssen. Hinzu kommt, dass das [[[X.].].] begründet hat, weshalb es von der Beweiserhebung abgesehen hat. Denn es hat ausgeführt, der Vortrag der Klägerin sei nicht hinreichend substantiiert (Rz 183 im [[[X.].].]-Urteil). In einem derartigen Fall bedarf es keiner Rüge in der mündlichen Verhandlung, weil aus dem Urteil selbst hervorgeht, dass dem [[[X.].].] die Existenz des übergangenen Beweismittels bewusst war ([[X.].] vom 29. Juni 2011 [[X.].] B 242/10, [X.], 1715; vom 26. November 2008 I[[X.].] B 122/08, [X.], 600; vom 28. Februar 2018 V B 145/16, [X.], 636).

Schließlich kann der Senat dahinstehen lassen, ob eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung vorliegt, weil das [[[X.].].] darauf abgestellt hat (Rz 184 im [[[X.].].]-Urteil), dass die Klägerin erst im Überdenkungsverfahren (§ 29 der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften über Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften --[X.]--) gerügt hatte, die beiden Prüfer seien eingeschlafen. Dem Senat erschließt sich allerdings nicht, weshalb es nahegelegen haben soll, spätestens bei der Mitteilung des Prüfungsergebnisses auf diesen Umstand hinzuweisen. [[X.].]ie das [[[X.].].] zutreffend festgestellt hat, erfasst § 26 Abs. 8 [X.] nur Störungen der mündlichen Prüfung, die durch äußere Einwirkungen verursacht werden. Um eine solche äußere Einwirkung handelte es sich hier nicht.

Soweit die Klägerin rügt, das [[[X.].].] hätte die Mitprüflinge zum Ablauf der mündlichen Prüfung vernehmen müssen, liegt --ungeachtet der Frage, ob der Vortrag der Klägerin den Anforderungen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 [[[X.].].]O genügt-- insoweit kein Verfahrensmangel vor. Auf die beantragte Beweiserhebung konnte das [[[X.].].] verzichten, weil es bezüglich einiger Prüfungsabschnitte das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung für unerheblich erachtet hat und in den übrigen Fällen den Vortrag der Klägerin als wahr unterstellt hat (zu den Anforderungen nach ständiger Rechtsprechung, z.B. [[X.].] vom 1. Februar 2007 VI B 118/04, [X.], 409, [X.] 2007, 538, m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [[[X.].].]O.

Meta

VII B 189/17

29.06.2018

Bundesfinanzhof 7. Senat

Beschluss

vorgehend FG Hamburg, 12. Oktober 2017, Az: 1 K 54/15, Urteil

Art 12 Abs 1 GG, § 76 Abs 1 S 1 FGO, § 81 Abs 1 S 1 FGO, § 26 Abs 8 StBDV, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.06.2018, Az. VII B 189/17 (REWIS RS 2018, 6896)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 6896


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. VII B 189/17

Bundesfinanzhof, VII B 189/17, 29.06.2018.


Az. 1 K 54/15

Finanzgericht Hamburg, 1 K 54/15, 12.10.2017.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VII R 24/22 (Bundesfinanzhof)

Anonymitätsgrundsatz und Überdenkungsverfahren in der Steuerberaterprüfung


VII B 129/13 (Bundesfinanzhof)

Zulässigkeit von "Erstgutachterbesprechungen" im Rahmen der Steuerberaterprüfung


4 K 264/18 (FG München)

Unbeachtlichkeit von Fehlern im Überdenkungsverfahren


VII R 10/20 (Bundesfinanzhof)

Anonymitätsgrundsatz und Überdenkungsverfahren in der schriftlichen Steuerberaterprüfung


VII R 5/10 (Bundesfinanzhof)

Wiederholung der mündlichen Steuerberaterprüfung nach Vernichtung der vom Prüfling angefertigten Unterlagen durch die Prüfungsbehörde


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.