Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2020, Az. B 1 KR 22/18 R

1. Senat | REWIS RS 2020, 2244

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Krankenversicherung - Krankenhaus - Anspruch auf Vergütung des Zusatzentgeltes ZE82.14 - Off-Label-Use von Rituximab - blasenbildende Autoimmunerkrankung in Form eines Schleimhautpemphigoids - grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts


Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 3. Mai 2018 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 6706,80 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

2

Der 1929 geborene, bei der beklagten Krankenkasse ([X.]) versicherte A (im Folgenden: Versicherter) litt unter einer blasenbildenden Autoimmunerkrankung der Haut (Schleimhautpemphigoid). Im April/Mai 2009 wurde er im Rahmen einer stationären Behandlung im [X.] zunächst mit einer hochdosierten Steroidtherapie, anschließend mit [X.] (antibiotisch und entzündungshemmend wirksamer Arzneistoff), dann mit Azathioprin (immunsuppressiv wirksamer Arzneistoff) und schließlich erneut mit [X.] behandelt. Bereits eine Woche nach der Entlassung kam es unter der fortgeführten Therapie mit [X.] und [X.] (Methylprednisolon, "Kortison") zu erneuter Blasenbildung. Das klagende Universitätsklinikum behandelte ihn deshalb vom 20.5. bis [X.] vollstationär ua mit dem monoklonalen Antikörper Rituximab. Die Beklagte beglich zunächst die Rechnung des [X.] (12 315,08 Euro, einschließlich 6706,80 Euro Zusatzentgelt 82.14 für Rituximab parenteral 1850 mg bis unter 2050 mg), verrechnete jedoch später 6706,80 Euro aufgrund einer Stellungnahme des [X.] ([X.]) mit einer unstreitigen Forderung des [X.] (28.11.2012): Rituximab sei weder zur unspezifischen Immunmodulation noch zur Behandlung des Pemphigoids mit Antikörperbildung zugelassen. Die Voraussetzungen eines zulässigen Off-Label-Use oder einer grundrechtsorientierten Auslegung lägen nicht vor. Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]). Das L[X.] hat auf die Berufung des [X.] die Beklagte zur Zahlung von 6706,80 Euro nebst Zinsen verurteilt. Der Kläger habe den Versicherten zulasten der Beklagten mit Rituximab behandeln dürfen. Der Versicherte habe bei grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts hierauf Anspruch gehabt. Der Befall großer Teile der Hautoberfläche mit Blasen, das hohe Lebensalter und insbesondere die parallel durchgeführte immunsuppressive Therapie hätten eine erhöhte Anfälligkeit des Versicherten für schnell und schwer verlaufende bakterielle Infektionen mit nachfolgender Sepsis begründet ("Blutvergiftung"; schwerste Komplikation einer Infektion durch entgleiste körpereigene Abwehrreaktion gegen eigene Gewebe und Organe). Der Zustand des Versicherten hätte unter Fortführung der bisherigen Behandlung jederzeit in einen sich rasant entwickelnden und deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit unumkehrbaren und im Ergebnis tödlichen Prozess umschlagen können. Eine anerkannte Standardtherapie habe nicht mehr zur Verfügung gestanden. Es habe eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die [X.] bestanden (Urteil vom 3.5.2018).

3

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 109 Abs 4 Satz 3 [X.]B V, § 17b Abs 1 Satz 10 [X.] und § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 1 KHEntgG iVm der [X.] und des nach § 112 [X.]B V geschlossenen Landesvertrags sowie von § 2 Abs 4, § 12 Abs 1 Satz 2 und § 70 Abs 1 Satz 2 [X.]B V. Die Voraussetzungen eines grundrechtsorientierten Leistungsanspruchs seien nicht erfüllt. Die lediglich abstrakt erhöhte Infektanfälligkeit des Versicherten begründe noch keine notstandsähnliche Situation mit konkreter unmittelbarer Lebensgefahr. Die zugelassenen Therapieoptionen seien nicht ausgeschöpft gewesen. Es liege auch kein Seltenheitsfall vor.

4

Die Beklagte beantragt,

        

das Urteil des [X.] vom 3. Mai 2018 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des [X.] vom 14. Januar 2016 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des [X.] vom 3. Mai 2018 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

5

Der Kläger beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

6

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das [X.] zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der [X.] konnte auf Grund der vom [X.] festgestellten Tatsachen nicht abschließend darüber entscheiden, ob dem Kläger der geltend gemachte Vergütungsanspruch in Höhe von 6706,80 Euro nebst Zinsen gegen die Beklagte zusteht.

8

1. Die Klage ist in dem hier bestehenden [X.] als (echte) Leistungsklage gemäß § 54 Abs 5 SGG zulässig (stRspr, vgl zB [X.] 16.12.2008 - [X.] KN 1/[X.] R - [X.], 172 = [X.]-2500 § 109 [X.], Rd[X.] 9 mwN).

9

2. Ob dem Kläger der unstreitig entstandene Vergütungsanspruch aus der Behandlung anderer Versicherter in Höhe von 6706,80 Euro weiterhin zusteht oder ob die Beklagte diesen dadurch erfüllte, dass sie mit einem aus der Behandlung des Versicherten resultierenden Gegenanspruch aus öffentlich-rechtlicher Erstattung wirksam aufrechnete, kann der erkennende [X.] wegen fehlender Feststellungen des [X.] zu den Voraussetzungen des Anspruchs des [X.] auf Abrechnung des streitigen [X.] für die Behandlung mit [X.] nicht entscheiden.

a) Rechtsgrundlage des von dem Kläger wegen der stationären Behandlung des Versicherten vom 20.5. bis [X.] geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs 4 Satz 3 [X.] iVm § 7 [X.] und § 17b [X.]. Das Gesetz regelt in diesen Vorschriften die Höhe der Vergütung der zugelassenen Krankenhäuser bei stationärer Behandlung gesetzlich [X.] und setzt dabei das Bestehen des Vergütungsanspruchs als Gegenleistung für die Erfüllung der Pflicht des zugelassenen Krankenhauses, erforderliche Krankenhausbehandlung nach § 39 [X.] zu gewähren, dem Grunde nach als Selbstverständlichkeit voraus. Der Anspruch wird auf Bundesebene durch [X.] ([X.], [X.] <[X.]>) konkretisiert. Der [X.] [X.] und der [X.] gemeinsam vereinbaren nach § 9 Abs 1 Satz 1 [X.] 1 [X.] mit der [X.] als "Vertragsparteien auf Bundesebene" mit Wirkung für die Vertragsparteien nach § 11 [X.] einen Fallpauschalen-Katalog einschließlich der Bewertungsrelationen sowie Regelungen zur Grenzverweildauer und der in Abhängigkeit von diesen zusätzlich zu zahlenden Entgelte oder vorzunehmenden Abschläge. Ferner vereinbaren sie insoweit Abrechnungsbestimmungen in den [X.] auf der Grundlage des § 9 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.] (idF durch Art 19 [X.] des [X.] des [X.] in der gesetzlichen Krankenversicherung <[X.]-[X.]stärkungsgesetz - [X.]-WSG> vom [X.], [X.]; vgl zum Ganzen nur [X.] 8.11.2011 - [X.] KR 8/11 R - [X.], 236 = [X.]-5560 § 17b [X.], Rd[X.] 15 und [X.] [X.] - [X.] KR 27/18 R - juris Rd[X.] 12; stRspr). Krankenhäuser dürfen zusätzlich zu einer Fallpauschale oder zu den Entgelten nach § 6 Abs 1 [X.] nach § 7 Abs 1 Satz 1 und § 9 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.] (idF durch Art 19 [X.] [X.]-WSG) bundeseinheitliche Zusatzentgelte nach dem [X.] nach Anlage 2 bzw 5 abrechnen (§ 5 Abs 1 Satz 1 [X.] 2009; zur normativen Wirkung von [X.] vgl [X.] 8.11.2011 - [X.] KR 8/11 R - [X.], 236 = [X.]-5560 § 17b [X.], Rd[X.] 18). Maßgebend ist vorliegend die [X.] 2009 einschließlich der Anlage 5.

b) Der Kläger erfüllt die Grundvoraussetzungen eines Anspruchs auf Krankenhausvergütung, indem er den Versicherten vom 20.5. bis [X.] vollstationär behandelte. Die Zahlungsverpflichtung einer [X.] entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 Satz 2 [X.] erforderlich und wirtschaftlich ist (stRspr, vgl zB [X.] 8.11.2011 - [X.] KR 8/11 R - [X.], 236 = [X.]-5560 § 17b [X.], Rd[X.] mwN; [X.] 19.11.2019 - [X.] KR 33/18 R - Rd[X.] 10 mwN). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Es steht nach dem Gesamtzusammenhang der [X.], den erkennenden [X.] bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 SGG) fest, dass der Versicherte vom 20.5. bis [X.] wegen erneuter Blasenbildung durch das bei ihm vorliegende Schleimhautpemphigoid vollstationärer Krankenhausbehandlung bedurfte.

c) Ob der Kläger Anspruch auf das hier allein streitige [X.] hat, kann der [X.] auf der Grundlage der Feststellungen des [X.] nicht abschließend entscheiden. Das [X.] hat bindend festgestellt, dass an den Versicherten eine Gabe von [X.] (parenteral, 1850 mg bis unter 2050 mg) erfolgt ist. Hierfür kann der Kläger von der Beklagten das [X.] iHv 6706,80 Euro unter den Voraussetzungen des § 5 Abs 1 Satz 1 [X.] 2009 iVm Anlage 5 beanspruchen, wenn der Versicherte im Rahmen der stationären Behandlung einen Anspruch auf die Versorgung mit [X.] hatte. Auch die Behandlung mit [X.] muss geeignet, erforderlich und wirtschaftlich iS des § 39 Abs 1 Satz 2 [X.] gewesen sein (vgl 2.b). Das [X.] hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise einen Anspruch nach allgemeinen Grundsätzen der Krankenbehandlung der gesetzlichen Krankenversicherung ([X.], dazu [X.]) und nach den Grundsätzen des Off-Label-Use (dazu [X.]) verneint. Ob sich ein Anspruch aus grundrechtsorientierter Auslegung des [X.] (dazu [X.]) oder wegen Vorliegens eines Seltenheitsfalles (dazu [X.]) ergibt, kann der erkennende [X.] auf der Grundlage der vom [X.] getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden.

[X.]) Nach § 27 Abs 1 Satz 1 [X.] haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 Satz 2 [X.] Fall 1 iVm § 31 Abs 1 Satz 1 [X.]). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zulasten der [X.] grundsätzlich nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Die Zulassung kann sich grundsätzlich aus nationalem Recht (§ 21 Abs 1 [X.]) oder aus dem Recht der [X.] ergeben, nicht aber aus ausländischem Recht (stRspr, vgl [X.] 11.9.2018 - [X.] KR 36/17 R - juris Rd[X.] 12 = [X.] 2019, 38 mwN - Avastin).

Das [X.] hat hierzu unangegriffen festgestellt, dass [X.] im Zeitpunkt der Behandlung für die Erkrankung des Versicherten nicht zugelassen war. Die Zulassung galt nur für die Behandlung des [X.], der chronischen lymphatischen Leukämie, der schweren aktiven rheumatoiden Arthritis (mit Einschränkungen), der schnell tödlich verlaufenden aggressiven Lymphome (als Kombinationstherapie) und für die Erstbehandlung indolenter Lymphome. Keine dieser Erkrankungen lag bei dem Versicherten vor.

[X.]) Der Versicherte konnte von der Beklagten die Versorgung mit [X.] auch nicht im Rahmen eines Off-Label-Use beanspruchen.

(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss ([X.]) hat den Einsatz von [X.] zur Behandlung des Schleimhautpemphigoids nicht empfohlen. Nach § 92 Abs 1 Satz 1, Satz 2 [X.] 6 [X.] beschließt der [X.] die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln. Gestützt auf § 35b Abs 3 [X.] (idF durch Art 256 [X.] 1 der [X.], [X.] 2407; jetzt § 35c Abs 1 [X.]) enthalten Abschnitt K und [X.] Teil A der Richtlinie des [X.] über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie vom 18.12.2008/ 22.1.2009, BAnz 2009, [X.] 49a , hier anwendbar in der ab [X.] geltenden Fassung des Beschlusses vom [X.], BAnz 2009, [X.] 74) Einzelheiten über die "Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten" und führen Wirkstoffe als verordnungsfähig ([X.] Teil A) bzw als nicht verordnungsfähig ([X.] Teil B) auf. Dort wurde das hier betroffene Arzneimittel [X.] im Zeitpunkt der Behandlung des Versicherten nicht aufgeführt.

(2) Für einen Anspruch aus § 35c [X.] (idF durch Art 1 [X.]0a [X.]-WSG vom [X.], [X.]) liegt nach den Feststellungen des [X.] ebenfalls nichts vor. Die Behandlung mit [X.] erfolgte nicht im Rahmen einer klinischen Studie.

(3) Auch die Voraussetzungen für die daneben weiterhin anwendbaren, allgemeinen, vom erkennenden [X.] entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der [X.], die auch im Rahmen der stationären Versorgung gelten, liegen nicht vor (zu diesen Voraussetzungen vgl [X.] 13.12.2016 - [X.] KR 1/16 R - [X.], 170 = [X.]-2500 § 31 [X.]8, Rd[X.]6 - [X.]; vgl zum Off-Label-Use aus jüngerer Zeit [X.] 11.9.2018 - [X.] KR 36/17 R - juris Rd[X.] 14 = [X.] 2019, 38 - Avastin; vgl aus der Rspr des für das Vertragsarztrecht zuständigen 6. [X.]s zB [X.] 13.8.2014 - B 6 [X.]/13 R - [X.]-2500 § 106 [X.] 47 Rd[X.]1; zur Verfassungsmäßigkeit vgl [X.] Beschluss vom 30.6.2008 - 1 BvR 1665/07 - [X.]K 14, 46, 48 f = [X.]-2500 § 31 [X.] 17 Rd[X.] 10 f). Es fehlt an einer im Zeitpunkt der Behandlung aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Dafür müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der [X.] (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl zB [X.] 26.9.2006 - [X.] KR 1/06 R - [X.], 112 = [X.]-2500 § 31 [X.] 5, Rd[X.] 19 f - Ilomedin; [X.] 8.11.2011 - [X.] KR 19/10 R - [X.], 211 = [X.]-2500 § 31 [X.] 19, Rd[X.] 17 mwN - [X.]/A; [X.] [X.] - [X.] KR 4/17 R - [X.]-2500 § 2 [X.] 12 Rd[X.] 16 - [X.]). Eine derartige Studienlage lag nach den [X.] Feststellungen des [X.] nicht vor.

[X.]) Ob der Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit [X.] aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des [X.] (dazu <1>) hatte, kann der [X.] nicht abschließend entscheiden. Sofern das [X.] mit Blick auf eine erhöhte Infektanfälligkeit und eine daraus resultierende [X.] das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung bejaht hat, beruht dies im Ergebnis auf der Zugrundelegung eines unzutreffenden rechtlichen Maßstabes (dazu <2>). Für eine abschließende Entscheidung reichen die vom [X.] getroffenen Feststellungen insofern nicht aus (dazu <3>). Dies gilt auch für eine möglicherweise drohende Erblindungsgefahr (dazu <4>).

(1) Nach dem Beschluss des [X.] vom 6.12.2005 folgt aus den Grundrechten nach Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialst[X.]tsprinzip und nach Art 2 Abs 2 GG ein Anspruch auf Krankenversorgung in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, wenn für sie eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht ([X.] Beschluss vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 - [X.]E 115, 25, 49 = [X.]-2500 § 27 [X.] 5, Rd[X.]3; zur nachfolgenden - restriktiven - Rspr des [X.] zu wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankungen vgl [X.] 13.12.2016 - [X.] KR 1/16 R - [X.], 170 = [X.]-2500 § 31 [X.]8, Rd[X.] 18). Das BSG hat diese verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Folge näher konkretisiert und dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (vgl zB [X.] [X.] - [X.] KR 12/04 R - [X.], 153 = [X.]-2500 § 27 [X.] 7, Rd[X.]1 - D-Ribose; [X.] 20.4.2010 - [X.]/3 [X.] 106, 81 = [X.]-1500 § 109 [X.], Rd[X.]1 - Kuba-Therapie; [X.] 2.9.2014 - [X.] KR 4/13 R - [X.]-2500 § 18 [X.] 9 Rd[X.] - Kuba-Therapie). Dem ist der Gesetzgeber mit der Kodifizierung des Anspruchs in § 2 Abs 1a [X.] gefolgt (vgl Begründung des [X.]-VStG-Entwurfs, BT-Drucks 17/6906 [X.] f; in [X.] getreten zum 1.1.2012). Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine vom [X.] (§ 2 Abs 1 Satz 3 [X.]) abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

(2) Das [X.] senkt die Anforderungen an die Annahme einer notstandsähnlichen Situation ab und verlässt den von der Rspr des erkennenden [X.]s vorgegebenen Maßstab für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Diese setzt voraus, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit nach den konkreten Umständen des Falles verwirklichen wird (vgl ausführlich dazu [X.] [X.] - [X.] KR 4/17 R - [X.]-2500 § 2 [X.] 12 Leitsatz und Rd[X.]1 mwN, auch zur Rspr des [X.] - [X.]).

Die Ausführungen des [X.] tragen die Annahme einer notstandsähnlichen Situation in dem vorbeschriebenen Sinn nicht. Ihnen kann aber auch nicht entnommen werden, dass keine notstandsähnliche Situation vorgelegen hat. Denn die getroffenen Feststellungen sind unklar und widersprüchlich. Das Revisionsgericht ist in einem solchen Fall auch ohne Rüge eines Beteiligten an die getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht gebunden. Es muss dementsprechend eine Sache, die sich nicht aus anderen Gründen als richtig erweist, in die Tatsacheninstanz zurückverweisen (vgl auch [X.] [X.] - [X.] KR 4/17 R - [X.]-2500 § 2 [X.] 12 Rd[X.]4).

Das [X.] sieht zwar einerseits die Anfälligkeit des Versicherten für eine Todesgefahr begründende, schnell und schwer verlaufende bakterielle Infektion mit nachfolgender Sepsis als "lebensbedrohlich im Sinne der Rechtsprechung des BSG" an. Andererseits bewertet es die Erkrankung im Zeitpunkt der Behandlung als "nicht unmittelbar lebensbedrohlich in dem Sinne, dass die Gefahr des Todes bereits unmittelbar bevorstand". Soweit es die [X.] als "wertungsmäßig mit einer solchen Erkrankung vergleichbar" einstuft, verkennt es, dass sich die wertungsmäßige Vergleichbarkeit nach der Rspr des erkennenden [X.]s allein auf die Schwere und das Ausmaß der aus der Erkrankung folgenden Beeinträchtigung bezieht, indem der Gefahr des Todes der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gleichgestellt wird (vgl die Nachweise unter Rd[X.]0). Die wertungsmäßige Gleichstellung ermöglicht dagegen keine Reduzierung der Anforderungen an den die individuelle Notlage kennzeichnenden erheblichen Zeitdruck für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf.

Das [X.] führt aus, dass der Zustand des Versicherten unter Fortführung der bisherigen Behandlung "aufgrund der nicht mehr vorhandenen Barrierefunktion der Haut mit erheblich gesteigerter [X.] jederzeit umschlagen [konnte] in einen dann sich rasant entwickelnden und deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit unumkehrbaren und im Ergebnis tödlichen Prozess." Diese Feststellungen reichen weder für die Annahme einer die individuelle Notlage kennzeichnenden hohen Wahrscheinlichkeit eines sich innerhalb eines überschaubaren Zeitraums verwirklichenden tödlichen Krankheitsverlaufs aus noch kann ihnen das Fehlen der notstandsähnlichen Situation hinreichend entnommen werden.

(3) Für eine abschließende Entscheidung über das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung fehlen konkrete Feststellungen des [X.] dazu, in welchem Ausmaß mit bakteriellen Infektionen beim Versicherten zu rechnen war, dass und ggf in welchem Umfang Infektionen - unter Umständen durch präventive Gabe von Antibiotika - medikamentös nicht beherrschbar gewesen wären und wie hoch dann die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Sepsis bei dem Versicherten gewesen wäre. Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. B. genügen für die Annahme einer durch eine nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage in dem oben beschriebenen Sinne nicht. Sofern nach Ausschöpfung aller Beweismittel, etwa aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse, eine konkrete Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Krankheitsverlaufs nicht möglich sein sollte, wäre vom [X.] insoweit gegebenenfalls nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu entscheiden (zur Beweislast bei erfolgter Zahlung durch die [X.] vgl [X.] 30.6.2009 - [X.] KR 24/08 R - [X.], 15 = [X.]-2500 § 109 [X.] 17, Rd[X.]6 f).

(4) Ob das bei dem Versicherten vorliegende Schleimhautpemphigoid deshalb einer lebensbedrohlichen Erkrankung wertungsmäßig gleichzustellen war, weil durch eine mögliche Augenbeteiligung eine Erblindung drohte, hat das [X.] - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft und kann der [X.] auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen ebenfalls nicht entscheiden. Auch hier wäre erforderlich, dass nach den konkreten Umständen des Falls der Verlust der Sehfähigkeit innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit drohte (vgl [X.] 20.4.2010 - [X.]/3 [X.] 106, 81 = [X.]-1500 § 109 [X.], Rd[X.]1 - Kuba-Therapie; [X.] 2.9.2014 - [X.] KR 4/13 R - [X.]-2500 § 18 [X.] 9 Rd[X.] - Kuba-Therapie). Entscheidend ist nicht, wie häufig eine Beteiligung der Augen erfolgt (laut gerichtlichem Sachverständigen in [X.] der Schleimhautpemphigoid-Fälle), sondern ob, gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit und mit welcher Schwere dies beim Versicherten der Fall war. Entscheidend ist also, mit welcher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums Blindheit die Folge eines Schleimhautpemphigoids ist und welcher konkreten Erblindungsgefahr gerade der Versicherte ausgesetzt war, bei dem nur große Bereiche der Hautoberfläche "mit nahezu Aussparung des Gesichtes" betroffen waren (Entlassungsbericht vom 29.6.2009). Hinweise auf eine Beteiligung der Schleimhäute und der Augen sind ihm nicht zu entnehmen. Gegebenenfalls muss das [X.] auch hierzu Feststellungen treffen.

(5) Das [X.] muss bei der Prüfung der Voraussetzungen des Anspruchs aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung des [X.], sollte es Lebensbedrohlichkeit oder die akute Gefahr der Erblindung bejahen, auch Feststellungen dazu treffen, dass unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen überwiegt und dass die Behandlung auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt wurde (vgl dazu [X.] [X.] - [X.] KR 7/05 R - [X.], 170 = [X.]-2500 § 31 [X.] 4, Rd[X.]4 ff). Insbesondere muss es sich damit auseinandersetzen, ob beim Versicherten, sofern er denn ein Hochrisikopatient war, vor der Gabe von [X.] auch die Anwendung anderer und/oder höher dosierter Arzneimittel, zB Cyclophosphamid in Kombination mit Prednisolon, in Betracht gekommen wäre (vgl auch die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. B. im Gutachten vom [X.], [X.]). Zudem ist bei medizinisch gleichwertigen Therapien immer das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten, das auch im Bereich der grundrechtsorientierten Auslegung des [X.] uneingeschränkt gilt.

[X.]) Nicht abschließend entscheiden kann der erkennende [X.] schließlich auch, ob sich ein Leistungsanspruch des Versicherten wegen Vorliegens eines sogenannten Seltenheitsfalles ergab. Dafür darf das festgestellte Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sein (stRspr, vgl zB [X.] 19.10.2004 - [X.] KR 27/02 R - [X.], 236 = [X.]-2500 § 27 [X.] 1, Rd[X.]4 - Visudyne; [X.] 8.11.2011 - [X.] KR 20/10 R - [X.], 218 = [X.]-2500 § 31 [X.]0, Rd[X.] 14 - Leucinose; [X.] 3.7.2012 - [X.] KR 25/11 R - [X.], 168 = [X.]-2500 § 31 [X.]2, Rd[X.] 19 - Avastin). Allein geringe Patientenzahlen stehen einer wissenschaftlichen Erforschung nicht entgegen, wenn etwa die Ähnlichkeit zu weit verbreiteten Erkrankungen eine wissenschaftliche Erforschung ermöglicht ([X.] 19.10.2004 - [X.] KR 27/02 R - [X.], 236 = [X.]-2500 § 27 [X.] 1, Rd[X.]4 - Visudyne). Das gilt erst recht, wenn - trotz der Seltenheit der Erkrankung - die Krankheitsursache oder Wirkmechanismen der bei ihr auftretenden Symptomatik wissenschaftlich klärungsfähig sind, deren Kenntnis der Verwirklichung eines der in § 27 Abs 1 Satz 1 [X.] genannten Ziele der Krankenbehandlung dienen kann ([X.] 3.7.2012 - [X.] KR 25/11 R - [X.], 168 = [X.]-2500 § 31 [X.]2, Rd[X.] 19 - Avastin; [X.] [X.] - [X.] KR 18/19 R - Rd[X.] - podologische Therapie). Ob diese Voraussetzungen hier vorlagen, hat das [X.] - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - ausdrücklich offengelassen. Gegebenenfalls muss es entsprechende Feststellungen treffen. Die medizinische Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. B. vermag jedenfalls die Annahme eines Seltenheitsfalls nicht ausreichend zu stützen.

3. Die Kostenentscheidung bleibt dem [X.] vorbehalten. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.

Meta

B 1 KR 22/18 R

19.03.2020

Bundessozialgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Hamburg, 14. Januar 2016, Az: S 48 KR 2308/13, Urteil

Art 2 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 GG, Art 20 Abs 1 GG, § 2 Abs 1a SGB 5, § 2 Abs 1 S 3 SGB 5, § 12 Abs 1 SGB 5, § 27 Abs 1 S 1 SGB 5, § 27 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 5, § 31 Abs 1 S 1 SGB 5, § 35b Abs 3 SGB 5 vom 31.10.2006, § 35c SGB 5 vom 26.03.2007, § 39 Abs 1 S 2 SGB 5, § 92 Abs 1 S 1 SGB 5, § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB 5, § 109 Abs 4 S 3 SGB 5, § 17b KHG, § 7 Abs 1 S 1 KHEntgG, § 9 Abs 1 S 1 Nr 1 KHEntgG, § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 KHEntgG, § 5 Abs 1 S 1 KFPVbg 2009, Anl 5 Nr ZE82.14 KFPVbg 2009, Abschn K AMRL vom 19.03.2009, Anl 6 Teil A AMRL vom 19.03.2009, § 21 Abs 1 AMG 1976

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2020, Az. B 1 KR 22/18 R (REWIS RS 2020, 2244)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2244

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 347/98

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