Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 15.02.2012, Az. 2 B 137/11

2. Senat | REWIS RS 2012, 9149

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Berufungsbegründungsfrist; Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist; Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an Prozessunfähigen


Gründe

1

[X.]ie Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. [X.]ie Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsgericht die Prozessfähigkeit des Beklagten nicht geprüft hat und die Entscheidung auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann.

2

[X.]er Beklagte war als Rechtspfleger tätig. In der [X.] vom 27. März bis zum 26. August 2008 war er dienstunfähig erkrankt; für diesen [X.]raum legte er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen u.a. eines Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie vor. Eine amtsärztliche Untersuchung seiner [X.]ienstfähigkeit am 3. September 2008 führte zu dem Ergebnis, dass eine fachpsychiatrische Untersuchung nötig sei; die dafür angesetzten Termine nahm der Beklagte nicht wahr. [X.]er Kläger leitete wegen unentschuldigten Fernbleibens vom [X.]ienst seit dem 27. August 2008 ein [X.]isziplinarverfahren ein und erhob [X.] mit dem Ziel, den Beklagten aus dem [X.]ienst zu entfernen. [X.]ieser äußerte sich weder im behördlichen noch im erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren.

3

[X.]as Verwaltungsgericht hat den anwaltlich nicht vertretenen Beklagten durch Urteil vom 27. Oktober 2010 aus dem [X.]ienst entfernt, nachdem dieser vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hatte, er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage zu erscheinen. Im Berufungsverfahren hat der Beklagte durch seinen Prozessbevollmächtigten vorgetragen, er sei wegen einer psychischen Krankheit nicht imstande gewesen, im [X.]isziplinarverfahren und vor dem Verwaltungsgericht Stellung zu nehmen oder auch nur das Haus zu verlassen. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat die Berufung wegen Versäumnis der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist durch Beschluss verworfen.

4

1. [X.]ie Grundsatz- und die [X.] bleiben erfolglos.

5

[X.]ie vom Beklagten aufgeworfene Frage,

ob die Formulierung "[X.]ie Begründung erfolgt in einem gesonderten Schriftsatz" in einem Schriftsatz, der am letzten [X.] verfasst worden ist, konkludent einen Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist enthält,

6

lässt sich, soweit sie einer abstrakten Beantwortung zugänglich ist, ohne Weiteres mit Hilfe der üblichen Auslegungsregeln im verneinenden Sinn beantworten. An einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, um die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes nicht in unverhältnismäßiger Weise zu erschweren. [X.]er Verfahrensbeteiligte muss dem Gericht jedoch schriftlich und unmissverständlich deutlich machen, dass er die Prüfung eines konkreten Begehrens und eine Entscheidung über die Fristverlängerung verlangt ([X.], [X.] vom 14. März 1994 - 1 BvR 1510/93 - NVwZ 1994, 781). [X.]emgegenüber beschränkt sich der Bedeutungsgehalt der vom Prozessbevollmächtigten des Beklagten verwendeten Formulierung darauf mitzuteilen, dass das eingelegte Rechtsmittel noch begründet werden soll und dass das Gericht deshalb den Eingang der angekündigten Begründung abwarten möge. [X.]em natürlichen Wortsinn der Formulierung ist die Bedeutung, die die Beschwerde ihr beilegt, nicht zu entnehmen.

7

Eine Zulassung der Revision kommt auch nicht wegen [X.]ivergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) in Betracht. Eine [X.]ivergenz des Berufungsurteils zu der Entscheidung des [X.] vom 9. Januar 2008 - BVerwG 6 [X.] - ([X.] 310 § 60 VwGO Nr. 261) liegt nicht vor. [X.]ie Beschwerde entnimmt dieser Entscheidung zutreffend den Rechtssatz, dass die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts hinsichtlich der Organisation von Arbeitsabläufen in seiner Kanzlei dann erfüllt ist, wenn sichergestellt wird, dass verwendete Faxnummern aus einer zuverlässigen Quelle stammen. [X.]as Berufungsgericht hat keinen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt. [X.]ie Frage, ob ein Softwareprogramm als hinreichend zuverlässige Quelle anzusehen ist, kann in diesem Zusammenhang offen bleiben. [X.]enn das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die [X.] nachträglich per Hand geändert worden ist, sodass die auf dem Schriftsatz verbliebene Faxnummer des [X.] gerade nicht durch das Softwareprogramm als die zum ausgewählten Gericht passende Nummer in den Text eingefügt worden ist. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat daraus ohne Abweichung von der in Bezug genommenen Entscheidung des [X.] den Schluss gezogen, das Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten habe darin bestanden, eine Plausibilitätskontrolle der auf dem Schriftsatz befindlichen Faxnummer nicht vorzusehen.

8

2. [X.]ie Nichtzulassungsbeschwerde führt jedoch zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht. Unter der unrichtigen Bezeichnung als [X.], aber sachlich zutreffend rügt der Beklagte, das Oberverwaltungsgericht habe unter Verstoß gegen § 86 VwGO (vgl. Beschluss vom 9. Juli 1992 - BVerwG 2 [X.] - [X.] 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 244) versäumt, der Frage nachzugehen, ob er im [X.]punkt der Zustellung des verwaltungsgerichtlichen Urteils [X.] war. [X.]amit ist ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend gemacht (Beschlüsse vom 20. Oktober 2011 - BVerwG 2 [X.] - juris und vom 4. September 2008 - BVerwG 2 B 61.07 - [X.] 235.1 § 58 [X.] Nr. 4). [X.]as Oberverwaltungsgericht hätte die Berufung des Beklagten im Falle seiner [X.]keit nicht als unzulässig verwerfen dürfen, weil die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an den Beklagten dann nach § 56 Abs. 1 und 2 VwGO, § 170 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO unwirksam gewesen wäre und die Berufungsfrist nicht in Lauf gesetzt hätte.

9

Sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen [X.]isziplinarverfahren muss von Amts wegen geklärt werden, ob ein Verfahrensbeteiligter verfahrens- bzw. prozessfähig ist, wenn hinreichende Anhaltspunkte vernünftigerweise zu Zweifeln Anlass geben. [X.] und damit vertretungsbedürftig ist, wer geschäftsunfähig ist. [X.]ies ist bei einem Volljährigen der Fall, wenn er sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht dieser Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; § 104 Nr. 2 BGB, vgl. Urteil vom 17. [X.]ezember 2009 - BVerwG 2 A 2.08 - [X.] 235.1 § 71 [X.] Nr. 1 Rn. 24 ff.).

[X.]anach ist das Oberverwaltungsgericht verpflichtet gewesen, die Prozessfähigkeit des Beklagten zu prüfen. [X.]er Prozessbevollmächtigte hat vorgetragen, dass der Beklagte unter starken [X.]epressionen gelitten habe, die sich aus einer Situation der beruflichen wie privaten Überforderung entwickelt und dazu geführt hätten, dass er nicht mehr imstande gewesen sei, sich mit dienstlichen Vorgängen auseinanderzusetzen. Über lange [X.]räume hinweg sei er sogar außerstande gewesen, das Haus zu verlassen. Weiteres Indiz für eine [X.]keit sei es, dass er eher die Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz hingenommen und alle von ihm verlangten Zahlungen geleistet habe - etwa die zurückgeforderte Besoldung in Höhe von etwa 12 000 € - als sein Verfahren gegenüber dem [X.]ienstherrn oder vor Gericht zu betreiben.

[X.]ies sowie der Umstand, dass der Beklagte schon die entschuldigten Fehlzeiten mit Attesten eines Facharztes für Psychiatrie belegt hatte und zur mündlichen Verhandlung in erster Instanz nicht erschienen war, begründeten die Erforderlichkeit näherer Sachaufklärung, deren Unterlassen im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen § 86 VwGO darstellt (Beschluss vom 9. Juli 1992 a.a.[X.]). Ohne Erkenntnisse darüber, ob der krankhafte Zustand des Beklagten so weit ging, seine Prozessfähigkeit auszuschließen, konnte das Oberverwaltungsgericht nicht davon ausgehen, dass das Urteil des [X.] wirksam zugestellt worden war. Es durfte infolgedessen auch nicht ohne Weiteres annehmen, dass eine Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist wirksam in Lauf gesetzt worden ist, sodass möglicherweise weder das am 14. [X.]ezember 2010 eingelegte und als Berufung zu verstehende Rechtsmittel noch die Berufungsbegründung als verspätet hätte behandelt werden dürfen. Wäre der Beklagte [X.] gewesen, wäre nämlich eine wirksame Zustellung des verwaltungsgerichtlichen Urteils an ihn nicht möglich gewesen, da ein Prozesspfleger hätte bestellt werden müssen.

[X.]as Oberverwaltungsgericht wird zu prüfen haben, ob und ggf. seit wann der Beklagte [X.] war (vgl. Urteil vom 24. September 2009 - BVerwG 2 C 80.08 - BVerwGE 135, 24). Sollte es zu dem Ergebnis kommen, dass er zum [X.]punkt der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils [X.] war und die Berufung daher nicht als unzulässig verworfen werden konnte, wird es zu bedenken haben, dass der Tatbestand des unentschuldigten Fernbleibens vom [X.]ienst die [X.]ienstfähigkeit des Beamten voraussetzt (Urteil vom 11. Oktober 2006 - BVerwG 1 [X.] 10.05 - [X.] 232 § 73 [X.] Nr. 30 Rn. 34; Beschluss vom 23. März 2006 - BVerwG 2 A 12.04 - [X.] 232 § 73 [X.] Nr. 29). Es wird also ggf. aufzuklären haben, ob der Beklagte bereits in der [X.] seit dem 27. August 2008 dienstunfähig war. Ergebnisse der am 3. September 2008 durchgeführten amtsärztlichen Untersuchung haben keinen Eingang in die Akten gefunden, doch ergibt sich aus der Anordnung zusätzlicher fachpsychiatrischer Begutachtung, dass zumindest Zweifel an der [X.]ienstfähigkeit des Beklagten bestanden. [X.]iesen muss nachgegangen werden; auch hat der Beklagte im Berufungsverfahren vorgetragen, die Amtsärztin habe ihm mündlich erklärt, dass sie ihn für dienstunfähig halte. Angesichts dieser Umstände des Einzelfalles verbietet es sich insbesondere, aus dem Fehlen weiterer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abzuleiten, dass der Beklagte dienstfähig war. Zu prüfen wird ggf. vielmehr sein, ob der Kläger möglicherweise verpflichtet war, ein Zurruhesetzungsverfahren einzuleiten statt auf die Nichtvorlage von Arbeitsunfähigkeitsattesten durch Einleitung eines [X.]isziplinarverfahrens zu reagieren. Sollte eine [X.]ienstunfähigkeit anzunehmen oder - bei inzwischen unzureichenden [X.] - zu Gunsten des Beklagten nicht auszuschließen sein, stünde möglicherweise nur noch der weitere - die disziplinarische [X.] nicht rechtfertigende - Vorwurf im Raum, [X.]ienstschlüssel nicht abgegeben zu haben. Schließlich ist eine den Erfordernissen des § 13 L[X.]G NRW genügende Auseinandersetzung mit möglichen Milderungsgründen bisher nicht erfolgt.

Meta

2 B 137/11

15.02.2012

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 31. August 2011, Az: 3d A 2775/10.O, Beschluss

§ 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 86 VwGO, § 56 Abs 1 VwGO, § 56 Abs 2 VwGO, § 62 VwGO, § 170 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 15.02.2012, Az. 2 B 137/11 (REWIS RS 2012, 9149)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9149

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 B 3/20 (Bundesverwaltungsgericht)

Keine erneute Beteiligung des Personalrats bei Heilung eines Mangels der Disziplinarklage


2 C 6/19 (Bundesverwaltungsgericht)

Entfernung eines Polizeibeamten aus dem Beamtenverhältnis wegen vorsätzlich unerlaubtem Fernbleiben vom Dienst


2 B 22/22 (Bundesverwaltungsgericht)

Aberkennung des Ruhegehalts wegen fortdauernder Therapieverweigerung; aktenwidrigen Feststellung des Sachverhalts


2 B 6/20 (Bundesverwaltungsgericht)

Erfolglose Verfahrensrügen in einem beamtenrechtlichen Disziplinarklageverfahren; Nebentätigkeiten während Dienstunfähigkeitszeiten


2 C 82/10 (Bundesverwaltungsgericht)

Arbeitszeit der Lehrer; begrenzte Dienstfähigkeit; Pflichtstundenzahl; Ermäßigungsstunden


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.