Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 22.09.2021, Az. 2 BvR 955/17

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2021, 2476

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss:  Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 93 Abs 2 BVerfGG) nach Fristversäumnis aufgrund fehlerhafter Rechtsmittelbelehrung - Verstoß gegen Art 19 Abs 4 S 1 GG aufgrund sachlich nicht mehr vertretbarer Auslegung des Rechtsschutzbegehrens


Tenor

1. Dem Beschwerdeführer wird Wiedereinsetzung in die Verfassungsbeschwerdefrist gewährt.

2. Der Beschluss des [X.] vom 19. Oktober 2016 - 934 [X.] 1284/16 B - und der Beschluss des [X.] vom 21. Oktober 2016 - 2-29 T 214/16 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

3. Die Beschlüsse werden aufgehoben, und die Sache wird an das Amtsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.

4. Der Beschluss des [X.] vom 16.März 2017 - [X.] 147/16 - wird damit gegenstandslos.

5. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

6. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Behandlung eines Rechtsschutzantrags, der sich gegen eine richterlich angeordnete Unterbringung im Transitbereich eines Flughafens richtete.

2

1. Auf Antrag der [X.] ordnete das [X.] (nachfolgend: das Amtsgericht) mit Beschluss vom 14. September 2016 im Wege einstweiliger Anordnung auf Grundlage von § 427 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (nachfolgend: FamFG) in Verbindung mit § 15 Abs. 6 Satz 2 bis 5, Abs. 5 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (nachfolgend: [X.]) die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers im Transitbereich des [X.] bis zum 26. Oktober 2016 an. Mit [X.] vom 10. Oktober 2016 beantragte der Beschwerdeführer, die Haftanordnung "aufzuheben und den Betroffenen sofort in Freiheit zu setzen". Weiter beantrage er, "festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen seit Stellung des [X.] in seinen Rechten verletzt hat". Am Ende des [X.]es heißt es: "Nach Akteneinsicht wird die Beschwerde begründet".

3

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 19. Oktober 2016 half das Amtsgericht der "nicht näher begründeten Beschwerde" (Hervorhebung nur hier) aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses nicht ab. Darüber hinaus werde darauf hingewiesen, dass "die Beschwerde verfristet sein dürfte" (Hervorhebung nur hier).

4

3. Der Beschwerdeführer teilte gegenüber dem Amtsgericht mit, er verstehe den Nichtabhilfebeschluss nicht. Er habe keine Beschwerde eingelegt; sie wäre in der Tat verfristet. Vielmehr habe er einen "eigenständigen [X.]" gestellt.

5

Das [X.] (nachfolgend: das [X.]) antwortete ihm daraufhin, dass man den [X.] vom 10. Oktober 2016 aufgrund der Formulierung "Nach Akteneinsicht wird die Beschwerde begründet" als Beschwerde ansehe. Die Beschwerde sei indessen offensichtlich verfristet. Man frage daher an, ob die Beschwerde zurückgenommen werde.

6

Der Beschwerdeführer bemerkte nunmehr mit [X.] vom 20. Oktober 2016 nochmals, dass er im [X.] vom 10. Oktober 2016 einen [X.] gestellt und nicht Beschwerde eingelegt habe. Seine Formulierung, wonach er "die Beschwerde" begründe, sei unerheblich. Relevant seien vielmehr die in diesem [X.] ausdrücklich gestellten Anträge.

7

4. Mit angegriffenem Beschluss vom 21. Oktober 2016 verwarf das [X.] "die Beschwerde" als unzulässig. Im Sachbericht seiner Entscheidung referiert das [X.] das Begehren aus dem [X.] vom 10. Oktober 2016 dahingehend, dass sich der Beschwerdeführer "unter Antragstellung" gegen den Haftanordnungsbeschluss gewandt habe. Dabei habe er ausgeführt, dass nach Akteneinsicht die Beschwerde begründet werde. Zur Begründung führt das [X.] aus, dass es sich bei dem [X.] vom 10. Oktober 2016 um eine Beschwerde handele. Dies ergebe sich aus der Formulierung im Antrag, wo es heiße, "… festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen …" und insbesondere aus der Formulierung, dass nach Akteneinsicht die Beschwerde begründet werde. Die Beschwerde sei verfristet.

8

Der Entscheidung des [X.]s ist eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Darin heißt es, die Entscheidung könne mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden.

9

Nach dieser Beschlussfassung leitete das [X.] die Akte dem Amtsgericht zu. Das Amtsgericht möge über den durch den [X.] vom 20. Oktober 2016 gesondert gestellten [X.] entscheiden. Das Amtsgericht traf eine gesonderte Entscheidung über den [X.] indessen nicht. Es ging davon aus, das Verfahren sei durch die Beschwerdeentscheidung des [X.]s insgesamt abgeschlossen.

5. Die gegen die landgerichtliche Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde wies der [X.] mit angegriffenem Beschluss vom 16. März 2017, zugestellt am 11. April 2017, zurück. Die Rechtsbeschwerde sei nach § 70 Abs. 4 FamFG nicht statthaft. Allerdings beanstande der Beschwerdeführer zu Recht, dass das [X.] von einer Beschwerde gegen die Haftanordnung des Amtsgerichts ausgegangen sei. Der [X.] vom 10. Oktober 2016 enthalte "eindeutig (nur) einen Antrag auf Aufhebung der Haft".

Mit der am 25. April 2017 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG. Die Grundrechtsverletzungen beruhten darauf, dass das Amts- und das [X.] den "unstreitig" gestellten [X.] nicht als solchen behandelt hätten. Außerdem habe der [X.] die Rechtsbeschwerde zu Unrecht als unstatthaft angesehen. Ein Fall des § 70 Abs. 4 FamFG habe hier "schon vom Wortlaut her" nicht vorgelegen.

Der Beschwerdeführer beantragt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für den Fall, dass es für die Berechnung der Verfassungsbeschwerdefrist auf die Zustellung der Entscheidung des [X.]s ankommen sollte. Der landgerichtlichen Entscheidung sei eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt gewesen, wonach gegen diese Entscheidung die Rechtsbeschwerde statthaft sei.

Die Akten des Ausgangsverfahrenshaben dem [X.] vorgelegen. Die [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen.

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des [X.] vom 19. Oktober 2016 und des [X.]s Frankfurt am Main vom 21. Oktober 2016 richtet. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist insoweit zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind vom [X.] bereits entschieden und die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des [X.] vom 19. Oktober 2016 und des [X.]s Frankfurt am Main vom 21. Oktober 2016 richtet.

a) Die Verfassungsbeschwerde wahrt zwar die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde nach § 93 Abs. 1 Satz 1 [X.] nicht (unter aa)). Dem Beschwerdeführer ist jedoch auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (unter bb)).

aa) Nach § 93 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist eine Verfassungsbeschwerde binnen eines Monats zu erheben und zu begründen. Nach Satz 2 beginnt die Frist mit der Zustellung oder formlosen Mitteilung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung, wenn diese nach den maßgebenden verfahrensrechtlichen Vorschriften von Amts wegen vorzunehmen ist. Dabei hält die Einlegung eines offensichtlich unstatthaften Rechtsmittels die Verfassungsbeschwerdefrist nicht offen (vgl. [X.] 48, 341 <344>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 29. September 2020 - 2 BvR 412/20 -, juris, Rn. 2).

Hier wäre die Verfassungsbeschwerde nur dann fristgerecht erhoben worden, wenn es für die Fristberechnung auf die Zustellung der Entscheidung des [X.]s über die Rechtsbeschwerde ankäme. Die Rechtsbeschwerde war jedoch offensichtlich unstatthaft. Seine dahingehende Entscheidung hat der [X.] mit einem Verweis auf die Vorschrift des § 70 Abs. 4 FamFG begründet. Dieser unmittelbar nachvollziehbaren Rechtsauffassung des [X.]s ist auch der Beschwerdeführer nicht substantiiert entgegengetreten.

bb) Dem Beschwerdeführer ist auf seinen Antrag hin jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach § 93 Abs. 2 Satz 1 [X.] ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dann zu gewähren, wenn ein Beschwerdeführer ohne Verschulden verhindert war, die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde einzuhalten. Der Antrag ist nach § 93 Abs. 2 Satz 2, 3 [X.] binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen, wobei die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung glaubhaft zu machen sind. Anerkannt ist dabei, dass eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung ein fehlendes Verschulden an der Fristwahrung begründen und damit die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebieten kann (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. Februar 2013 - 1 BvR 639/12 -, juris, Rn. 10 ff., insbesondere Rn. 12 f.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. September 2017 - 1 BvR 1719/17 -, juris, Rn. 2; vgl. auch [X.] in: [X.]/[X.]/[X.], [X.], 1. Aufl. 2015, § 93 Rn. 46; [X.], in: [X.], [X.], 2018, § 93 Rn. 89).

Danach liegen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor. Das [X.] hat seine Entscheidung mit einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung versehen, wonach die Rechtsbeschwerde gegen seine Entscheidung statthaft sei. Damit trifft den Beschwerdeführer an der Fristversäumung kein Verschulden, denn er durfte jedenfalls im vorliegenden Fall auf die Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen und sein weiteres Prozessverhalten daran ausrichten. Weil das Amts- und das [X.] sein [X.] unzutreffend aufgefasst hatten, war die Rechtslage hinsichtlich der Statthaftigkeit eines weiteren Rechtsmittels nicht vollständig klar. Die Erhebung der Rechtsbeschwerde zum [X.] entsprach der Rechtsbehelfsbelehrung. Nachdem der Beschwerdeführer durch die Zustellung der Entscheidung des [X.]s am 11. April 2017 Kenntnis von der Unstatthaftigkeit der Rechtsbeschwerde erlangt hatte, hat er mit Erhebung der Verfassungsbeschwerde, die am 25. April 2017 eingegangen ist, einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Damit hat er die [X.] des § 93 Abs. 2 Satz 2 [X.] gewahrt. Der Antrag genügt auch den Begründungsanforderungen, denn er hat auf die unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung hingewiesen und die Entscheidung des [X.]s mit dem Wiedereinsetzungsantrag übermittelt.

b) Der Beschwerdeführer verfügt über das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Zwar hat der [X.] ausgeführt, dass das [X.] des Beschwerdeführers vom Amts- und [X.] als [X.] hätte behandelt werden müssen. [X.] waren jedoch alleine die Ausführungen zur fehlenden Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 4 FamFG. Zu einer Aufhebung der Entscheidungen des Amts- und des [X.]s und damit zu einer dem [X.] entsprechenden Sachentscheidung kam es gerade nicht.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen des Amts- und [X.]s verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. [X.] 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Danach besteht nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern der Bürger hat einen Anspruch auf tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. [X.] 37, 150 <153>; stRspr.). Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf - vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken - nicht ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. [X.] 10, 264 <268>; 30, 1 <23 ff.>; 44, 302 <305>; 143, 216 <225 f. Rn. 21>). Auf die Gewährleistung eines dermaßen wirkungsvollen Rechtsschutzes hat der Einzelne einen verfassungsmäßigen Anspruch (vgl. [X.] 60, 253 <269>; 77, 275 <284>; 143, 216 <225 f. Rn. 21>; 149, 346 <363 Rn. 34>).

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebietet daher den Gerichten, das Verfahrensrecht so anzuwenden, dass den erkennbaren Interessen des rechtssuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung getragen wird. Legt ein Gericht den Verfahrensgegenstand in einer Weise fest, die das vom Antragsteller erkennbar verfolgte [X.] ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt, und verstellt es sich dadurch die - an sich gebotene - Sachprüfung des erhobenen Begehrens, so liegt darin eine sachlich nicht nachvollziehbare Rechtswegverkürzung, die den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Grundsätzlichen missachtet (vgl. [X.]K 10, 509 <513>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 19. Februar 1997 - 2 BvR 2989/95 -, juris, Rn. 13; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, juris, Rn. 13; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 5. Juli 2005 - 2 BvR 497/03 -, juris, Rn. 55; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 18. Juni 2007 - 2 BvR 2395/06 -, juris, Rn. 15; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Juli 2007 - 2 BvR 2282/06 -, juris, Rn. 4; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Juli 2008 - 2 BvR 31/06 -, juris, Rn. 25; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 19. Januar 2017 - 2 BvR 476/16 -, juris, Rn. 12; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. Januar 2021 - 1 BvR 2671/20 -, juris, Rn. 23; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. August 2021 - 2 BvR 2000/20 -, juris, Rn. 24; s. auch [X.] 96, 44 <50>; [X.], Beschluss vom 6. Februar 2020 - 2 BvR 1719/19 -, juris, Rn. 21 ["Sachdienliche Auslegung von Anträgen"]).

b) Diesen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Dass das Amts- und das [X.] das an sie herangetragene [X.] als - verfristete - Beschwerde und nicht als [X.] verstanden haben, war sachlich nicht mehr vertretbar. Der Beschwerdeführer hat bereits seinen Antrag vom 10. Oktober 2016 dahingehend formuliert, dass er begehre, den Haftanordnungsbeschluss "aufzuheben".

Das Amtsgericht ist auf den Wortlaut des Antrags nicht eingegangen und hat ohne weitere Begründung eine Nichtabhilfeentscheidung über eine "Beschwerde" getroffen. Obwohl es auf den Ablauf der Beschwerdefrist hinweist, berücksichtigt das Amtsgericht auch diesen Umstand bei der Auslegung des [X.]s nicht. Sachdienlich und rechtsschutzfreundlich wäre mit Blick auf die Unzulässigkeit der Beschwerde eine Auslegung des Begehrens als [X.] gewesen.

Das [X.] hat bereits im Sachbericht seiner Entscheidung den Inhalt des [X.]es vom 10. Oktober 2016 in einer Weise referiert, die das erkennbar verfolgte [X.] - die Entscheidung über einen [X.] - verschleiert. So spricht das [X.] einerseits nur knapp von der "Antragstellung", obwohl hier gerade der Wortlaut des Antrags maßgeblich für das Verständnis des [X.]s war. Andererseits wiederholt es wörtlich das Bemerken aus dem [X.], wonach die Beschwerde nach Akteneinsicht begründet werde.

Seine Entscheidung begründet das [X.] sodann, ohne den vollständigen Wortlaut der gestellten Anträge zu würdigen. Vielmehr geht es auf den Wortlaut nur insoweit ein, als er das von ihm angenommene Verständnis der Anträge stützt. So verweist das [X.] zwar zutreffend darauf, dass der Beschwerdeführer formuliert habe, er begehre festzustellen, dass "der angefochtene Beschluss" den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt habe. Es verhält sich aber nicht dazu, dass der Antrag vollständig lautet, man begehre "festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen seit Stellung des [X.] in seinen Rechten verletzt hat" (Hervorhebung nur hier). Außerdem verweist das [X.] darauf, dass der Beschwerdeführer formuliert habe, die Beschwerde werde nach Akteneinsicht begründet. Es geht aber nicht auf den Hauptantrag ein, in dem von einer Beschwerde nicht die Rede ist, sondern in dem es vielmehr heißt, es werde begehrt, den Haftanordnungsbeschluss "aufzuheben". Bei einer Gesamtbetrachtung des [X.]es hätte sich der Schluss aufdrängen müssen, dass es sich bei dem Bemerken, die Beschwerde werde nach Akteneinsicht begründet, lediglich um einen marginalen und offensichtlich als solchen erkennbaren Formulierungsfehler gehandelt hat.

Darüber hinaus geht das [X.] nicht auf den Schriftverkehr ein, der nach der hier angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts stattgefunden hat. Darin hat der Beschwerdeführer sein Rechtsschutzanliegen unmissverständlichformuliert. Er hat in zwei Schriftsätzen ausdrücklich zwischen der Beschwerde einerseits und dem [X.] andererseits unterschieden und klargestellt, dass er einen [X.] gestellt habe. Sofern dem [X.] vom 10. Oktober 2016 ein eindeutiges [X.] noch nicht entnehmbar gewesen sein sollte, war das [X.] jedenfalls durch den Schriftverkehr, der vor der landgerichtlichen Entscheidung stattgefunden hat, zweifelsfrei klargestellt.

Die Verfassungsverletzung, die sich aus der angegriffenen Entscheidung des [X.]s ergibt, entfällt auch nicht dadurch, dass das [X.] die Akte nach seiner Entscheidung dem Amtsgericht zugeleitet hat, um eine Entscheidung über den vermeintlich erst durch den [X.] vom 20. Oktober 2016 gesondert gestellten [X.] herbeizuführen. Eine Sachentscheidung über den ursprünglichen Antrag vom 10. Oktober 2016 sowie über die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft ab diesem Zeitpunkt war nach dem Verständnis des [X.]s auf diesem Weg nicht zu erreichen. Dass eine Entscheidung des Amtsgerichts nach der Aktenübersendung durch das [X.] nicht ergangen ist, begründet demzufolge keine weitere Beschwer.

3. Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf dem Verstoß gegen Art. 19 Abs.4 Satz 1 GG (vgl. zu diesem Erfordernis [X.] 86, 133 <143>; 131, 66 <85>). Das Amts- und das [X.] haben das vom Beschwerdeführer geäußerte [X.] in verfassungswidriger Weise behandelt. Gerade deswegen haben sie den [X.] nicht beschieden. Es ist daher keine Entscheidung darüber ergangen, ob zum Zeitpunkt der Antragstellung die [X.] noch vorlagen.

4. Ob der Beschwerdeführer zugleich in dem Grundrecht beziehungsweise dem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt ist, bedarf keiner Entscheidung.

Die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 19. Oktober 2016 und des [X.]s vom 21. Oktober 2016 sind aufzuheben. Die Sache ist an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen(§ [X.]. 2, § 95 Abs. 2 [X.]). Durch die Zurückverweisung haben die Fachgerichte Gelegenheit dazu, sich in der Sache mit dem [X.] des Beschwerdeführers - nunmehr in Gestalt des Feststellungsantrags - zu befassen. Mit der Zurückverweisung wird die angegriffene Entscheidung des [X.]s gegenstandslos.

Die Entscheidung über die Erstattung von Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 955/17

22.09.2021

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BGH, 16. März 2017, Az: V ZB 147/16, Beschluss

Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93 Abs 1 S 1 BVerfGG, § 93 Abs 2 S 1 BVerfGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 22.09.2021, Az. 2 BvR 955/17 (REWIS RS 2021, 2476)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 2476

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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