Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.09.2022, Az. VI ZR 68/21

6. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 6515

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

BREXIT LUGANOER ÜBEREINKOMMEN SICHERHEIT

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Einrede der mangelnden Prozesskostensicherheit: Zulässigkeit in einer höheren Instanz; Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit für Kläger mit gewöhnlichem Aufenthalt im Vereinigten Königreich und in der Schweiz


Leitsatz

1. In einer höheren Instanz ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist.

2. Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955.

3. Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit Art. 32, 38 ff. des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007.

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Anordnung einer durch den Kläger zu erbringenden Prozesskostensicherheit wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

1

Der Kläger, der jedenfalls bis Ende des Jahres 2020 im [X.] (im Folgenden: [X.]) lebte, nimmt die Beklagten auf Schadensersatz im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Zeitungsartikels in Anspruch. Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat die Berufung des [X.] durch Beschluss vom 3. Februar 2021 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.].

2

Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde haben die Beklagten vor dem Hintergrund, dass das [X.] seit dem 1. Januar 2021 nicht mehr als Mitglied der [X.] zu behandeln ist, die Anordnung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 1 ZPO für die Kosten aller Instanzen beantragt. Der Kläger rügt den Antrag als verspätet. Er macht darüber hinaus geltend, gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung befreit zu sein, da er seinen Wohnsitz zum 1. Januar 2021 in die [X.] verlegt habe.

II.

3

Dem Antrag der Beklagten bleibt der Erfolg versagt. Er war durch Beschluss zurückzuweisen (vgl. [X.], Beschluss vom 7. April 2011 - [X.], juris; zum Antrag auf Anordnung einer ergänzenden Prozesskostensicherheit gem. § 112 Abs. 3 ZPO: [X.], Beschlüsse vom 23. Juli 2020 - [X.], juris Rn. 3 und vom 23. Oktober 2018 - [X.], [X.], 2242 Rn. 5).

4

1. Das erstmals im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachte Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit ist verspätet (§ 565 Satz 1, § 532 Satz 2 ZPO).

5

a) [X.] gehört zu den die Zulässigkeit der Klage betreffenden verzichtbaren [X.], die grundsätzlich vor der ersten Verhandlung zur Hauptsache, und zwar für alle Rechtszüge, erhoben werden muss (§ 532 Satz 2, § 282 Abs. 3 ZPO; [X.], Beschlüsse vom 23. September 2021 - [X.], [X.], 2295 Rn. 19; vom 1. März 2021 - [X.], juris Rn. 9; vom 19. Juli 2007 - [X.], juris Rn. 9; Urteil vom 15. Mai 2001 - [X.], NJW 2001, 3630, juris Rn. 7). Gemäß § 111 ZPO kann der Beklagte allerdings auch dann wegen der Prozesskosten Sicherheit verlangen, wenn die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung erst im Laufe des Rechtsstreits eintreten und nicht ein zur Deckung ausreichender Teil des erhobenen Anspruchs unbestritten ist. Da über die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung nur einmal und nicht in jeder Instanz erneut entschieden werden soll, ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung in einer höheren Instanz nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 23. September 2021 - [X.], [X.], 2295 Rn. 19; vom 1. März 2021 - [X.], juris Rn. 9; vom 19. Juli 2007 - [X.] Rn. 9; Urteil vom 15. Mai 2001 - [X.], NJW 2001, 3630, juris Rn. 7).

6

b) Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

7

aa) Wie die Beklagten nicht in Zweifel ziehen, trat der Umstand, auf den sie ihr Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit stützen, bereits in der Berufungsinstanz ein. Die Übergangszeit nach Art. 126 des Abkommens über den Austritt des [X.] aus der [X.] und der [X.] vom 24. Januar 2020 ([X.]. 2020, L 29 vom 31. Januar 2020, [X.] ff. - im Folgenden: Austrittsabkommen), während derer das [X.] nach seinem Austritt aus der [X.] gemäß § 1 [X.] noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist am 31. Dezember 2020 abgelaufen. Das Berufungsverfahren ist aber erst mit Erlass des Beschlusses des Berufungsgerichts vom 3. Februar 2021 abgeschlossen worden. Bis zum Erlass dieses Beschlusses eingehende Schriftsätze hätte das Berufungsgericht zur Kenntnis nehmen und seinen Inhalt angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung sowie der Bestimmung in § 111 ZPO berücksichtigen müssen (vgl. [X.], Urteil vom 16. September 2016 - [X.], [X.], 74 Rn. 12 f.). Dem steht nicht entgegen, dass im Zeitpunkt des Ablaufs der Übergangszeit keine den Beklagten gesetzte Frist lief und im Berufungsverfahren nicht mündlich verhandelt worden ist. Maßgeblich ist allein, dass der behauptete Zulässigkeitsmangel bereits in der Berufungsinstanz bestand (vgl. [X.] in [X.], 6. Aufl. 2020, § 532 Rn. 13; [X.] in [X.], ZPO, 23. Aufl. 2018, § 532 Rn. 3).

8

bb) Die Beklagten haben auch keine Entschuldigungsgründe für die Versäumung des Antrags im Berufungsverfahren vorgebracht. Dass der Antrag nur mit einer "geringfügigen" Verzögerung von weniger als vier Monaten gestellt worden ist, ist - anders als die Beklagten meinen - ohne Bedeutung. Entscheidend ist, dass er nicht - wie geboten - in der Berufungsinstanz, sondern erst in der Revisionsinstanz gestellt worden ist.

9

2. Abgesehen davon liegen die Voraussetzungen des § 110 ZPO für die Anordnung einer Prozesskostensicherheit nicht vor; dies gilt unabhängig von der Frage, ob der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im [X.] (dazu nachstehend a) oder, wie von ihm geltend gemacht, mittlerweile in der [X.] (dazu nachstehend b) hat.

a) Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im [X.], sind die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO zwar erfüllt. Denn das [X.] ist am 31. Januar 2020 aus der [X.] ausgetreten; die Übergangszeit nach Art. 126 des [X.], innerhalb derer das [X.] nach § 1 [X.] noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist abgelaufen.

Der Kläger ist in diesem Fall aber gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 des [X.] vom 13. Dezember 1955 ([X.] II 1959 S. 998), das für das [X.] am 14. Oktober 1969 in [X.] getreten ist ([X.] II 1970 S. 843), von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit (vgl. Schütze in [X.]/Schütze, ZPO, § 110 Rn. 48, 54; [X.] [X.] 1990, 753 zu § 110 ZPO in der bis zum 30. September 1998 geltenden Fassung vom 1. Januar 1964). Das Abkommen gilt für alle natürlichen Personen, die die Staatsangehörigkeit eines der Vertragsstaaten besitzen (Art. 30 Abs. 1 iVm Art. 9 Abs. 1 des [X.]). Da die Befreiung von der Pflicht zur Sicherheitsleistung in § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO - anders als in der bis zum 30. September 1998 geltenden Fassung - nicht von der Verbürgung der Gegenseitigkeit abhängig ist (vgl. dazu [X.], Urteil vom 13. Dezember 2000 - [X.], NJW 2001, 1219, juris Rn. 7), wirkt sich der von der Regierung des [X.]s zu Art. 9 des Abkommens erklärte Vorbehalt, die Absätze 1 und 2 so anzuwenden, als seien die Worte "oder keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland" im Absatz 1 nicht enthalten (vgl. [X.] II 1970 S. 843), nicht aus (vgl. [X.], Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020, S. 1437, 1442 [(Anhang: Hinweise zur Befreiung von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für die Prozesskosten (§ 110 II Nr. 1 und 2 ZPO) und zur Verbürgung der Gegenseitigkeit (§ 328 I Nr. 5 ZPO bzw. § 109 IV FamFG)]).

b) Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der [X.], gilt im Ergebnis nichts Anderes. Dann sind zwar die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO ebenfalls erfüllt, da es sich bei der [X.] weder um einen Mitgliedstaat der [X.] noch um einen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum handelt.

Der Kläger ist in diesem Fall aber gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit. Die Entscheidung über die Erstattung der Prozesskosten der Beklagten würde, wie in dieser Bestimmung vorausgesetzt, auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrags - des [X.] Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 ([X.], [X.] L 147 vom 10. Juni 2009 S. 5, [X.]. L 138 vom 26. Mai 2011 S. 1) - in der [X.] vollstreckt. Dieses Übereinkommen sichert auch die Wirkungserstreckung von Kostentiteln; gemäß Artikel 32 [X.] ist unter "Entscheidung" im Sinne des Übereinkommens, die nach dessen Art. 38 ff. zu vollstrecken ist, auch der Kostenfestsetzungsbeschluss eines Gerichtsbediensteten zu verstehen (vgl. [X.] in Nagel/[X.], Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020, Ausländer als Verfahrensbeteiligte, Rn. 5.97, 5.115 sowie [X.], Urteil vom 13. Dezember 2000 - [X.], NJW 2001, 1219, juris Rn. 13; Schütze, [X.] 1999, 10, 14; jeweils zum [X.] Übereinkommen vom 16. September 1988).

[X.]    

        

von Pentz    

        

Oehler

        

Klein    

        

Böhm    

        

Meta

VI ZR 68/21

27.09.2022

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Nürnberg, 3. Februar 2021, Az: 3 U 2445/18, Beschluss

§ 110 Abs 2 Nr 1 ZPO, § 110 Abs 2 Nr 2 ZPO, § 532 S 2 ZPO, § 565 S 1 ZPO, Art 9 Abs 1 EuNiederlAbk vom 13.12.1955, Art 32 VollstrZustÜbk 2007, Art 38 VollstrZustÜbk 2007, Art 38ff VollstrZustÜbk 2007

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.09.2022, Az. VI ZR 68/21 (REWIS RS 2022, 6515)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 6515 MDR 2023, 126-127 REWIS RS 2022, 6515


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 3 U 2445/18

OLG Nürnberg, 3 U 2445/18, 03.02.2021.


Az. VI ZR 68/21

Bundesgerichtshof, VI ZR 68/21, 16.01.2023.

Bundesgerichtshof, VI ZR 68/21, 27.09.2022.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

IX ZR 143/22 (Bundesgerichtshof)

Verpflichtung einer Prozesspartei zur Leistung einer Prozesskostensicherheit; Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens vor Ablauf der Übergangsfrist …


X ZR 54/19 (Bundesgerichtshof)

Zivilprozess: Antrag auf Prozesskostensicherheit in der Berufungsinstanz gegen eine Klagepartei aus dem Vereinigten Königreich nach …


I ZB 33/22 (Bundesgerichtshof)

Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit bei Widerklagen


I ZB 21/21 (Bundesgerichtshof)

Verfahren auf Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs: Pflicht zur Leistung einer Prozesskostensicherheit bei Gegenantrag auf Aufhebung des …


10 O 27/20 (Landgericht Dortmund)


Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.