Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.02.2016, Az. B 6 KA 50/15 B

6. Senat | REWIS RS 2016, 16122

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Gegenstand

Vertragsärztliche Versorgung - Kassenärztliche Vereinigung - Plausibilitätsprüfung - Vergleich mit hypothetischer Gemeinschaftspraxis - Berechnungsweise für die sachlich-rechnerische Richtigstellung - sozialgerichtliches Verfahren - Urteil - Entscheidungsgründe


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 25. März 2015 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 24 959 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Im Streit steht eine sachlich-rechnerische Richtigstellung.

2

Der Kläger ist Facharzt für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Gastroenterologie. Von 1986 bis Ende 2006 war er zur vertragsärztlichen Versorgung in [X.] zugelassen. Seit Juli 1993 bildete der Kläger eine Praxisgemeinschaft mit dem Facharzt für Allgemeinmedizin L., der zuvor seit 1990 als Praxisassistent in der Praxis des [X.] angestellt war. Ab dem 1.1.2005 führte der Kläger seine Praxis als Gemeinschaftspraxis mit [X.] Mit Bescheid vom [X.] idF vom [X.] hob die beklagte [X.] ([X.]) nach Durchführung einer Plausibilitätsprüfung die Honorarbescheide des [X.] für die [X.]/2003 bis IV/2004 auf, stellte die Honoraranforderung sachlich-rechnerisch richtig und kürzte das Honorar um insgesamt 24 670,04 Euro; mit weiterem Bescheid vom [X.] (idF vom [X.]) hob die Beklagte auch den Honorarbescheid für das Quartal I/2005 auf und kürzte das Honorar um 289,12 Euro. Die [X.] berechnete sie, indem sie die Zahl der Patienten, die den von ihr bestimmten Grenzwert von 60 % identischer Patienten überschritten, mit dem jeweiligen Fallwert multiplizierte. Die hiergegen erhobenen Widersprüche wies die Beklagte mit [X.] vom [X.] zurück. Klage und Berufung des [X.] sind erfolglos geblieben (Urteil des [X.], Urteil des [X.] vom 25.3.2015).

3

Das [X.] hat unter Bezugnahme auf das Urteil des [X.] ausgeführt, das gemeinsame Patientenaufkommen habe in den streitigen sieben Quartalen zwischen 61,2 % und 85 % - im Durchschnitt 72,2 % - betragen. Bei dieser Größenordnung dauerhaft gemeinsamer Patienten habe die Praxisgemeinschaft das Gepräge einer Gemeinschaftspraxis gehabt. Die Koordinierung des Patientenaufkommens zeige sich schon in dem Einlesen der Chipkarten der Patienten beim ersten Besuch der Ärzte im Quartal in beide [X.]. Die Doppelbehandlungen seien für eine Praxisgemeinschaft überwiegend nicht plausibel begründet. Die [X.] setze kein Verschulden voraus, da kein Fall vorliege, in dem die [X.] allein wegen der Unrichtigkeit der Abrechnungssammelerklärung aufgehoben würden. Ob das Honorar sogar höher gewesen wäre, wenn die Ärzte eine Gemeinschaftspraxis geführt hätten, sei unbeachtlich.

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Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil macht der Kläger Rechtsprechungsabweichungen ([X.] gemäß § 160 Abs 2 [X.] [X.]G) sowie Verfahrensmängel ([X.] gemäß § 160 Abs 2 [X.] [X.]G) geltend.

5

II. Die Beschwerde des [X.] hat keinen Erfolg.

6

1. Soweit der Kläger Rechtsprechungsabweichungen geltend macht, ist die Rüge unbegründet, weil das [X.] nicht vom Urteil des B[X.] vom [X.] ([X.] KA 76/04 R - B[X.]E 96, 99 = [X.]-5520 § 33 [X.]) abgewichen ist. Zwar ist zutreffend, dass nach dem zweiten Leitsatz des genannten Urteils Ärzten im Falle des [X.] nicht mehr Honorar zustehen soll, als wenn sie in einer Gemeinschaftspraxis tätig geworden wären. Dies ist aber nicht im Sinne einer Obergrenze für die sachlich-rechnerische Richtigstellung zu verstehen (vgl auch [X.] Marburg Urteil vom [X.] - S 12 KA 634/12 - Rd[X.]4 - Juris). Zum einen hat der [X.] die Aussage in den Entscheidungsgründen selbst (aaO Rd[X.]2) durch die Wendung "jedenfalls" relativiert ("steht ihnen jedenfalls nicht mehr an Honorar zu"), zum anderen an anderer Stelle der Entscheidung - als Obersatz - darauf hingewiesen, dass der "auf der pflichtwidrigen Verhaltensweise beruhende Honoraranteil" sachlich-rechnerisch richtiggestellt werden darf (aaO Rd[X.]2). Der Vergleich mit einer hypothetischen Gemeinschaftspraxis stellt damit eine mögliche, aber keine zwingende Berechnungsweise für die sachlich-rechnerische Richtigstellung dar (in diesem Sinne auch B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] [X.]/12 B - Rd[X.] - Juris: "ausgeführt, dass … auf die Abrechnungsregelungen für die Gemeinschaftspraxis zurückgegriffen werden kann").

7

Im Übrigen hat der [X.] in einer späteren Entscheidung, der ein Fall einer vorgetäuschten Gemeinschaftspraxis zugrunde lag, eine Verpflichtung des Arztes zur vollständigen Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Honorare gebilligt und betont, diese Rechtsfolge sei unvermeidlich, um die Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung zu erhalten (B[X.]E 106, 222 = [X.]-5520 § 32 [X.], Rd[X.]6 f). Ebenso hat der [X.] dort die [X.] als berechtigt angesehen, das verbleibende Honorar im Wege der Schätzung zu ermitteln (B[X.] aaO Rd[X.]9-70). Dieser Schätzung muss nicht zwingend ein Vergleich mit einer hypothetischen Gemeinschaftspraxis zugrunde liegen. Dem steht schon entgegen, dass bei einem Missbrauch der Gestaltungsform "Praxisgemeinschaft" nicht allein die für Gemeinschaftspraxen bzw [X.] geltenden Regelungen umgangen werden, sondern mit ihm oftmals auch eine nicht medizinisch begründete Fallzahlvermehrung einhergeht; vorliegend wird dies etwa durch den Umstand belegt, dass die Chipkarten der Patienten regelhaft in beiden Praxen eingelesen werden. Die Verpflichtung zur vollständigen Erstattung des zu Unrecht [X.] besteht selbst dann, wenn bei Wahl der rechtmäßigen Gestaltungsform der Honoraranspruch ebenso hoch gewesen wäre (B[X.] aaO Rd[X.]7; [X.] Marburg aaO).

8

2. Erfolglos bleibt auch die Rüge, das [X.] habe verfahrensfehlerhaft entschieden. Die gerügten Verfahrensmängel liegen nicht vor.

9

a. Soweit der Kläger eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 2 iVm § 136 Abs 1 [X.] [X.]G rügt, weil das [X.] nicht alle Gründe im Urteil angegeben habe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen seien, ist seine Beschwerde jedenfalls unbegründet. § 128 Abs 1 Satz 2 [X.]G konkretisiert die Vorschrift des § 136 Abs 1 [X.] [X.]G und regelt den Umfang des in der Entscheidung zu erörternden Streitstoffs (vgl hierzu B[X.] Beschluss vom 5.4.2006 - B 12 KR 9/05 B - Juris). Dabei hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, inwieweit ein Gericht seine Rechtsauffassung in den einzelnen Abschnitten seiner Entscheidung begründen muss (vgl B[X.] Beschluss vom [X.] - B 7 [X.] 189/07 B -; B[X.] Beschluss vom 26.5.2011 - [X.] [X.] 145/10 B - Juris Rd[X.]). Eine Verpflichtung des Tatsachengerichts, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, besteht nicht. Das Gericht muss alle wesentlichen Fragen abhandeln, dabei aber nicht notwendig auf alle Einzelheiten eingehen, sondern nur die Leitgedanken wiedergeben ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 128 Rd[X.]6).

Nach diesen Maßstäben ist die Rüge des [X.] unbegründet. Soweit der Kläger rügt, die Urteilsgründe verhielten sich nicht zur Einhaltung der vierjährigen Ausschlussfrist, geht dieser Einwand ins Leere. Im Gerichtsverfahren war (bislang) zu Recht nicht problematisiert worden, dass die Beklagte die Ausschlussfrist eingehalten hat, weil diese Frist - entgegen der Auffassung des [X.] - nicht mit Ablauf des geprüften Quartals, sondern mit dem Tag der Bekanntgabe des entsprechenden Honorarbescheides beginnt (stRspr des [X.]s, vgl B[X.]E 98, 169 = [X.]-2500 § 85 [X.]5, Rd[X.]7, 18; B[X.] [X.]-2500 § 106 [X.]9 Rd[X.]0; B[X.] [X.]-2500 § 106a [X.] Rd[X.]3); der Honorarbescheid für das Quartal III/2003 wurde am 16.3.2004 versandt. Nichts anderes gilt für die Rüge, das [X.] habe in den Entscheidungsgründen den Umstand nicht gewürdigt, dass er - der Kläger - nicht mehr an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehme, denn dieser Umstand steht sachlich-rechnerischen Richtigstellungen nicht entgegen (vgl B[X.] [X.]-5540 § 48 [X.] Rd[X.]7).

Zu dem vom Kläger geltend gemachten Vertrauensschutz unter dem Gesichtspunkt einer "Duldung" des [X.] durch die Beklagte hat das Berufungsgericht in den Entscheidungsgründen Ausführungen gemacht. Da Vertrauensschutz eine wissentliche Duldung unberechtigter Leistungserbringung und deren Vergütung über längere [X.] voraussetzte und eine länger andauernde Verwaltungspraxis allein nicht ausreichend ist (siehe B[X.] [X.]-2500 § 106a [X.] Rd[X.]4), ist der Verweis des [X.] darauf, dass der Kläger selbst nicht behaupte, dass ihm die Beklagte freigestellt habe, seine Praxisgemeinschaft wie eine ungenehmigte Gemeinschaftspraxis zu führen, als Begründung ausreichend.

Die Urteilsgründe sind auch nicht deswegen widersprüchlich oder unverständlich, weil das [X.] - anders als das [X.] - nicht von einer Aufhebung der Abrechnungssammelerklärung ausgegangen ist und damit keine Prüfung des Verschuldens vorgenommen hat. Es wird ohne Weiteres erkennbar, dass das Berufungsgericht insoweit der Auffassung des [X.] nicht gefolgt ist. Das [X.] hat seine Schlussfolgerung auch nicht unzureichend begründet. Die Kläger rügt im [X.] insoweit nicht eine unzureichende Begründung des Urteils, sondern hält die Entscheidung des [X.] in der Sache für fehlerhaft; selbst wenn dessen Schlussfolgerung unzutreffend sein sollte, begründete dies jedoch keinen Verfahrensfehler. Der [X.] hat bereits in seinem grundlegenden Urteil vom [X.] darauf hingewiesen, dass die Rechtmäßigkeit sachlich-rechnerischer Richtigstellungen grundsätzlich kein Verschulden voraussetzt (B[X.]E 96, 99 = [X.]-5520 § 33 [X.], Rd[X.]8-29). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beklagte den gesamten Honorarbescheid für ein Quartal allein wegen der Unrichtigkeit der Abrechnungssammelerklärung aufhebt (siehe hierzu B[X.] SozR 3-5550 § 35 [X.]). Dass in Fällen eines [X.] ein solches Vorgehen erforderlich ist, hat der [X.] jedoch weder in seinem Urteil vom [X.] (siehe B[X.] aaO Rd[X.]8-29) noch in späteren Entscheidungen angenommen.

b. Angesichts des Umstandes, dass sich aus der Rechtsprechung des [X.]s kein Anhalt dafür ergibt, dass in Fällen der sachlich-rechnerischen Richtigstellung wegen eines [X.] die Grundsätze über die Fehlerhaftigkeit der Abrechnungssammelerklärung anzuwenden sind, liegt in der Entscheidung des [X.], diese Grundsätze nicht anzuwenden, auch keine Überraschungsentscheidung. Eine Überraschungsentscheidung liegt nur dann vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bislang nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht rechnen musste (B[X.] [X.]-2500 § 103 [X.] Rd[X.]7). Da - wie dargestellt - nach der Rechtsprechung des [X.]s kein Zusammenhang zwischen einer Richtigstellung infolge eines [X.] und einer unrichtigen Abrechnungssammelerklärung besteht, musste der Kläger damit rechnen, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung - entgegen dem [X.] - hierauf stützen könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 [X.]G iVm §§ 154 ff VwGO. Danach hat der Kläger auch die Kosten des von ihm ohne Erfolg durchgeführten Rechtsmittels zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO).

Die Festsetzung des Streitwerts entspricht der Festsetzung der Vorinstanz vom 25.3.2015, die von keinem der Beteiligten in Frage gestellt worden ist (§ 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 [X.]G iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG).

Meta

B 6 KA 50/15 B

17.02.2016

Bundessozialgericht 6. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KA

vorgehend SG Berlin, 23. November 2011, Az: S 79 KA 368/09, Urteil

§ 128 Abs 1 S 2 SGG, § 136 Abs 1 Nr 6 SGG, § 106a Abs 2 S 1 SGB 5

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.02.2016, Az. B 6 KA 50/15 B (REWIS RS 2016, 16122)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 16122

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