Bundessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2017, Az. B 8 SO 69/16 B

8. Senat | REWIS RS 2017, 11022

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des rechtlichen Gehörs - mündliche Verhandlung - Terminverlegungsantrag am Tag der mündlichen Verhandlung - Glaubhaftmachung einer Erkrankung


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 11. August 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind Leistungen nach dem [X.] - (SG[X.] XII).

2

Der 1961 geborene Kläger beantragte anlässlich der Ableistung einer Ersatzfreiheitsstrafe die Übernahme der Kosten zum Erhalt seiner Wohnung im Zuständigkeitsbereich des [X.]eklagten für den Zeitraum vom 1.10.2015 bis 15.3.2016. Dies lehnte der [X.]eklagte ab ([X.]escheid vom 21.10.2015; Widerspruchsbescheid vom [X.]). Die Klage ist in erster Instanz ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des [X.] vom 13.6.2016).

3

Im [X.]erufungsverfahren hat der [X.]erichterstatter, dem die [X.]erufung übertragen worden war ([X.]eschluss vom 13.7.2016), Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 11.8.2016 um 12.15 Uhr bestimmt. Die Anträge des [X.] auf [X.]ewilligung von Prozesskostenhilfe unter [X.]eiordnung eines Rechtsanwalts sowie auf Erstattung von Fahrtkosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung hat er abgelehnt ([X.]eschlüsse vom 2. und [X.]). Mit Schreiben vom [X.], beim [X.] ([X.]) per Telefax am 11.8.2016, 8.56 Uhr eingegangen und mit dem Hinweis "Sofort dem [X.] vorlegen" versehen, hat der Kläger mitgeteilt, dass er "hinsichtlich seiner akuten Erkrankung (massive Rückenprobleme) nicht zum heutigen Termin erscheinen werde". Ein ärztliches Attest werde zeitnah nachgereicht. Der "ständig fortlaufende Arzt", bei dem er in [X.]ehandlung sei, befinde sich derzeit im Urlaub; er müsse deshalb einen anderen Arzt aufsuchen. Es dürfe um Anberaumung eines Ersatztermins gebeten werden. Diesem Schreiben war die erste Seite eines [X.]escheids über die Feststellung eines Grades der [X.]ehinderung von 30 beigefügt. Um 11.01 Uhr desselben Tages übermittelte der Kläger sein Schreiben erneut per Telefax mit dem handschriftlichen Hinweis "Anlage ärztliches Attest". Aus dem beigefügten ärztlichen Attest vom 11.8.2016 ergibt sich, dass der Kläger in regelmäßiger ärztlicher [X.]ehandlung stehe und sich zu einer Untersuchung in der Praxis vorgestellt habe. Es werde ärztlicherseits bestätigt, dass er aus gesundheitlichen Gründen den heutigen Termin vor Gericht nicht wahrnehmen könne. Im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem der Kläger nicht erschienen ist, hat das Gericht ausweislich des Protokolls auf die vom Kläger zugesandten [X.] vom 11.8.2016 [X.]ezug genommen und die [X.]erufung zurückgewiesen (Urteil vom 11.8.2016). Zur [X.]egründung seiner Entscheidung hat es unter anderem ausgeführt, dass dem Antrag auf Verlegung des Termins nicht habe stattgegeben werden müssen.

4

Mit seiner [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger Verfahrensfehler geltend. Das [X.] habe gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, indem es seinen Antrag auf Terminverlegung nicht vor Verhandlungsbeginn beschieden habe. Das Gericht entscheide grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung. Diesem Grundsatz komme im [X.]erufungsverfahren besondere [X.]edeutung zu, wenn - wie vorliegend - erstinstanzlich ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden worden sei. Eine entsprechende Entscheidung sei möglich und zumutbar gewesen. Sie sei auch nicht entbehrlich gewesen, denn er - der Kläger - habe einen Antrag auf Terminsaufhebung ausdrücklich gestellt und hierfür gesundheitliche Gründe angegeben. Sofern das [X.] in der Urteilsbegründung darauf abgestellt habe, dass er seine Verhandlungsunfähigkeit bzw Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht habe, weil das von ihm vorgelegte Attest von einem Facharzt für Innere Medizin stamme, er aber wegen massiver Rückenprobleme nicht an der Verhandlung habe teilnehmen können, vermöge dies nicht zu überzeugen. Er habe einen Facharzt für Orthopädie nicht kurzfristig aufsuchen können. Die Verhandlungsunfähigkeit habe ihn zudem unvermittelt getroffen.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde, die sich nach entsprechender Prozesserklärung des [X.] nur noch gegen den beklagten [X.] richtet, ist zulässig; sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, § 62 Sozialgerichtsgesetz <[X.]>, Art 103 Grundgesetz ) den [X.]ezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.] iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]. Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] (<[X.]SG> vgl nur [X.]-1750 § 227 [X.] mwN; [X.] 3-1750 § 227 [X.] mwN; [X.]SG, Urteil vom 25.3.2003 - [X.] 7 [X.] 76/02 R) erübrigen sich bei diesem Verfahrensmangel regelmäßig Ausführungen dazu, welches inhaltliche Vorbringen im Einzelnen in Folge der Ablehnung des [X.] durch das [X.] verhindert worden ist, wenn ein Verfahrensbeteiligter gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Gründe, die ausnahmsweise die Ursächlichkeit des gerügten [X.] der Verletzung des rechtlichen Gehörs für das angefochtene Urteil ausschließen konnten (dazu [X.]SG [X.] 3-1500 § 160 [X.]3 S 56; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 11. Aufl 2014, § 160a Rd[X.]6d mwN), sind nicht ersichtlich.

6

Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das [X.] hat mit der Entscheidung über die [X.]erufung des [X.] im Termin zur mündlichen Verhandlung am 11.8.2016 dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (§ 62 1. Halbsatz [X.], Art 103 Abs 1 GG).

7

Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren [X.]eteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. [X.]estandteil des Anspruchs der [X.]eteiligten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs in der Form der mündlichen Verhandlung ist daher auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung. Über einen entsprechenden Antrag des verhinderten [X.]eteiligten hat der Vorsitzende (oder das Gericht) zu entscheiden (§ 202 [X.] iVm § 227 Abs 4 Zivilprozessordnung ). Ein ordnungsgemäß gestellter [X.] mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten [X.] begründet grundsätzlich eine Pflicht des Gerichts zur Terminverlegung ([X.]SG: Urteile vom 10.8.1995 - 11 [X.] - [X.] 3-1750 § 227 [X.]; vom [X.] - [X.] 6 [X.]/98 R - Rd[X.]6 und vom 12.2.2003 - [X.] 9 S[X.] 5/02 R - Rd[X.]1; [X.]eschlüsse vom 6.10.2010 - [X.] 12 KR 58/09 [X.] - Rd[X.] 7 und vom 24.10.2013 - [X.] [X.]/13 [X.] - Rd[X.] 8 ff). Entsprechende Anforderungen an die Verhaltensweise des Gerichts ergeben sich auch aus dem aus Art 2 Abs 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden allgemeinen Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl hierzu etwa [X.]SG, [X.]eschluss vom 6.10.2010 - [X.] 12 KR 58/09 [X.]; [X.]-1500 § 62 [X.] Rd[X.] 6).

8

Vorliegend stellt schon allein die Nichtbescheidung des [X.] bis zum [X.]eginn der mündlichen Verhandlung am 11.8.2016 um 12.15 Uhr eine Versagung des rechtlichen Gehörs dar, die das Verfahren in einem wesentlichen Punkt fehlerhaft macht (vgl [X.]SG, [X.]eschluss vom 6.10.2010 - [X.] 12 KR 58/09 [X.]). Über einen Terminverlegungsantrag muss auch dann noch vor [X.]eginn der mündlichen Verhandlung entschieden werden, wenn er erst am Tage der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingeht; anderes gilt nur dann, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls ausgeschlossen wäre, dass das Verlegungsgesuch den [X.] noch erreichte (vgl [X.]SG [X.] 3-1500 § 160 [X.]3 S 59; [X.]SG, [X.]eschluss vom 24.10.2013 - [X.] [X.]/13 [X.]). Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall. Der Antrag ist rechtzeitig - nämlich mehr als drei Stunden vor [X.]eginn der mündlichen Verhandlung - gestellt worden und war dem Gericht ausweislich des Sitzungsprotokolls auch tatsächlich bekannt. Zu dieser Zeit war seine [X.]escheidung noch möglich; der Kläger hätte über seinen dem Gericht bekannten Telefaxanschluss erreicht werden können.

9

Auch der Sache nach durfte das [X.] den Antrag auf Terminverlegung nicht übergehen. Die vom Kläger vorgebrachten Gründe waren in der konkreten Situation als erhebliche iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO anzusehen. Der Kläger hat schriftsätzlich vorgetragen, infolge eingetretener Erkrankung nicht am Termin teilnehmen zu können und überdies zum Ausdruck gebracht, dennoch an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen. Ebenfalls noch rechtzeitig (nämlich mehr als eine Stunde vor der mündlichen Verhandlung; vgl dazu nochmals [X.]SG, [X.]eschluss vom 24.10.2013 - [X.] [X.]/13 [X.]) hat er überdies von sich aus ein ärztliches Attest mit der [X.]escheinigung fehlender Fähigkeit zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nachgereicht. Sein Vortrag, aufgrund seiner Erkrankung nicht zum Termin erscheinen zu können, ist damit insgesamt als schlüssig anzusehen. Dies gilt umso mehr, als eine Erkrankung als Verlegungsgrund nicht schon bei Antragstellung zwingend durch Attest glaubhaft zu machen ist; nach § 202 [X.] iVm § 227 Abs 2 ZPO hat dies erst auf Verlangen des Vorsitzenden zu erfolgen (vgl [X.]SG, [X.]eschluss vom 7.7.2011 - [X.] 14 [X.]/11 [X.] - Rd[X.] 8). Dass die vom Kläger vorgetragene Erkrankung auch eine chronische ist, schließt die vorgetragene akute Einschränkung nicht aus.

Strengere Voraussetzungen bei der Prüfung kurzfristig gestellter Terminverlegungsgesuche hat die höchstrichterliche Rechtsprechung stets auf die Fälle beschränkt, in denen der Kläger anwaltlich vertreten war (so auch im vom [X.] zitierten [X.]eschluss des [X.]SG vom 27.5.2014 - [X.] 4 [X.]/13 [X.]). Ist dies nicht der Fall, ist das Gericht auch bei kurzfristig gestellten Anträgen zu einem Hinweis oder zur Aufforderung an den [X.]etroffenen, seinen Vortrag zu ergänzen, oder zu eigenen Nachforschungen verpflichtet (vgl zuletzt [X.]SG: [X.]eschlüsse vom 13.10.2010 - [X.] 6 [X.]/10 [X.] - [X.] 4-1500 § 110 [X.] - Rd[X.]3; vom 13.11.2008 - [X.] R 277/08 [X.] - Rd[X.]7 und vom 21.7.2009 - [X.] 7 [X.] 9/09 [X.] - Rd[X.] 5; ebenso [X.]FH, [X.]eschluss vom 19.8.2003 - IX [X.] 36/03 - [X.] 2004, 540, 541). Andernfalls hat das Gericht dem [X.], auch wenn er kurz vor dem Termin gestellt worden ist, nachzukommen.

Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil des [X.] gemäß § 160a Abs 5 [X.] wegen des festgestellten [X.] aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Das [X.] wird auch über die Kosten des [X.]eschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 69/16 B

12.05.2017

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Nürnberg, 13. Juni 2016, Az: S 20 SO 28/16, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 Halbs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 4 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2017, Az. B 8 SO 69/16 B (REWIS RS 2017, 11022)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 11022

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