Bundessozialgericht, Beschluss vom 28.11.2019, Az. B 8 SO 46/19 B

8. Senat | REWIS RS 2019, 1032

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Durchführung der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten - Vorliegen eines erheblichen Grundes für eine Terminverlegung - Bewilligung von PKH ohne Beiordnung eines Rechtsanwalts wenige Tage vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 10. Mai 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit ist ein Anspruch auf Kraftfahrzeughilfe (Kfz-Hilfe) als Leistung der Sozialhilfe sowie eine [X.] in Höhe von mindestens 50 000 Euro.

2

Dem Kläger wurde für Februar 2005 Kfz-Hilfe in Höhe von monatlich 58,60 Euro bewilligt und nur für diesen Monat ausgezahlt. Anträge vom Juli 2007 und Februar 2009 wurden abgelehnt (Bescheid vom [X.], Widerspruchsbescheid vom 12.10.2007, das Klageverfahren [X.] [X.] 130/08 endete durch Rücknahme der Klage; Bescheid vom [X.] und Widerspruchsbescheid vom [X.]). Die Klage vom 30.12.2013, gerichtet auf Leistungen ab März 2005, ist vor dem Sozialgericht ([X.]) [X.] insoweit erfolgreich gewesen, als der Beklagte verurteilt wurde, für März 2005 bis Oktober 2007 monatlich 58,60 Euro zu zahlen (Urteil vom 26.6.2014). Im Berufungsverfahren, in welchem der Kläger auch ein Schmerzensgeld in Höhe von 50 000 Euro geltend gemacht hat, hat das [X.] ([X.]) Termin zur mündlichen Verhandlung auf Mittwoch, den [X.] bestimmt (Verfügung vom 19.4.2017). Am [X.] hat sich der Kläger telefonisch nach dem Sachstand erkundigt und zugleich darauf hingewiesen, dass er einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Berufungsverfahren gestellt habe, über den bislang noch nicht entschieden worden sei. Mit Schreiben vom 30.4.2017 hat der Kläger den Erhalt der Ladung zum Termin bestätigt und mitgeteilt, er habe keinen Rechtsanwalt gefunden, der ihn im Berufungsverfahren vertrete, könne aber selbst am Termin aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen. Mit Beschluss vom [X.], dem Kläger zugestellt am [X.] (einem Samstag), hat das [X.] dem Kläger PKH für das Berufungsverfahren bewilligt, ohne einen zur Vertretung bereiten Rechtsanwalt beizuordnen. Am [X.] ist der Termin zur mündlichen Verhandlung in Abwesenheit des [X.] durchgeführt, das Urteil des [X.] abgeändert und der Beklagte verurteilt worden, an den Kläger unbefristet monatlich 58,60 Euro zu zahlen. Die Klage auf Schmerzensgeld hat das [X.] als unzulässig abgewiesen (Urteil vom [X.]).

3

Mit seiner Beschwerde macht der Kläger einen Verfahrensmangel geltend. Das [X.] habe mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung am [X.] gegen seine Fürsorgepflicht und den Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen. Er habe dem Gericht mitgeteilt, dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, am Termin zur mündlichen Verhandlung teilzunehmen und dies durch ärztliche Atteste belegt. Nachdem er den Beschluss des [X.] über die Bewilligung von PKH erst am [X.], einem Samstag, erhalten habe, sei es ihm innerhalb von zwei Werktagen bis zum Termin am [X.] nicht möglich gewesen, einen zur Vertretung bereiten Rechtsanwalt zu finden. Das Gericht habe ihn nicht darauf hingewiesen, dass es am [X.] den Erlass einer verfahrensabschließenden Entscheidung beabsichtige; ansonsten hätte er einen [X.] gestellt, um sich nach Bewilligung von PKH anwaltliche Vertretung zu suchen.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig; sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, § 62 Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>, Art 103 Grundgesetz ) den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G. Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] (; vgl im Einzelnen Senatsbeschluss vom 12.5.2017 - [X.] [X.] 69/16 B - juris mwN) erübrigen sich bei diesem Verfahrensmangel regelmäßig Ausführungen dazu, welches inhaltliche Vorbringen im Einzelnen in Folge der Verletzung des rechtlichen Gehörs verhindert worden ist, wenn ein Verfahrensbeteiligter dadurch gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen.

5

Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das [X.] hat mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit des [X.] und der folgenden Entscheidung über seine Berufung am [X.] dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (§ 62 1. Halbsatz [X.]G, Art 103 Abs 1 GG).

6

Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Bestandteil des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs in der Form der mündlichen Verhandlung ist daher auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung. Über einen entsprechenden Antrag des verhinderten Beteiligten hat der Vorsitzende (oder das Gericht) zu entscheiden (§ 202 [X.]G iVm § 227 Abs 4 Zivilprozessordnung ). Ein ordnungsgemäß gestellter [X.] mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten [X.] begründet grundsätzlich eine Pflicht des Gerichts zur Terminverlegung (B[X.] vom 10.8.1995 - 11 [X.] - [X.] 3-1750 § 227 [X.] 1; vom [X.] - B 6 [X.]/98 R - juris Rd[X.] 16; vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - juris Rd[X.] 11; vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris Rd[X.] 7 und vom 24.10.2013 - [X.] [X.]/13 B - juris Rd[X.] 8 ff). Entsprechende Anforderungen an die Verhaltensweise des Gerichts ergeben sich auch aus dem aus Art 2 Abs 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden allgemeinen Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl hierzu etwa B[X.] vom 23.10.2003 - [X.]/03 B - [X.] 4-1500 § 62 [X.] 1 Rd[X.] 6; B[X.] vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris).

7

Diese Grundsätze hat das [X.] nicht beachtet. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob bereits die vom Kläger zur Begründung seines Antrags auf Terminverlegung (vom 30.4.2017) vorgelegten ärztlichen Atteste geeignet waren, einen [X.] hinreichend zu substantiieren (vgl dazu nur B[X.] vom 7.7.2011 - [X.] [X.]/11 B - juris Rd[X.] 8) mit der Konsequenz, dass schon aus diesem Grund der Termin zur mündlichen Verhandlung am [X.] hätte aufgehoben werden müssen. Denn bewilligt das Gericht nur wenige Tage vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung PKH, ohne zugleich einen Rechtsanwalt beizuordnen, und im Wissen darum, dass der Kläger selbst bislang keinen zur Vertretung bereiten Anwalt gefunden hat, gebietet es jedenfalls das Prozessgrundrecht des fairen Verfahrens, dem Kläger die erforderliche [X.] einzuräumen, nach PKH-Bewilligung einen zur Vertretung bereiten Rechtsanwalt zu beauftragen. Dies ist in vier Tagen (davon zwei Tage am Wochenende), die dem Kläger zwischen der Zustellung des Beschlusses und dem Termin verblieben, auch unter Berücksichtigung der vom Kläger geschilderten gesundheitlichen Einschränkungen für das [X.] erkennbar nicht möglich gewesen. In einer solchen Situation liegt ein erheblicher Grund für die Aufhebung oder Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung vor (§ 202 [X.]G iVm § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO). Das [X.] musste das Schreiben des [X.] vom 30.4.2017 als [X.] werten, weil ihm ohne Weiteres zu entnehmen war, dass - nach Bewilligung von PKH - ein Prozessbevollmächtigter die mündliche Verhandlung wahrnehmen soll, was angesichts des verbliebenen [X.]rahmens vom [X.] vereitelt wurde. Das [X.] war sich auch - wie einem Vermerk vom 25.4.2019 zu entnehmen ist - darüber im Klaren, dass der Termin "ohnehin noch verlegt werden muss, wenn d. Kl. eine [X.] benennt und diese verhindert ist oder sich erst einarbeiten muss". Dennoch hat es unter Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens von der Terminverlegung abgesehen und abgewartet, ob es dem Kläger in der verbleibenden [X.] doch noch gelingt, einen Rechtsanwalt zu beauftragen. Ob der Kläger, wie er geltend macht, durch die Verfahrensweise des Gerichts daran gehindert war, einen - weiteren - [X.] zu stellen und welche rechtlichen Folgerungen daraus zu ziehen wären, kann danach offenbleiben. Kommt das Gericht seiner Pflicht, den Termin aufzuheben - wie im vorliegenden Verfahren - nicht nach, ist die Situation nicht anders zu bewerten als im Fall einer zu Unrecht erfolgten Ablehnung eines ausdrücklichen Terminverlegungsantrags. In beiden Fällen ist der Verfahrensbeteiligte daran gehindert, sein Anliegen vor Gericht wirksam zu vertreten bzw sich vertreten zu lassen. Vor diesem Hintergrund sind weitere Darlegungen im [X.] dazu, welcher Vortrag zu dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Schmerzensgeld ggf im Termin zur mündlichen Verhandlung erfolgt wäre, entbehrlich (B[X.] vom 12.5.2017 - [X.] [X.] 69/16 B - juris mwN).

8

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 46/19 B

28.11.2019

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 10. Mai 2017, Az: L 4 SO 119/14, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 Halbs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 28.11.2019, Az. B 8 SO 46/19 B (REWIS RS 2019, 1032)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 1032

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 14 AS 270/20 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Antrag …


B 1 KR 42/20 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des rechtlichen Gehörs - mündliche Verhandlung - …


B 2 U 21/18 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Antrag auf Verlegung …


B 2 U 19/18 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Antrag auf Verlegung …


B 2 U 17/18 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Zulässigkeit - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - kein Verschulden …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.