Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.03.2023, Az. B 7 AS 107/22 B

7. Senat | REWIS RS 2023, 2278

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Nichtbescheidung eines vor Beginn der mündlichen Verhandlung gestellten Terminverlegungsantrags - Geltendmachung von Verhandlungsunfähigkeit - eigene Ermittlungen des Gerichts - Einholung einer Schweigepflichtentbindungserklärung - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 15. März 2022 - L 9 AS 720/20 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Verfahren hat das [X.] gemäß § 153 Abs 5 SGG über Ansprüche des [X.] auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SG[X.] II entschieden.

2

Am [X.] hat das [X.] einen Termin zur mündlichen Verhandlung am [X.] um 15:30 Uhr bestimmt. Außerdem hat es dem Kläger das Erscheinen zur Verhandlung freigestellt. Es könne auch im Falle seines Ausbleibens [X.]eweis erhoben, verhandelt und entschieden werden. Am Sitzungstag hat der Kläger die Verlegung des Termins beantragt, weil sich sein Gesundheitszustand so sehr verschlechtert habe, dass es ihm noch nicht möglich sei, ein Attest einzureichen, was er aber nachholen werde.

3

Über den vor [X.]eginn der mündlichen Verhandlung beim [X.] eingegangenen Antrag hat die [X.]erichterstatterin als Vorsitzende keinen [X.]eschluss gefasst. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, aus dem Protokoll zu einem vorangegangenen Termin vom 16.11.2021 gehe hervor, dass zu prüfen sein werde, aufgrund welcher [X.]efunde Verhandlungsunfähigkeit, wie von der Hausärztin bescheinigt, anzunehmen sei. Der Kläger habe daher nicht davon ausgehen können und dürfen, dass das Attest der Hausärztin vom [X.] auch für künftige Termine ausreichend sein werde, um einem Antrag auf Terminverlegung zu entsprechen. Er habe trotz entsprechender Aufforderung vom [X.] keine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt, die dem Senat eigene Ermittlungen hinsichtlich seiner Verhandlungsfähigkeit ermöglicht hätten. Der Kläger hätte davon ausgehen dürfen und müssen, da er eine Terminaufhebung nicht erhalten habe, dass der Termin stattfinde (Hinweis auf [X.]SG vom 6.10.2010 - [X.] 12 KR 58/09 [X.]). Aufgrund des erst 2,5 Stunden vor Sitzungsbeginn eingegangenen [X.] hätte er, etwa durch eine telefonische Rückfrage bei der Geschäftsstelle, klären müssen, ob der Termin zur mündlichen Verhandlung stattfinde oder aufgehoben werde.

4

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger einen Verfahrensmangel geltend. Das [X.] habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es den [X.] nicht beschieden habe.

5

II. Die zulässige [X.]eschwerde des [X.] führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

6

Der Kläger hat einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 [X.] SGG) geltend gemacht, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. [X.]ezogen auf die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) im Zusammenhang mit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung in seiner Abwesenheit hat der Kläger den Verfahrensmangel iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG hinreichend bezeichnet (zum [X.]eruhen-Können insoweit [X.]SG vom 17.12.2020 - [X.] 10 ÜG 4/20 [X.] - [X.] 4-1500 § 62 [X.] RdNr 18; [X.]SG vom 15.8.2022 - [X.] 7 [X.]/22 [X.] - RdNr 5).

7

Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor. Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den [X.]eteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 ZPO; stRspr, z[X.] [X.]SG vom 10.10.2017 - [X.] 12 KR 64/17 [X.] - RdNr 8; [X.]SG vom 12.9.2019 - [X.] 9 V 53/18 [X.] - RdNr 14).

8

Von der Frage, ob dem Antrag stattgegeben werden muss zu unterscheiden ist die Verpflichtung des Vorsitzenden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 1 ZPO), einen Antrag auf Terminaufhebung bzw -verlegung vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung förmlich kurz zu bescheiden, sofern dies noch technisch durchführbar und zeitlich zumutbar ist (vgl [X.]SG vom 10.10.2017 - [X.] 12 KR 64/17 [X.] - RdNr 8; [X.]SG vom 17.2.2010 - [X.] 1 KR 112/09 [X.] - RdNr 7; zum fairen Verfahren [X.]SG vom 12.5.2017 - [X.] 8 [X.] 69/16 [X.] - RdNr 7; [X.]SG vom 15.10.2021 - [X.] 5 R 152/21 [X.] - RdNr 11). Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Recht des [X.]eteiligten auf Information über das Schicksal des [X.] (zum Recht auf Information als Teil des Anspruchs auf rechtliches Gehör [X.]VerfG vom 8.6.1993 - 1 [X.]vR 878/90 - [X.]VerfGE 89, 28, 35 = [X.] 3-1500 § 60 [X.], juris RdNr 26; vgl [X.]SG vom 25.11.2008 - [X.] 5 R 308/08 [X.]- RdNr 8). Infolge dieser Information kann sich der [X.]eteiligte darauf einrichten, dass eine Entscheidung des Gerichts aufgrund der angesetzten mündlichen Verhandlung möglich ist. Die - kurz begründete - Entscheidung über den [X.] kann formlos mitgeteilt werden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 2 ZPO; vgl [X.]SG vom [X.] - [X.] 5 R 210/21 [X.] - RdNr 6 mwN).

9

Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt hier schon in der Nichtbescheidung des Antrags vor dem Termin. Der zeitliche Rahmen von mehr als zwei Stunden hätte es der [X.]erichterstatterin als Vorsitzende gestattet, vor dem Termin über den Antrag zu entscheiden. Insoweit kommt es nicht darauf an, dass der Kläger, wie ihm das [X.] im Urteil vorgehalten hat, dort hätte anrufen und sich nach der Entscheidung über die Terminverlegung erkundigen müssen. Kehrseite der [X.]eachtlichkeit auch eines kurzfristig gestellten [X.] ist zwar die Obliegenheit des [X.]eteiligten sicherzustellen, dass ihn die Information über eine gerichtliche Entscheidung über den Antrag erreichen kann (vgl [X.]SG vom 6.10.2010 - [X.] 12 KR 58/09 [X.] - RdNr 8; [X.]SG vom 18.1.2011 - [X.] 4 [X.]/10 [X.] - RdNr 7). Das ist aber von der hier maßgeblichen Frage zu trennen, ob das Gericht über den Antrag überhaupt rechtzeitig - vor dem Termin - entscheidet. Denn bei einem Anruf des [X.] hätte ihm auch nur mitgeteilt werden können, über den [X.] sei noch nicht entschieden worden.

Ob das [X.] dem [X.] hätte stattgeben müssen, weil der Kläger erhebliche Gründe für eine Verlegung geltend gemacht hat, kann daher dahingestellt bleiben. Die [X.]eschwerdebegründung stellt insoweit auf eine im Attest der Hausärztin vom [X.] bescheinigte derzeitige "psychiatrische Situation bei einer chronischen psychiatrischen Erkrankung" ab, nach der der Kläger "heute und in den nächsten Monaten nicht verhandlungsfähig" gewesen sein soll. Wegen der bescheinigten Chronifizierung sei nicht von vornherein ausgeschlossen gewesen, dass Verhandlungsunfähigkeit bestanden habe. Indes ist nach dem Wortlaut des Attests vom [X.], der sich auf die "derzeitige" Situation bezieht, offen, ob die Grunderkrankung des [X.] nach Aktenlage zum [X.] zur Verlegung des Termins am [X.] hätte führen müssen. Insofern ist das dem zweiten - erfolgreichen - [X.] des [X.] nachfolgende Vorgehen, über die Einholung einer Schweigepflichtentbindungserklärung Näheres über die Fähigkeit des [X.] zu erfahren, seine Rechte in einer mündlichen Verhandlung wahrnehmen zu können, nicht zu beanstanden. Der Kläger hat hier aber eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands geltend gemacht (zum Nebeneinander von chronischer Erkrankung und akuter Einschränkung [X.]SG vom 12.5.2017 - [X.] 8 [X.] 69/16 [X.] - [X.]). Ob das insoweit wenig aussagekräftige Vorbringen des [X.] hierzu die Ablehnung des erneuten [X.] wegen einer rechtsmissbräuchlichen Verzögerungsabsicht (zu den Anforderungen [X.]GH vom [X.] - [X.] - RdNr 28) hätte tragen können oder zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Aufhebung des Termins, verbunden mit einer Aufforderung zur Glaubhaftmachung des - neuen - [X.] (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 Alt 1 ZPO; vgl [X.]SG vom 21.6.2011 - [X.] 1 KR 144/10 [X.] - RdNr 7) hätte erfolgen müssen, bedarf keiner weiteren [X.]ewertung.

Nach 160a Abs 5 SGG kann das Revisionsgericht in dem [X.]eschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

S. Knickrehm

Siefert

Neumann

Meta

B 7 AS 107/22 B

08.03.2023

Bundessozialgericht 7. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Mannheim, 31. Januar 2020, Az: S 16 AS 546/18

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 124 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 4 S 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.03.2023, Az. B 7 AS 107/22 B (REWIS RS 2023, 2278)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2278

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