Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.03.2014, Az. 2 B 100/13

2. Senat | REWIS RS 2014, 6758

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Gegenstand

Disziplinarrechtliche Geringfügigkeitsschwelle


Tenor

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] für das [X.] vom 26. Juni 2013 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1

[X.]ie Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] kann keinen Erfolg haben. [X.]er [X.] hat nicht dargelegt, dass der geltend gemachte [X.] der grundsätzlichen Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegt.

2

[X.]er [X.] steht im Amt eines Oberverwaltungsrats (Besoldungsgruppe [X.]) im [X.]ienst der klagenden Gemeinde. [X.]iese hat nach Einstellung des Strafverfahrens nach § 153a StPO im März 2006 [X.]isziplinarklage mit den Vorwürfen erhoben, der [X.] habe 1998 und 1999 zwei [X.] sowie 2003 zwei hochwertige Mobiltelefone, die Mobilfunkunternehmen der Klägerin zur Verfügung gestellt hatten, an sich genommen und bis zur Entdeckung im Jahr 2006 privat genutzt. [X.]en jeweiligen Kaufpreis und die laufenden Telefonkosten habe der [X.] aus eigenen Mitteln bezahlt, wobei er die der Klägerin gewährten Sonderkonditionen in Anspruch genommen habe.

3

[X.]as Oberverwaltungsgericht hat diese Vorwürfe für erwiesen erachtet und den [X.] aus dem Beamtenverhältnis entfernt. [X.]iese Maßnahme sei bereits deshalb geboten, weil der [X.] die in das Eigentum der Klägerin übergegangenen Mobiltelefone unterschlagen habe (sog. Zugriffsdelikte). Es lägen keine entlastenden Umstände vor, die eine Fortsetzung des Beamtenverhältnisses rechtfertigen könnten. [X.]ie Grenze der Geringfügigkeit sei selbst dann deutlich überschritten, wenn als Marktwert nur die Hälfte der unverbindlichen Preisempfehlungen des Herstellers für den Verkauf der neuen Geräte angesetzt werde. Auch sei erschwerend zu berücksichtigen, dass sich der [X.] durch die unberechtigte Nutzung der [X.] zu Lasten der Klägerin einen Vermögensvorteil von rund 1 500 € verschafft habe. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde hat der [X.] drei Grundsatzrügen erhoben.

4

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des hier nach § 67 Satz 1 L[X.]G NRW anwendbaren § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung oder des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig beantwortet werden kann (stRspr; vgl. Beschluss vom 24. Januar 2011 - BVerwG 2 B 2.11 - NVwZ-RR 2011, 329 Rn. 4). [X.]iese Voraussetzungen sind in Bezug auf die vom [X.] mit der Grundsatzrüge aufgeworfenen Rechtsfragen, auf deren Prüfung der Senat nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO beschränkt ist, nicht erfüllt:

5

[X.]ie erste Frage, ob der [X.] der Geringwertigkeit bei Zugriffsdelikten auch bei mehrmaligem Fehlverhalten bei einer Wertgrenze von insgesamt 200 € liegen kann, hat keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung, weil sie durch die Rechtsprechung des [X.] geklärt ist.

6

[X.]anach stellt die Schwere des [X.]ienstvergehens nach § 13 Abs. 2 Satz 1 L[X.]G NRW (§ 13 Abs. 1 Satz 2 [X.]) das maßgebende Bemessungskriterium für die Bestimmung der erforderlichen [X.]isziplinarmaßnahme dar. [X.]er Zugriff eines Beamten auf dienstlich anvertraute oder zugängliche Geldbeträge oder Gegenstände in der Absicht, sich diese anzueignen, stellt einen gravierenden Pflichtenverstoß dar, der aufgrund seiner Schwere die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis indiziert. [X.]ie Indizwirkung entfällt, wenn der Wert der unterschlagenen oder veruntreuten Gegenstände die Schwelle der Geringfügigkeit nicht deutlich übersteigt (stRspr; vgl. Urteil vom 23. Februar 2012 - BVerwG 2 [X.] 38.10 - NVwZ-RR 2012, 479 Rn. 15). [X.]ie Schwelle, die deutlich überschritten werden muss, um die Indizwirkung auszulösen, liegt gegenwärtig bei 50 € (Urteile vom 11. Juni 2002 - BVerwG 1 [X.] 31.01 - BVerwGE 116, 308 <310 f.> und vom 23. Februar 2012 a.a.[X.] Rn. 16; Beschluss vom 22. September 2006 - BVerwG 2 B 52.06 - [X.]Ö[X.] 2007, 187).

7

[X.]ie Indizwirkung entfällt auch, wenn ein anderer anerkannter [X.], z.B. freiwillige Offenbarung des Pflichtenverstoßes, eingreift, wobei zugunsten des Beamten der Grundsatz „in dubio pro reo" Anwendung findet. [X.]em Eingreifen eines anerkannten [X.]es steht gleich, wenn bemessungsrelevante mildernde bzw. entlastende Umstände feststehen oder dem Beamten nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" zugute kommen, die in ihrer Gesamtheit das Fehlen eines Milderungsrundes kompensieren können. [X.]as Gewicht derartiger Entlastungsgründe muss umso größer sein, je schwerer das [X.]ienstvergehen aufgrund der Höhe des Geldbetrags oder des Wertes der veruntreuten Gegenstände, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen und der Begehung von „[X.]" und anderer belastender Umstände wiegt. Je weniger die Höhe des Geldbetrags oder der Wert des Gegenstandes die Geringfügigkeitsgrenze überschreitet, desto geringer kann das Gewicht der Entlastungsgründe sein, um die Indizwirkung zu entkräften. Jedenfalls bei einem einmaligen Zugriff mit einem begrenzten Schaden kommt in Betracht, von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis absehen, wenn keine belastenden Umstände von erheblichen Gewicht hinzukommen (Urteil vom 23. Februar 2012 a.a.[X.] Rn. 15 und Beschluss vom 23. Februar 2012 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 13). [X.]er Schaden ist begrenzt, wenn die Höhe des Geldbetrags oder der Wert des Gegenstandes insgesamt 200 € nicht erreicht. (Beschluss vom 23. Februar 2012 a.a.[X.]).

8

[X.]as Oberverwaltungsgericht hat diese Rechtsgrundsätze zum Bedeutungsgehalt des § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 L[X.]G NRW dem Berufungsurteil zugrunde gelegt und auf den festgestellten Sachverhalt angewandt. Ausgehend von seiner Würdigung, dass die Geringfügigkeitsgrenze deutlich überschritten ist und kein anderer anerkannter [X.] eingreift, hat es die belastenden Umstände in Bezug zu den entlastenden Umständen gesetzt. [X.]ie Würdigung, die entlastenden Umstände reichten in ihrer Gesamtheit nicht aus, um die Indizwirkung zu entkräften und von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis abzusehen, hält sich innerhalb des Rahmens, den die Bemessungsvorgaben des § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 L[X.]G NRW den Tatsachengerichten für das Ergebnis der Gesamtabwägung belassen. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat insbesondere die jahrelange unberechtigte Benutzung zweier [X.], die ihrerseits eine [X.]ienstpflichtverletzung von erheblichem Gewicht darstellt, zu Recht als belastende Umstände von einigem Gewicht berücksichtigt.

9

[X.]ie zweite Frage, ob sich die Schwelle der Geringwertigkeit auch bei solchen Gegenständen nach dem objektiven Marktwert bemisst, die erheblichen Preis-und Wertschwankungen unterliegen oder wie Mobiltelefone als preisgünstige Zugabe beim Abschluss von Mobilfunkverträgen veräußert werden, hat keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung, weil kein Revisionsverfahren durchgeführt werden muss, um sie zu beantworten.

[X.]er Wert von Gegenständen, die gehandelt werden, kann regelmäßig nur nach deren Marktwert bemessen werden. [X.]ie daran anknüpfende Frage, auf welche Weise dieser Wert ermittelt wird, kann in einem Revisionsverfahren nicht geklärt werden, weil es sich nicht um eine Frage der Auslegung revisiblen Rechts handelt. [X.]ie Bestimmung des Marktwerts eines Gegenstandes gehört zur Ermittlung und Feststellung des Sachverhalts, die der rechtlichen Würdigung vorgelagert ist. [X.]aher können die Verfahrensbeteiligten die Methoden der Wertbestimmung in der Revisionsinstanz nur mit Verfahrensrügen in Frage stellen. In Betracht kommt insbesondere die Rüge, das Verwaltungsgericht habe die Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung nach § 57 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1 L[X.]G NRW, § 86 Abs. 1 VwGO verletzt.

Eine derartige Aufklärungsrüge kann der Beschwerdebegründung nicht entnommen werden. Mit den Einwendungen des [X.] gegen die Wertbestimmung von Mobiltelefonen aufgrund der Preisempfehlungen der Hersteller hat sich das Oberverwaltungsgericht auseinandergesetzt. Es hat dargelegt, dass die Mobiltelefone, die der [X.] an sich genommen hat, zur maßgebenden [X.] der Tatbegehung neu auf dem Markt und daher preisstabil waren. [X.]em Vortrag, Mobiltelefone würden überwiegend aus Anlass des Abschlusses eines Mobilfunkvertrags mit erheblichen Preisnachlässen abgegeben, hat das Oberverwaltungsgericht Rechnung getragen, indem es als Marktwert nur jeweils die Hälfte der Preisempfehlungen der Hersteller zugrunde gelegt hat.

[X.]ie dritte Frage nach der Bedeutung einer unangemessen langen [X.]auer des [X.]isziplinarverfahrens für die Bestimmung der [X.]isziplinarmaßnahme hat keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung, weil sie durch die Rechtsprechung des [X.], insbesondere durch das Urteil vom 28. Februar 2013 - BVerwG 2 [X.] 3.12 - (BVerwGE 146, 98), geklärt ist.

Für die innerstaatlichen Rechtsfolgen einer unangemessen langen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist zu beachten, dass diese Bestimmung Verfahrensrechte einräumt. [X.]iese dienen der [X.]urchsetzung und Sicherung des materiellen Rechts; sie sind nicht darauf gerichtet, das materielle Recht zu ändern. [X.]aher kann eine unangemessen lange Verfahrensdauer nicht dazu führen, dass den Verfahrensbeteiligten eine Rechtsstellung zuwächst, die ihnen nach dem innerstaatlichen materiellen Recht nicht zusteht. Vielmehr kann sie für die Sachentscheidung in dem zu lange dauernden Verfahren nur berücksichtigt werden, wenn das materielle Recht dies vorschreibt oder zulässt. Ob diese Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der entscheidungserheblichen materiellrechtlichen Normen und Rechtsgrundsätze zu ermitteln. Bei dieser Auslegung ist das Gebot der konventionskonformen Auslegung im Rahmen des methodisch Vertretbaren zu berücksichtigen (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.[X.] Rn. 50).

[X.]ementsprechend hat der Gesetzgeber davon abgesehen, einen inhaltlichen Bezug zwischen der überlangen [X.]auer eines Verfahrens und den geltend gemachten materiellrechtlichen Positionen herzustellen. Er hat die Verfahrensbeteiligten auf Entschädigungsansprüche nach Maßgabe der §§ 198 ff. [X.] (in der Fassung des [X.] bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 ) verwiesen. [X.]iese Vorschriften finden nach § 173 Satz 2 VwGO, § 3 L[X.]G NRW auch für [X.]isziplinarverfahren Anwendung (Urteil vom 28. Februar 2012 a.a.[X.] Rn. 51).

Ergibt die für die Bestimmung der [X.]isziplinarmaßnahme erforderliche Gesamtwürdigung, hier nach § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 L[X.]G NRW, dass die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis geboten ist, kann davon nicht abgesehen werden, weil das [X.]isziplinarverfahren unangemessen lange gedauert hat. Ein Verbleib im Beamtenverhältnis ausschließlich aufgrund einer unangemessen langen Verfahrensdauer lässt sich nicht mit dem Zweck der [X.]isziplinarbefugnis, nämlich dem Schutz der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung und der Integrität des Berufsbeamtentums, vereinbaren. [X.]iese Schutzgüter und der Grundsatz der Gleichbehandlung schließen aus, dass ein Beamter weiterhin [X.]ienst leisten und als Repräsentant des [X.]ienstherrn auftreten kann, obwohl er durch gravierendes Fehlverhalten untragbar geworden ist. [X.]ie [X.]auer des [X.]isziplinarverfahrens ist nicht geeignet, das von dem Beamten zerstörte Vertrauensverhältnis wiederherzustellen (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.[X.] Rn. 53).

Nach der Kammerrechtsprechung des [X.] steht die unangemessen lange [X.]auer des [X.]isziplinarverfahrens der Aberkennung des Ruhegehalts nicht entgegen, wenn der Beamte während seiner [X.]ienstzeit die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis verwirkt hat ([X.], [X.] vom 28. Januar 2013 - 2 BvR 1912/12 - NVwZ 2013, 788).

Ergibt die Gesamtwürdigung dagegen, dass eine pflichtenmahnende [X.]isziplinarmaßnahme ausreichend ist, steht fest, dass der Beamte im öffentlichen [X.]ienst verbleiben kann. Hier kann eine unangemessen lange Verfahrensdauer bei der Bestimmung der [X.]isziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit mildernd berücksichtigt werden, wenn das disziplinarrechtliche Sanktionsbedürfnis wegen der mit dem Verfahren verbundenen Belastungen gemindert ist (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.[X.] Rn. 54).

[X.]ie Kostenentscheidung folgt aus § 74 Abs. 1 L[X.]G NRW, § 154 Abs. 2 VwGO. Ein Streitwert für das Beschwerdeverfahren muss nicht festgesetzt werden, weil die Höhe der Gerichtsgebühren [X.] festgelegt ist (§ 75 Satz 1 L[X.]G NRW, [X.] des Gebührenverzeichnisses der Anlage zu diesem Gesetz).

Meta

2 B 100/13

26.03.2014

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 26. Juni 2013, Az: 3d A 1244/11.O, Urteil

§ 13 Abs 2 S 1 DG NW 2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.03.2014, Az. 2 B 100/13 (REWIS RS 2014, 6758)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 6758

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