Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.02.2012, Az. 2 C 38/10

2. Senat | REWIS RS 2012, 8870

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Gegenstand

Bemessung der Disziplinarmaßnahme bei Zugriffsdelikt; Einbeziehung von entlastenden Umständen


Leitsatz

Liegen in einem Disziplinarverfahren zur Ahndung eines Zugriffsdelikts Umstände vor, die für sich genommen nicht genügen, einen anerkannten Milderungsgrund zu erfüllen, muss ernsthaft ermittelt und geprüft werden, ob diese Umstände in ihrer Gesamtheit dem Gewicht eines anerkannten Milderungsgrundes vergleichbar sind (im Anschluss an Urteile vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 und vom 24. Mai 2007 - BVerwG 2 C 25.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 4).

Tatbestand

1

Der 1962 geborene Beklagte ist seit 1989 Beamter auf Lebenszeit und war zuletzt als Kriminalkommissar beim Polizeipräsidium ... eingesetzt. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts ... wurde er am 1. Dezember 2005 wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Ihm wurde zur Last gelegt, am 10. Juni 2005 anlässlich der Aufnahme eines Einbruchsdiebstahls 500 €, die in der Wohnung des [X.] in einer Vitrine deponiert waren, an sich genommen zu haben. Er habe die Geldscheine jedoch, nachdem die Tat von der Geschädigten entdeckt worden sei, wieder zurückgelegt.

2

Im Disziplinarverfahren äußerte der Beklagte sich nicht; im sachgleichen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bestritt er die Tat. Das Verwaltungsgericht hat ihn auf die Disziplinarklage aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Seine Berufung hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 12. Februar 2009 im Wesentlichen aus folgenden Gründen zurückgewiesen:

3

Es stehe fest, dass der Beklagte anlässlich der Aufnahme eines Diebstahlsdelikts Geldscheine im Wert von 500 € entwendet, sie nach Entdeckung der Tat aber wieder zurückgelegt habe. Außerdem habe er der Geschädigten mit nachteiligen Konsequenzen für den Fall gedroht, dass sie das Vorkommnis nicht auf sich beruhen lasse. Der Kläger habe sich nicht durch die tatsächlichen Feststellungen aus dem Strafbefehlsverfahren gebunden gefühlt, sondern diese Feststellungen lediglich ohne nochmalige Prüfung zu Grunde gelegt; dies sei nicht zu beanstanden. Der Umstand, dass weder im behördlichen noch im erstinstanzlichen Disziplinarverfahren Zeugen vernommen worden seien, sei gleichfalls unschädlich; im Übrigen habe das Oberverwaltungsgericht die Zeugenvernehmungen nachgeholt.

4

Als Disziplinarmaßnahme sei allein die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis angemessen. Es handle sich um ein die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigendes Zugriffsdelikt, das als besonders schweres Dienstvergehen einzustufen sei, weil der Beklagte einen Einsatz zur Aufklärung einer Straftat zur Begehung des Diebstahls "schamlos" ausgenutzt habe. Milderungsgründe seien nicht ersichtlich. Weder liege ein Handeln aus einer unverschuldeten unausweichlichen wirtschaftlichen Notlage vor noch eine unbedachte Gelegenheitstat in einer besonderen Versuchungssituation oder eine Tat als Folge einer psychischen Zwangssituation. Auch habe der Beklagte den Schaden nicht vor Entdeckung wieder gutgemacht oder sich dem Dienstherrn freiwillig offenbart. Auch für sonstige den Beklagten entlastende Umstände sei nichts ersichtlich; vielmehr spreche gegen den Beklagten, dass ein gegen ihn geführtes Disziplinarverfahren erst wenige Wochen vor dem hier betroffenen Vorfall eingestellt worden sei, in dem es um den Verdacht von Unregelmäßigkeiten im Umgang mit Dienstkleidung gegangen sei. Die Entfernung aus dem Dienst sei auch nicht unverhältnismäßig, da die Schwere des Dienstvergehens dazu geführt habe, dass die Vertrauensgrundlage für die Fortsetzung des Beamtenverhältnisses endgültig zerstört sei.

5

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Beklagte die Verletzung von Verfahrens- und von materiellem Recht. Er beantragt schriftsätzlich,

die Urteile des [X.] für das [X.] vom 12. Februar 2009 und des [X.] vom 28. Juni 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Urteile des [X.] für das [X.] vom 12. Februar 2009 und des [X.] vom 28. Juni 2007 aufzuheben und auf eine mildere Disziplinarmaßnahme zu erkennen.

6

Der Kläger tritt der Revision entgegen und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7

Der Vertreter des [X.] beim [X.] beteiligt sich nicht am Verfahren.

Entscheidungsgründe

8

[X.]ie zulässige Revision, über die im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO, § 67 und § 3 Abs. 1 [X.] NRW ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, ist mit der Maßgabe begründet, dass das Urteil des [X.] aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

9

[X.]as Oberverwaltungsgericht war an einer Sachentscheidung nicht gehindert. [X.]ie [X.] ist zwar entgegen § 3 Abs. 1 [X.] NRW, § 85 Satz 1 i.V.m. § 67 Abs. 6 Satz 5 VwGO nicht dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten zugestellt worden, obwohl er wirksam bevollmächtigt und bereits zu der beabsichtigten Klageerhebung förmlich angehört worden war. [X.]er Zustellungsmangel ist jedoch dadurch geheilt, dass der Prozessbevollmächtigte die Klageschrift tatsächlich erhalten hat (§ 3 [X.] NRW, § 56 Abs. 2 VwGO, § 189 ZPO). Er kann unabhängig davon auch deshalb nicht mehr gerügt werden, weil der Beklagte ihn in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht geltend gemacht hat (§ 295 ZPO). Gründe dafür, dass der Beklagte auf die Einhaltung des § 67 Abs. 6 Satz 5 VwGO nicht hätte verzichten können, sind auch unter Berücksichtigung der besonderen Förmlichkeit des [X.]isziplinarverfahrens nicht ersichtlich.

Nach den gemäß § 137 Abs. 2 VwGO, § 67 Satz 1 [X.] NRW bindenden tatsächlichen Feststellungen des [X.] nahm der Beklagte 500 € an sich, als er in der Wohnung der Geschädigten einen von ihr angezeigten Einbruchsdiebstahl aufnahm, legte das Geld allerdings zurück, nachdem die Geschädigte den [X.]iebstahl bemerkt hatte. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat dieses Verhalten als schweres innerdienstliches [X.]ienstvergehen in der Form des [X.]s bewertet. Als allein angemessene [X.]isziplinarmaßnahme hat es die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis angesehen. [X.]ies beruht auf einem Verstoß gegen die [X.] des § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 [X.] NRW.

Ist das Vorliegen eines [X.]ienstvergehens im Einzelfall festgestellt, richtet sich die Bemessung der erforderlichen [X.]isziplinarmaßnahme gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 [X.] NRW insbesondere nach der Schwere des [X.]ienstvergehens; dabei sind das Persönlichkeitsbild des Beamten und das Ausmaß der durch das [X.]ienstvergehen herbeigeführten [X.] zu berücksichtigen. Aus diesen gesetzlichen Vorgaben folgt die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte, über die erforderliche [X.]isziplinarmaßnahme auf Grund einer prognostischen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller im Einzelfall be- und entlastenden Gesichtspunkte zu entscheiden. [X.]ies entspricht dem Zweck der [X.]isziplinarbefugnis als einem Mittel der Funktionssicherung des öffentlichen [X.]ienstes. [X.]anach ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Wertung die Frage, welche [X.]isziplinarmaßnahme geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen [X.]ienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (Urteile vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 30.05 - Rn. 25 insofern nicht abgedruckt in [X.] 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50 und - BVerwG 2 [X.] 9.06 - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 3 Rn. 16).

[X.]en Bedeutungsgehalt der drei gesetzlichen Bemessungskriterien hat der Senat in seiner Rechtsprechung konkretisiert. [X.]abei geht er davon aus, dass die Schwere des [X.]ienstvergehens als maßgebendes Kriterium der Ausgangspunkt der Maßnahmebemessung ist (vgl. Urteile vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 [X.] 12.04 - BVerwGE 124, 252 <258 ff.>, vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 9.06 - a.a.[X.] Rn. 13, vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 [X.] 59.07 - [X.] 235.1 § 70 [X.] Nr. 3 und vom 28. Juli 2011 - BVerwG 2 [X.] 16.10 - [X.] 2011, 414 Rn. 29 stRspr). [X.]ie Schwere des [X.]ienstvergehens beurteilt sich nach Eigenart und Bedeutung der verletzten [X.]ienstpflichten, nach [X.]auer und Häufigkeit der Pflichtenverstöße und allen Umständen der Tatbegehung sowie nach den subjektiven Verhaltensmerkmalen - Form und Gewicht des Verschuldens und Beweggründe des Beamten für sein Verhalten - und den Folgen der Pflichtenverstöße für den dienstlichen Bereich und [X.]ritte. Hiervon ausgehend lassen sich, anknüpfend an die Rechtsprechung des [X.]isziplinarsenats des [X.], Fallgruppen von [X.]ienstvergehen bestimmen, denen auf Grund ihrer Schwere jeweils eine der im Gesetz aufgeführten [X.]isziplinarmaßnahmen im Sinne einer Regeleinstufung zuzuordnen ist. Eine dieser Fallgruppen stellen so genannte [X.]e dar, die im Regelfall zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führen, wenn die veruntreuten Beträge oder Werte die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigen.

Von der [X.] muss jedoch zugunsten einer weniger strengen [X.]isziplinarmaßnahme abgesehen werden, wenn ein in der Rechtsprechung des [X.]isziplinarsenats oder des erkennenden Senats anerkannter [X.] vorliegt. [X.]iese Milderungsgründe erfassen typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen des Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch positive [X.] geben. Zum einen tragen sie existenziellen wirtschaftlichen Notlagen sowie körperlichen oder psychischen Ausnahmesituationen - auch einer etwa verminderten Schuldfähigkeit (vgl. Beschluss vom 15. April 2010 - BVerwG 2 [X.] - juris; Urteil vom 29. Mai 2008 - a.a.[X.]) - Rechnung, in denen ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet werden kann. Zum anderen erfassen sie ein tätiges Abrücken von der Tat, insbesondere durch die freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder die [X.] des Fehlverhaltens jeweils vor drohender Entdeckung (Urteil vom 24. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 25.06 - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 4). Auch der [X.] der Geringwertigkeit kann dazu führen, dass im Hinblick darauf, dass durch das [X.]ienstvergehen nur ein geringer Schaden entstanden ist, von der [X.] abgesehen werden muss (Urteile vom 24. November 1992 - BVerwG 1 [X.] 66.91 - BVerwGE 93, 314 und vom 11. November 2003 - BVerwG 1 [X.] 5.03 - juris; stRspr).

Selbst wenn keiner der vorrangig zu prüfenden anerkannten Milderungsgründe vorliegt, können entlastende Umstände gegeben sein, deren Gewicht in ihrer Gesamtheit dem Gewicht der anerkannten Milderungsgründe vergleichbar ist (Urteile vom 20. Oktober 2005 a.a.[X.] S. 260 f., vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 9.06 - a.a.[X.] Rn. 20 f. und vom 24. Mai 2007 a.a.[X.] Rn. 22). [X.]enn eine Zumessungsentscheidung, die vor dem im [X.]isziplinarverfahren geltenden Schuldprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bestand haben soll, setzt voraus, dass die gegen den Beamten ausgesprochene [X.]isziplinarmaßnahme unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur Schwere des [X.]ienstvergehens und zum Verschulden des Beamten steht (Urteile vom 20. Oktober 2005 a.a.[X.], vom 3. Mai 2007 a.a.[X.] und vom 24. Mai 2007 a.a.[X.] Rn. 22; vgl. auch [X.], [X.] vom 8. [X.]ezember 2004 - 2 BvR 52/02 - NJW 2005, 1344 <1346> m.w.N.). [X.]ies ist nur der Fall, wenn alle bemessungsrelevanten be- und entlastenden Gesichtspunkte ermittelt und in die Bemessungsentscheidung eingestellt worden sind.

Unter der Geltung dieser [X.] können sich [X.] aus allen denkbaren Umständen ergeben. Auch wenn keiner der anerkannten Milderungsgründe vorliegt, muss daher ernsthaft geprüft und ggf. durch Beweiserhebung aufgeklärt werden, ob Umstände vorliegen, die sich entweder von den anerkannten Milderungsgründen grundsätzlich unterscheiden oder ihnen zwar vergleichbar sind, aber ihr Gewicht nicht erreichen. Solche Umstände können das Absehen von der disziplinarischen [X.] rechtfertigen, wenn sie in ihrer Gesamtheit das Gewicht eines anerkannten [X.]es aufweisen. [X.]ie anerkannten Milderungsgründe bieten Vergleichsmaßstäbe für die Bewertung, welches Gewicht entlastenden Gesichtspunkten in der Summe zukommen muss, um eine Fortsetzung des Beamtenverhältnisses in Betracht ziehen zu können. [X.]abei muss das Gewicht der Entlastungsgründe um so größer sein, je schwerer das [X.] auf Grund der Höhe des Schadens, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, der Begehung von "[X.]" und anderer belastender Gesichtspunkte im Einzelfall wiegt. Im umgekehrten Fall eines weniger schwer wiegenden - etwa die Geringfügigkeitsgrenze nur unwesentlich überschreitenden - [X.]s kann ein geringeres Gewicht der Entlastungsgründe ausreichen (Urteile vom 24. Mai 2007 a.a.O und vom 29. Mai 2008 a.a.[X.]). [X.]anach kommt jedenfalls bei einem einmaligen Fehlverhalten ohne belastende Begleitumstände mit einem begrenzten Schaden ernsthaft in Betracht, von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis abzusehen. Zudem sind Entlastungsgründe nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" (vgl. BT[X.]rucks 14/4659 S. 35 - zu § 3 [X.]) bereits dann einzubeziehen, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen sprechen (Urteile des [X.]isziplinarsenats vom 6. Juni 2007 - BVerwG 1 [X.] 2.06 - juris und vom 30. September 1992 - BVerwG 1 [X.] 32.91 - BVerwGE 93, 294 <297>).

Nach diesen Maßstäben hat der Beklagte ein schweres [X.]ienstvergehen im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 [X.] NRW begangen. Insoweit ist der Würdigung durch das Berufungsgericht im Ergebnis zuzustimmen. Allerdings ist das dem Beklagten vorgeworfene [X.]ienstvergehen kein [X.] im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung, da dem Beklagten das von ihm entwendete Geld nicht dienstlich anvertraut war und er durch seine Tat den Vermögensbestand zu Lasten des [X.]ienstherrn nicht unmittelbar vermindert hat (Urteile vom 21. Juli 1998 - BVerwG 1 [X.] 51.97 - juris Rn. 18 und vom 6. Februar 2001 - BVerwG 1 [X.] 67.99 - [X.] 232 § 54 Satz 2 [X.] Nr. 24 S. 10). [X.]er Umstand, dass der Beklagte seine dienstliche Anwesenheit in der Wohnung der Geschädigten anlässlich der Aufnahme eines Einbruchsdiebstahls zur Begehung eines [X.]iebstahls ausgenutzt hat, rechtfertigt es jedoch, sein Verhalten hinsichtlich der Schwere des [X.]elikts einem [X.] gleichzustellen. Ihm ist der Vorwurf eines schweren Versagens im Kernbereich der ihm obliegenden [X.]ienstpflichten zu machen. [X.]ienstherr, Geschädigte und Öffentlichkeit müssen sich auf die Ehrlichkeit und Gesetzestreue von Polizeibeamten im Einsatz, deren Aufgabe die Wahrung der Rechtsordnung und Verfolgung von Rechtsverstößen ist, unbedingt verlassen können (vgl. Urteil vom 23. August 1988 - BVerwG 1 [X.] 136.87 - NJW 1989, 851; vgl. zum gleich gestellten Fall des "[X.]" Urteile vom 29. Mai 2008 a.a.[X.] und vom 29. September 1998 - BVerwG 1 [X.] 82.97 - juris). Auch überschreitet die vom Beklagten entwendete Summe von 500 € die Schwelle der Geringwertigkeit (50 €) deutlich.

[X.]as Oberverwaltungsgericht verletzt jedoch insoweit revisibles Recht, als es bei seiner Entscheidung gemäß § 13 Abs. 2 [X.] NRW einen endgültigen Vertrauensverlust angenommen hat, ohne zuvor eine umfassende Prognoseentscheidung unter ernsthafter Berücksichtigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu treffen. Es hat sich im [X.] an die Prüfung der anerkannten Milderungsgründe auf die Feststellung beschränkt, die von der Schwere des [X.]ienstvergehens ausgehende Indizwirkung entfalle nicht auf Grund einer Berücksichtigung "aller sonst den Beklagten entlastenden Umstände"; Ursache und Motiv für das [X.]ienstvergehen lägen im [X.]unkeln. [X.]iese [X.]arlegungen lassen nicht erkennen, dass das Oberverwaltungsgericht die erforderliche Prognoseentscheidung zum Umfang der vom Beklagten verursachten [X.] auf einer hinreichenden Prognosegrundlage - die zudem im Urteil offen zu legen ist - getroffen hat.

In die Gesamtabwägung waren danach auf der Seite der den Beklagten belastenden Umstände zunächst diejenigen einzustellen, die der dienstlichen Verfehlung das Gewicht eines schweren [X.]ienstvergehens gegeben haben. Zu Lasten des Beklagten war ferner ggf. zu berücksichtigen, ob die - bisher nicht hinreichend aufgeklärte - Bemerkung des Beklagten zu sozialhilferechtlichen Folgen des Vorhandenseins einer Summe von 500 € einen Versuch darstellte, die Geschädigte durch [X.]rohung von Maßnahmen gegen ihn abzuhalten. Auf der Seite der den Beklagten entlastenden Umstände durfte das Oberverwaltungsgericht nicht offen lassen, wie die sofortige Rückgabe des Geldes zu bewerten ist, auch wenn dies den Tatbestand der Wiedergutmachung vor Entdeckung als eines anerkannten [X.]es nicht erfüllt. Anlass zur näheren Aufklärung der Motivlage des Beklagten in diesem Zusammenhang bietet bereits der Umstand, dass der Beklagte mit der Rückgabe des Geldes den gegenüber einer bloßen Passivität nach der [X.]iebstahlshandlung risikoreicheren Weg einer Rückgabe des Geldes trotz Entdeckung der Tat gewählt hat, da er damit rechnen musste, bei dem Versuch, das Geld zurückzulegen, beobachtet zu werden. Auch hat das Oberverwaltungsgericht nicht aufgeklärt, was den Beklagten zur Tat veranlasst hat, obwohl sich dies angesichts der konkreten Tatumstände aufgedrängt hätte. [X.]ie erforderliche Aufklärung der Tatumstände und etwaiger mildernder Umstände kann freilich dort ihre Grenze finden, wo der Beklagte auf seiner Weigerung beharrt, dem Gericht gegenüber nähere Angaben zu machen, wenn ihm hinreichend deutlich ist, dass die Aufklärungsbemühungen des Gerichts umfassend auch auf denkbare entlastende Umstände zielen.

Zugunsten des Beklagten war ferner zu berücksichtigen, dass er disziplinarisch nicht vorbelastet ist. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat dies zwar erwähnt, gleichwohl aber zu Lasten des Beklagten berücksichtigt, dass erst wenige Wochen vor dem angeschuldigten [X.]ienstvergehen ein gegen ihn geführtes [X.]isziplinarverfahren eingestellt worden war. Auch die angeschlossene Bemerkung, der Beklagte habe wissen müssen, dass er unter Beobachtung stand, lässt nicht deutlich erkennen, ob das Oberverwaltungsgericht das folgenlose [X.]isziplinarverfahren als belastenden Umstand eingestuft hat oder nicht.

Mangels ausreichender Feststellungen ist der Senat nicht in der Lage, selbst über die angemessene Maßnahme zu entscheiden. [X.]ie Sache ist nicht spruchreif und deshalb an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Meta

2 C 38/10

23.02.2012

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 12. Februar 2009, Az: 3d A 2528/07.O, Urteil

§ 13 Abs 1 BDG, § 13 Abs 2 S 1 BDG, § 13 Abs 2 DG NW 2004, § 13 Abs 3 S 1 DG NW 2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.02.2012, Az. 2 C 38/10 (REWIS RS 2012, 8870)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8870

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