Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.05.2020, Az. X B 12/20

10. Senat | REWIS RS 2020, 3484

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Gegenstand

Wahrung des Gehörsanspruchs bei eigener Schätzung durch das FG


Leitsatz

NV: Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs wird verletzt, wenn das FG in Ausübung eigener Schätzungsbefugnis für die Beurteilung der Höhe des Rohgewinnaufschlagsatzes auf eine nicht allgemein zugängliche --nur für den Dienstgebrauch bestimmte-- Quelle aus dem juris-Rechtsportal ("Fachinfosystem Bp NRW") zurückgreift, ohne zuvor die hieraus entnommenen Erkenntnisse dem Kläger inhaltlich in der gebotenen Weise zugänglich gemacht zu haben.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 03.09.2019 - 2 K 218/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betreibt in [X.] u.a. eine Diskothek. Nach der Darstellung im angefochtenen Urteil des Finanzgerichts ([X.]) beanstandete eine für die Streitjahre 2013 und 2014 durchgeführte Außenprüfung die Kassen- und Buchführung des [X.] als formell ordnungswidrig.

2

Aus diesem Grund verprobte der Prüfer die [X.] und ermittelte --nach Abzug eines [X.] einen effektiven Rohgewinnaufschlagsatz von knapp 400 %, der erheblich von denjenigen Sätzen abwich, die den Gewinnermittlungen des [X.] zu entnehmen waren. Hieraus folgerte der Prüfer, dass die erklärten Betriebseinnahmen und Umsätze nicht vollständig seien. Auf Grundlage des von ihm errechneten [X.] schätzte der Prüfer bei den Getränkeverkäufen Einnahmen und Umsätze von netto ca. 417.000 € (2013) bzw. 247.000 € (2014) hinzu. Ferner nahm der Prüfer [X.] zu den erklärten Erlösen aus Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen vor. Auch bei den beiden weiteren Gastronomiebetrieben, die der Kläger während der Streitjahre eröffnet hatte, schätzte der Prüfer Einnahmen und Umsätze hinzu.

3

Der Einspruch gegen die dementsprechend geänderten Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuermessbescheide für 2013 und 2014 hatte keinen Erfolg.

4

Auch das [X.] ging von einer Schätzungsberechtigung aus. Allerdings beanstandete es Schätzungsmethode und -ergebnis des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --[X.]--). In Ausübung eigener Schätzungsbefugnis schätzte das [X.] die [X.] nach Maßgabe eines äußeren Betriebsvergleichs. Für den hierbei zugrunde gelegten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % orientierte es sich zum einen an der vom [X.] ([X.]) veröffentlichten Richtsatzsammlung, die für Gastronomiebetriebe in den Streitjahren Rohgewinnaufschlagsätze zwischen 186 % und 376 % (2013) bzw. 186 % und 400 % (2014) sowie einen Mittelwert von jeweils 257 % ausweist. Zum anderen berief es sich auf einen beim juris-Rechtsportal --allerdings nur für den [X.] abrufbaren Erfahrungsbericht vom 23.05.2017 über Betriebsprüfungen bei Diskotheken (sog. Fachinfosystem [X.]). In dieser, vom [X.] als "spezielle Richtsatzsammlung für Diskotheken" bezeichneten Abhandlung heißt es u.a., Diskotheken würden einen Rohgewinnaufschlagsatz zwischen 280 % und 600 % auf ihren Wareneinsatz anwenden, wobei sich die Mehrzahl der Betriebe im rechnerischen Mittel bewegten.

5

Demzufolge minderte das [X.] die [X.] auf ca. 252.000 € (2013) bzw. 115.000 € (2014). Die hinzugeschätzten Erlöse bei den Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen hob das [X.] sogar in Gänze auf, da es die Schätzungsparameter des [X.] für unplausibel und willkürlich hielt. Auch die [X.] bei den beiden anderen Betrieben des [X.] hatten keinen Bestand.

6

Mit seiner Beschwerde beansprucht der Kläger die Zulassung der Revision u.a. wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Zudem beruft er sich auf Verfahrensfehler. Das [X.] tritt der Beschwerde entgegen.

Entscheidungsgründe

II.

7

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O). Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensfehler vor, auf dem die Entscheidung des [X.] i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O beruhen kann.

8

1. Das [X.] hat den Anspruch des [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß § 96 Abs. 2 [X.]O i.V.m. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes verletzt. Hierin liegt ein entscheidungserheblicher Verfahrensfehler (§ 119 Nr. 3 [X.]O).

9

a) Ein solcher Verstoß ist zwar --anders als der Kläger meint-- noch nicht darin zu sehen, dass das [X.] die Schätzungsmethode des [X.] (innerer Betriebsvergleich; [X.]) durch eine hiervon abweichende Methode (äußerer Betriebs- bzw. Richtsatzvergleich) ersetzt hat. Insofern entspricht es gefestigten rechtlichen Grundsätzen, dass ein Gehörsverstoß in Gestalt einer Überraschungsentscheidung nur dann gegeben ist, wenn das [X.] eine Schätzungsmethode anwendet, die der bisherigen Methode nicht mehr ähnlich ist oder die Einführung neuen Tatsachenstoffs erforderlich wird, den Beteiligten hierzu aber keinen vorherigen rechtlichen Hinweis nach § 96 Abs. 2 [X.]O erteilt (Entscheidungen des [X.] --BFH-- vom 02.02.1982 - VIII R 65/80, [X.], 158, [X.] 1982, 409; vom 10.09.2013 - XI B 114/12, [X.] 2013, 1947, Rz 12; vom 19.01.2018 - X B 60/17, [X.] 2018, 530, Rz 17; ebenso Lange in [X.]/ [X.]/[X.], § 96 [X.]O Rz 145). So liegen die Dinge im Streitfall nicht.

Zwar kann den Akten nicht entnommen werden, dass das [X.] im Laufe des Verfahrens in der grundsätzlich gebotenen Deutlichkeit auf dessen Absicht, die Höhe der [X.] der Diskothek nach Richtsätzen zu schätzen, hingewiesen hat. Zumindest belegt aber der im Nachgang zum Erörterungstermin vom Berichterstatter erarbeitete [X.] vom 22.07.2019, dass eine alternative Richtsatzschätzung thematisiert wurde, da dort Rohgewinnaufschlagsätze von 325 % für 2013 bzw. 350 % für 2014 in Ansatz gebracht wurden, ohne dass zugleich die Parameter der Aufschlagskalkulation des [X.] noch konkret in Frage gestellt wurden. Gleiches lässt sich aus dem Umstand folgern, dass die Prozessbevollmächtigte des [X.] mit Schreiben vom 03.09.2019 im Vorgriff auf die mündliche Verhandlung für den Fall des Unterliegens eine Revisionszulassung im Hinblick auf die aus ihrer Sicht unspezifizierte "steuerliche Richtsatzsammlung" beantragt hat.

b) Das [X.] hat allerdings das rechtliche Gehör des [X.] insoweit verletzt, als es in Ausübung seiner eigenen Schätzungskompetenz für die Bestimmung des [X.] von 300 % auf eine im juris-Rechtsportal ("Fachinfosystem [X.]") hinterlegte Abhandlung über Prüfungserfahrungen bei Diskotheken zurückgegriffen hat, ohne --jedenfalls nach [X.] dem hierfür nicht abrufberechtigten Kläger über die wesentlichen Inhalte in Kenntnis zu setzen.

aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 96 Abs. 2 [X.]O umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und --gegebenenfalls-- Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (u.a. [X.] vom 15.05.2019 - IX B 105/18, [X.] 2019, 922, Rz 7, m.w.N.). Zur Wahrung dieses Äußerungsrechts ist das Gericht --letztlich vorgelagert-- verpflichtet, die Beteiligten über alle ihm zugänglich gemachten und für seine Entscheidung zur Verfügung stehenden Tatsachen und Beweisergebnisse uneingeschränkt zu informieren (vgl. Beschluss des [X.] vom 15.08.2014 - 2 BvR 969/14, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2014, 3085, Rz 49; ebenso Senatsbeschluss vom 08.05.2017 - X B 150/16, [X.] 2017, 1185, Rz 15; [X.] in [X.], § 119 [X.]O Rz 127). Dies gilt unabhängig davon, ob eine anschließende Äußerung der oder des Beteiligten im konkreten Fall Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnen kann oder nicht (BVerfG-Beschluss in NJW 2014, 3085, Rz 49).

bb) Diesen Anforderungen ist die Vorgehensweise des [X.] nicht gerecht geworden. Es hat den für zutreffend erachteten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 %, der über den in den amtlichen Richtsätzen des [X.] ausgewiesenen Mittelwert von 257 % liegt, in entscheidungserheblicher Weise mit den Erkenntnissen aus der "speziellen Richtsatzsammlung" für Diskotheken begründet. So hat es insbesondere den Ansatz eines sich im oberen Bereich der "allgemeinen Richtsatzsammlung" liegenden Werts deshalb für gerechtfertigt gehalten, da sich dieser wiederum an der unteren Spannbreite der [X.] (280 % bis 600 %) bewegte ([X.]. 21 f. der [X.]). Über die für die Entscheidung maßgeblichen Inhalte der Abhandlung aus dem "Fachinfosystem [X.]" hat das [X.] den Kläger --so dessen Rüge und auch die Lage der [X.] vorher nicht in der gebotenen Weise in Kenntnis gesetzt, obwohl dem [X.] ausweislich der Urteilsgründe ("[X.]") offensichtlich bekannt war, dass weder der Kläger noch dessen Prozessbevollmächtigte in der Lage waren, auf andere Weise Zugang zu dem Dokument zu erhalten. Hierdurch blieb es dem Kläger verwehrt, zu den für die Entscheidung des [X.] maßgeblichen Inhalten der Abhandlung Stellung zu beziehen.

Der Senat stellt hiermit keinesfalls die Befugnis der Finanzverwaltung in Abrede, für [X.] Datenbanken aufzubauen und zu verwenden, die --anders als die [X.]-- nicht allgemein zugänglich sind (vgl. BFH-Urteil vom 17.10.2001 - I R 103/00, [X.], 68, [X.] 2004, 171, unter [X.]; vgl. auch Koenig/[X.]oester, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 162 Rz 109). Beabsichtigt aber das [X.], seine Entscheidung --in tragender [X.] auf Erkenntnisse aus einer solchen Quelle zu stützen, gebietet es die Wahrung des rechtlichen Gehörsanspruchs und ebenso der prozessualen Waffengleichheit, denjenigen Beteiligten, der sich gezwungenermaßen insoweit in einem Informationsdefizit befindet, in der rechtlich gebotenen Weise in den gleichen Kenntnisstand wie den Prozessgegner zu versetzen (vgl. auch Urteil des [X.] vom 20.03.1985 - 6 [X.] 22/83, [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 163).

c) Diesen Verfahrensfehler hat der Kläger ausdrücklich gerügt. Er hat ferner dargelegt, dass die Entscheidung des [X.] auf dem gerügten Verstoß gegen die gerichtliche Hinweispflicht i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O beruhen kann. Denn der Kläger hat ausgeführt, er habe weder prüfen noch sich dazu äußern können, ob die vom [X.] herangezogenen Erkenntnisse aus dem "Fachinfosystem [X.]" bundesweit Geltung beanspruchen können und auf seine speziellen Verhältnisse übertragbar sind. Diese Möglichkeit wird der Kläger im zweiten Rechtsgang erhalten.

2. Da das angefochtene Urteil bereits aufgrund des vorgenannten [X.] keinen Bestand haben kann, muss der Senat über die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage, ob eine (Voll-)Schätzung durch einen äußeren Betriebsvergleich anhand der amtlichen [X.] im Hinblick auf die dortige Nichtberücksichtigung von [X.] überhaupt als taugliche Schätzungsmethode zu werten ist, in diesem Verfahren keine Stellung beziehen.

3. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

X B 12/20

28.05.2020

Bundesfinanzhof 10. Senat

Beschluss

vorgehend FG Hamburg, 3. September 2019, Az: 2 K 218/18, Urteil

§ 162 Abs 1 AO, § 162 Abs 2 S 2 AO, § 96 Abs 1 S 1 Halbs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 Nr 3 FGO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.05.2020, Az. X B 12/20 (REWIS RS 2020, 3484)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3484

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