Bundessozialgericht, Urteil vom 06.04.2011, Az. B 4 AS 12/10 R

4. Senat | REWIS RS 2011, 7893

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Gegenstand

(Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Betriebskosten- bzw Heizkostennachforderung für frühere Bewilligungszeiträume - Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der tatsächlichen Verursachung - Kostenübernahme bis zum Ablauf der Übergangsfrist nach § 22 Abs 1 S 3 SGB 2)


Leitsatz

Ob der Grundsicherungsträger eine Betriebskostennachforderung zu übernehmen hat, beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der tatsächlichen Verursachung der Kosten.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen den Beschluss des [X.] vom 28. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 700,51 Euro.

2

Die Klägerin steht im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] Sie bewohnt eine Wohnung, für die sie zuletzt 445 Euro Miete zuzüglich einer Betriebskosten- und Warmwasserpauschale zu zahlen hatte. Der Beklagte wies die Klägerin mehrfach darauf hin, dass ihre Miete die Richtwerte nach den [X.] Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Unterkunft übersteige. Gleichwohl bewilligte er der Klägerin im gesamten [X.] bis einschließlich April 2008 Leistungen für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe.

3

Unter dem 29.12.2008 erhielt die Klägerin für ihre Mietwohnung die Betriebs- und Heizkostenabrechnung für den Zeitraum 1.1. bis 31.12.2007 in Höhe von 700,51 Euro. Am 5.1.2009 beantragte sie die Übernahme dieser Kosten. Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19.2.2009 ab, weil die tatsächlichen Kosten letztmalig bis zum 30.4.2008 übernommen worden seien. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7.4.2009 zurück.

4

Das SG hat den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die [X.] in Höhe von 700,51 Euro zu übernehmen (Urteil vom 12.6.2009). Das [X.] hat die Berufung des Beklagten mit Beschluss vom 28.12.2009 zurückgewiesen und ausgeführt: Das [X.] gehöre zum aktuellen Bedarf im [X.]. Es sei § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II anzuwenden. Das BSG habe entschieden, dass diese Regelung auch für Heizkosten gelte. Akzeptiere die Behörde die Kosten der Unterkunft als angemessen, könne der Leistungsberechtigte davon ausgehen, dass die Kosten der Unterkunft in vollem Umfang übernommen würden. Maßgeblich sei, ob der Betroffene die Aufwendungen senken könne. Rückwirkend bereits entstandene Verpflichtungen und bereits erfolgter Verbrauch könne nicht mehr gesenkt werden. Ob die Miete und die Heizkosten tatsächlich unangemessen seien, brauche nicht entschieden zu werden.

5

Mit seiner vom [X.] zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 22 SGB II. Er trägt vor, die Klägerin habe nicht auf die Leistung vertrauen dürfen, weil sie seit Mitte 2006 die positive Kenntnis davon gehabt habe, dass ihre Wohnung als unangemessen eingestuft worden sei. Der Auffassung, dass die Verwaltungsvorschriften [X.] hier keine Anwendung fänden, weil es sich um Betriebs- und Heizkosten handele, könne nicht gefolgt werden. Auch die Begründung, wonach der Leistungsberechtigte auf die Angemessenheit der Betriebskosten vertrauen könne, wenn die Unterkunftskosten als angemessen akzeptiert worden seien, treffe nicht zu. Der Beklagte habe lediglich die Kosten vorläufig übernommen und die Übergangsfrist wegen eines Härtefalls entsprechend den Regelungen der damaligen [X.] verlängert. Zwar habe die Klägerin nachträglich auf die bereits entstandene Verpflichtung keinen senkenden Einfluss mehr nehmen können. Hierauf könne sie sich jedoch nicht berufen, weil die Grundannahme des Beklagten, die Wohnung sei unangemessen, von ihm stets aufrechterhalten worden sei.

6

Der Beklagte beantragt,
den Beschluss des [X.] vom 28. Dezember 2009 und das Urteil des [X.] vom 12. Juni 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision des [X.]n ist unbegründet. Das [X.] hat zu Recht die Berufung des [X.]n zurückgewiesen. Die Klägerin hat gegen den [X.]n einen Anspruch auf Übernahme der Betriebskostennachzahlung.

1. Das beklagte [X.] ist gemäß § 70 [X.] SGG beteiligtenfähig (vgl Urteile des Senats vom 18.1.2011, ua - B 4 [X.]/10 R). Nach § 76 Abs 3 Satz 1 [X.] ist die gemeinsame Einrichtung als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisherigen beklagten Arbeitsgemeinschaft getreten. Dieser kraft Gesetzes eintretende [X.] wegen der Weiterentwicklung der [X.] stellt keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung dar. Das Passivrubrum war entsprechend von Amts wegen zu berichtigen.

Der Senat hat ebenfalls bereits entschieden, dass keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Vorschrift des § 44b [X.] bestehen, weil der Gesetzgeber sich bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung innerhalb des von Art 91e Abs 1 und 3 GG eröffneten Gestaltungsspielraums bewegt ([X.]e vom 18.1.2011, ua - B 4 [X.]/10 R).

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein der Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.], mit dem der [X.] die Übernahme der Betriebskostenabrechnung für das [X.] in Höhe von 700,51 Euro abgelehnt hat. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage 54 Abs 1 und 4 SGG iVm § 56 SGG).

3. Die Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheids misst sich an § 40 Abs 1 Satz 2 [X.] [X.] iVm § 330 Abs 3 Satz 1 [X.]I und § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, weil der [X.] bei der Leistungsbewilligung mit dem Bescheid vom 31.10.2008 für den Zeitraum vom 1.11.2008 bis 30.4.2009 Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 353,37 Euro monatlich bewilligt hatte und die Betriebskostenabrechnung zeitlich in diesen Bewilligungsabschnitt fällt. Mit ihren in den Vorinstanzen gestellten Anträgen auf Übernahme der Betriebskostenerstattung hat die Klägerin den Streitstoff ausdrücklich auf höhere Kosten für Unterkunft und Heizung beschränkt (zur Zulässigkeit einer derartigen Beschränkung siehe nur [X.] B 7b [X.] - [X.], 217 ff = [X.] 4-4200 § 22 [X.], jeweils Rd[X.]8). Der Höhe nach ist die Überprüfung im Revisionsverfahren auf weitere Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 700,51 Euro begrenzt, weil nur der [X.] gegen den zusprechenden Beschluss Berufung eingelegt hat.

4. Ob der Klägerin die [X.] zusteht, richtet sich nach § 48 Abs 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, hier der Bewilligungsbescheid betreffend den Zeitraum 1.11.2008 bis 30.4.2009 vom 31.10.2008, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Hierzu ist der Anspruch auf Kosten der Unterkunft und Heizung dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen (vgl nur [X.] vom [X.] - B 4 [X.]/09 R - [X.] 4-4200 § 22 [X.]). Es ergeben sich jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass die "gedeckelten" Unterkunftskosten der Klägerin, die die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 iVm § 19 Satz 1, § 22 [X.] erfüllt, zu hoch festgesetzt worden sein könnten.

Mit der Geltendmachung der [X.] durch den Vermieter ist eine rechtserhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten. § 22 Abs 1 [X.] erfasst nicht nur laufende, sondern auch einmalige Kosten für Unterkunft und Heizung ([X.] vom 16.12.2008 - [X.]/7b [X.]/06 R - [X.], 194 ff = [X.] 4-4200 § 22 [X.]6, jeweils RdNr 26). Soweit eine Nachforderung in einer Summe fällig wird, ist sie als tatsächlicher, aktueller Bedarf im Zeitpunkt ihrer Fälligkeit zu berücksichtigen, nicht aber auf längere Zeiträume zu verteilen ([X.] vom 15.4.2008 - [X.]/7b [X.]/06 R - [X.] 4-4200 § 9 [X.] RdNr 36). Nachzahlungen gehören demzufolge zum aktuellen Bedarf im [X.] (vgl nur [X.] vom [X.] - B 4 [X.]/09 R - [X.] 4-4200 § 22 [X.] Rd[X.]3).

Eine wesentliche Änderung iS von § 48 Abs 1 SGB X kann nicht mit der Argumentation verneint werden, die Klägerin habe im Januar 2009 keine höheren Leistungen für Unterkunft und Heizung beanspruchen können, weil ihr seit Mai 2008 lediglich noch Leistungen in abgesenkter Höhe gewährt worden seien. Hierbei kann der Senat dahinstehen lassen, ob die Annahme des [X.]n zutrifft, die Unterkunftskosten seien (von vornherein) unangemessen gewesen. Denn aus der Zuordnung des Bedarfs zum Bewilligungszeitraum der Fälligkeit der Nachforderung folgt nicht, dass auch die Angemessenheit der Unterkunfts- und Heizkosten nach den Verhältnissen im [X.] zu beurteilen ist.

Klarzustellen ist vielmehr, dass die Fälligkeit der [X.] im Januar 2009 nicht dazu führt, diesen Bedarf auch materiell diesem Monat zuzuordnen. Vielmehr beurteilt sich die Rechtslage nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen des Zeitraums, dem die fragliche Forderung nach ihrer Entstehung im tatsächlichen Sinne zuzuordnen ist. Für eine derartige Auslegung spricht schon die Überlegung, dass der Leistungsberechtigte allein in diesem Zeitraum die Unterkunfts- und Heizungskosten im Sinne seiner Obliegenheit zur Kostensenkung beeinflussen konnte. Nur eine derartige Auslegung des § 22 Abs 1 Satz 1 und 3 [X.] wird ferner der den Vorschriften innewohnenden Schutzfunktion gerecht. Der Anspruch beurteilt sich deshalb dem Grunde und der Höhe nach ausschließlich nach den Verhältnissen des Jahres 2007.

Unerheblich ist demgegenüber, dass der [X.] bereits für den fraglichen Zeitraum durch mehrere Kostensenkungsaufforderungen deutlich gemacht hatte, dass er die Unterkunftskosten für unangemessen hoch hielt. Bis zur Umsetzung der Kostensenkung ab Mai 2008 stand der Klägerin zumindest ein Anspruch nach § 22 Abs 1 Satz 3 [X.] zu. Dieser umfasste auch die fragliche Betriebskostennachzahlung. Insoweit hat das BSG bereits ausdrücklich entschieden, dass der Anwendungsbereich des § 22 Abs 1 Satz 3 [X.] sich auch auf die tatsächlichen Heizkosten erstreckt ([X.] vom 19.9.2008 - [X.] [X.]/07 R - RdNr 21 f). Dies ist zwischenzeitlich auch vom Gesetzgeber klargestellt worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Meta

B 4 AS 12/10 R

06.04.2011

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Berlin, 12. Juni 2009, Az: S 37 AS 14127/09, Urteil

§ 48 Abs 1 S 1 SGB 10, § 48 Abs 1 S 2 SGB 10, § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 vom 20.07.2006, § 22 Abs 1 S 3 SGB 2 vom 20.07.2006

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 06.04.2011, Az. B 4 AS 12/10 R (REWIS RS 2011, 7893)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7893

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