Bundessozialgericht, Beschluss vom 16.02.2022, Az. B 8 SO 96/20 B

8. Senat | REWIS RS 2022, 1221

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - vorherige Anhörung der Beteiligten - Entscheidung vor Ablauf der Anhörungsfrist - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter - absoluter Revisionsgrund


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 24. November 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit steht die Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem [X.] Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]) für das [X.].

2

Der Beklagte gewährte dem alleinstehenden Kläger, der eine mit Strom beheizte Wohnung bewohnt, für das [X.] Grundsicherungsleistungen unter Zugrundelegung eines Regelbedarfs abzüglich eines Anteils für Haushaltsenergie sowie Kosten der Unterkunft (KdU), wobei für die Monate Februar, März und ab April eine zusätzliche Heizkostenpauschale berücksichtigt wurde (Bescheide vom 27.12.2016 sowie vom 10.1.2017 und 28.3.2017; Widerspruchsbescheid vom 16.10.2018). Die Klage, mit der der Kläger höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines erhöhten Regelbedarfs (erhöhte Kosten für Bekleidung, Bettwäsche, Pflege- und Reinigungsmittel), höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung begehrt, blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts <[X.]> Ulm vom 17.9.2020). Das [X.] ([X.]) [X.] hat mit Schreiben vom 4.11.2020 (abgesandt am 9.11.2020) die Beteiligten auf das beabsichtigte Vorgehen nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz ([X.]) hingewiesen und Gelegenheit gegeben, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens 25.11.2020 Stellung zu nehmen. Es hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen (Beschluss vom [X.]) und zur Begründung ua ausgeführt, dass das angefochtene Urteil des [X.] sowie die angegriffenen Bescheide des Beklagten rechtmäßig seien und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzten. Der Senat schließe sich den Entscheidungsgründen des [X.] nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage uneingeschränkt an und sehe gemäß § 153 Abs 2 [X.] von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

3

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des [X.] hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Er rügt einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]), weil das [X.] den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 [X.] iVm Art 103 Abs 1 Grundgesetz ) verletzt habe, indem es die Entscheidung durch Beschluss noch vor Ablauf der gesetzten Frist getroffen und zugleich den Anspruch auf [X.] verletzt habe (Art 101 Abs 1 GG) sowie im Übrigen seiner Sachaufklärungspflicht nicht genügt und damit den Untersuchungsgrundsatz (§ 103 [X.]) verletzt habe.

4

II. Die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des [X.] vom [X.] ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 GG sowie eine Verletzung des Rechts auf [X.] nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 [X.] macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

5

Wenn ein Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung binnen einer bestimmten Frist setzt, verlangt das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich, dass das Gericht den Ablauf der Äußerungsfrist abwartet, bevor es entscheidet ([X.] <[X.]> vom 30.6.1976 - 2 BvR 164/76 - [X.] 42, 243, 247; [X.] vom [X.] KR 28/16 B - RdNr 8; B[X.] vom 12.10.2016 - [X.] [X.] 48/16 B - RdNr 7 mwN). Dies gilt auch dann, wenn dem Gericht die Sache entscheidungsreif erscheint ([X.] vom 24.1.1961 - 2 BvR 402/60 - [X.] 12, 110, 113).

6

Diesen Anforderungen genügt der Beschluss des [X.] vom [X.], mit dem das [X.] die Berufung des [X.] zurückgewiesen hat, nicht. Das [X.] hat mit Schreiben vom 4.11.2020 die Beteiligten auf das beabsichtigte Vorgehen nach § 153 Abs 4 [X.] hingewiesen und Gelegenheit gegeben, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens 25.11.2020 Stellung zu nehmen. Es kann offenbleiben, ob mit einer Frist, die bei Absendung des Schreibens erst am 9.11.2020 und unter Zugrundelegung der üblichen Postlaufzeiten (zum und vom Kläger) zwei Wochen kaum erreicht haben dürfte, dem [X.] nach § 153 Abs 4 Satz 2 [X.] genüge getan ist (vgl dazu [X.] in jurisPK-[X.], 1. Aufl 2017, § 153 Rd[X.]09 mwN zum Streitstand). Jedenfalls durfte der Kläger darauf vertrauen, dass vor Ablauf des 25.11.2020 eine Entscheidung des [X.] nicht ergehen würde. Der im Parallelverfahren (Az: L 2 SO 3298/20) mandatierte Rechtsanwalt hat entsprechend im Nachgang mitgeteilt, wegen der Vertretung in vorliegenden Verfahren noch Rücksprache mit dem Kläger halten zu müssen.

7

Vor Ablauf der vom Gericht gesetzten [X.] darf das Gericht nicht entscheiden (B[X.] vom 12.10.2016 - [X.] [X.] 48/16 B - RdNr 7; B[X.] vom 11.5.1995 - 2 [X.] 43/94 - [X.] 1995, 2372). Ausnahmsweise muss es den Ablauf der von ihm gesetzten, angemessenen Frist zur Stellungnahme nur dann nicht abwarten, wenn ein Beteiligter sich vor Fristablauf abschließend geäußert hat (B[X.] vom 12.10.2016 - [X.] [X.] 48/16 B - RdNr 7 mwN; B[X.] vom [X.] KR 28/16 B - RdNr 8) und weitere Stellungnahmen nach Lage der Dinge nicht zu erwarten sind (B[X.] vom [X.] KR 28/16 B - RdNr 8; Roller in [X.], [X.], 6. Aufl 2021, § 105 RdNr 8; [X.] in [X.], [X.], § 105 RdNr 51, Stand Mai 2018). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

8

Dadurch, dass das [X.] vor Ablauf der von ihm gesetzten [X.] entschieden hat, hat es § 153 Abs 4 Satz 2 [X.] verletzt. Diese Situation ist vergleichbar mit einer unterbliebenen Anhörung (B[X.] vom 24.2.2016 - [X.] R 341/15 B - [X.]; B[X.] vom [X.] KR 28/16 B - RdNr 9; B[X.] vom [X.] [X.] B - [X.]). Der darin liegende Anhörungsmangel ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 Satz 1 [X.] iVm § 547 [X.] Zivilprozessordnung ), bei dem das Beruhen der Entscheidung auf dem Verfahrensfehler vermutet wird. Der in einer unterbliebenen Anhörung liegende Verfahrensfehler führt nicht nur zu einer Verletzung des Anspruchs des [X.] auf rechtliches Gehör, sondern auch zu einer unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (nur mit Berufsrichtern) und damit zu einer Verletzung des Rechts des [X.] auf [X.] (vgl zuletzt B[X.] vom [X.] [X.] B - [X.] mwN; kritisch zum Ganzen, [X.] in [X.], Stand November 2021, § 153 RdNr 45; [X.] in jurisPK-[X.], 1. Aufl 2017, § 153 Rd[X.]37).

9

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des [X.] vorbehalten.

                 [X.]                 [X.]

Meta

B 8 SO 96/20 B

16.02.2022

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Ulm, 17. September 2020, Az: S 13 SO 1282/20, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 16.02.2022, Az. B 8 SO 96/20 B (REWIS RS 2022, 1221)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1221

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