Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.08.2023, Az. 3 StR 462/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2023, 6348

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Gegenstand

Betäubungsmitteldelikt: Beginn der nicht geringen Menge bei Levometamfetamin


Leitsatz

Für Levometamfetamin - (R)-(Methyl)(1-phenylpropan-2-yl)azan - beginnt die nicht geringe Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG bei 50 g der wirkungsbestimmenden Base.

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 22. September 2022 im Strafausspruch aufgehoben; jedoch werden die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in jeweils nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und die Einziehung der sichergestellten Betäubungsmittel angeordnet. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

2

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. Der Angeklagte fuhr am 4. April 2022 im Auftrag eines unbekannt gebliebenen Rauschgifthändlers in die [X.], wo er insgesamt 997,78 Gramm Kokain mit einer Wirkstoffmenge von 796 Gramm [X.] und 992,27 Gramm [X.] mit einer Wirkstoffmenge von 705 Gramm [X.]-Base übernahm. Er reiste noch am selben Tag in Kenntnis des Transportes einer nicht geringen Menge Betäubungsmittel und deren Bestimmung zum gewinnbringenden Weiterverkauf mit einem Bus nach [X.] ein, wobei er die Betäubungsmittel in dem [X.] über seinem Sitz verstaute. Im Rahmen einer Routinekontrolle wurden die Betäubungsmittel sichergestellt.

4

2. Das [X.] hat die Tat als Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in jeweils nicht geringer Menge gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, §§ 27, 52 StGB gewertet. Bezüglich des sichergestellten [X.]s hat das [X.] einen Grenzwert der nicht geringen Menge von 10 Gramm [X.]-Base angenommen. Im Rahmen der Strafzumessung hat es die Höhe der Grenzwertüberschreitung strafschärfend berücksichtigt.

II.

5

Die materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch und zur Einziehungsentscheidung keinen Rechtsfehler ergeben. Der Strafausspruch hat demgegenüber keinen Bestand; denn das [X.] ist von einem zu niedrigen Grenzwert der nicht geringen Menge von [X.] und damit von einem zu hohen Unrechts- und Schuldgehalt der Tat ausgegangen.

6

1. Der Grenzwert der nicht geringen Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG für [X.] beträgt - anders als vom [X.] angenommen - 50 Gramm der wirkungsbestimmenden Base. Dies beruht auf Folgendem:

7

a) Der Grenzwert der nicht geringen Menge eines Betäubungsmittels ist stets in Abhängigkeit von dessen konkreter Wirkungsweise und Wirkungsintensität festzulegen. Maßgeblich ist zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs. Fehlen hierzu gesicherte Erkenntnisse, so errechnet sich der Grenzwert als ein Vielfaches der durchschnittlichen [X.]einheit eines nicht an den Genuss dieser Droge gewöhnten [X.]enten. Das Vielfache ist nach Maßgabe der Gefährlichkeit des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder sonst die Gesundheit schädigenden Potentials, zu bemessen. Lassen sich auch zum [X.]verhalten keine ausreichenden Erkenntnisse gewinnen, so entscheidet ein Vergleich mit verwandten Wirkstoffen (st. Rspr.; siehe etwa [X.], Beschluss vom 8. März 2022 - 3 StR 136/21, juris Rn. 12; Urteile vom 17. November 2011 - 3 [X.], [X.]St 57, 60 Rn. 10; vom 24. April 2007 - 1 StR 52/07, [X.]St 51, 318 Rn. 12 ff.).

8

b) Ausweislich des vom Senat eingeholten Gutachtens des Sachverständigen   D.     handelt es sich bei [X.] - auch bezeichnet als Levmetamfetamin; chemische Bezeichnung ([X.])[X.] - um ein sogenanntes L-Enantiomer, mithin die linksdrehende Form von (S)-Metamfetamin. Es ist ein verkehrsfähiges, aber nicht verschreibungsfähiges Betäubungsmittel nach [X.] zu § 1 Abs. 1 BtMG.

9

aa) [X.] findet sich als weiterverwendbares „Abfallprodukt“ des Herstellungsprozesses von Metamfetamin vor allem in kristalliner Form sowohl als Reinstoff als auch in Gemischen mit Metamfetamin auf dem illegalen Drogenmarkt. Während zuvor keine nennenswerten Sicherstellungen der Substanz zu verzeichnen waren, nehmen diese seit den Jahren 2016/2017 zu. [X.] wurde in acht Prozent der bundesweit 1.431 analysierten (vermeintlichen) [X.] [X.] als alleiniger Wirkstoff und in 16 Prozent der Proben in Kombination mit Metamfetamin identifiziert. Aussehen und Konsistenz ähneln Metamfetamin in Gestalt des sogenannten „[X.]“ und sind selbst für den durchschnittlichen [X.]enten sowie für im Umgang mit dem Stoff wenig erfahrene [X.] beim Erwerb kaum unterscheidbar.

bb) [X.] wird wie Metamfetamin geschluckt, geschnupft oder geraucht, seltener injiziert oder rektal konsumiert. Es überwindet die Blut-Hirn-Schranke und wirkt auf das zentrale Nervensystem hauptsächlich durch selektive Ausschüttung von Noradrenalin und eine daraus resultierende Aktivitätssteigerung des Sympathikus bei gleichzeitiger Verhinderung der natürlicherweise stattfindenden Inaktivierung der Neurotransmitter durch Rückspeicherung in ihre Speichervesikel und Hemmung ihres enzymatischen Abbaus. Dies führt zu einem Gefühl körperlichen Wohlbefindens, einer Antriebssteigerung, Euphorie und einer Unterdrückung von Hunger- und Erschöpfungsempfinden.

Als Nebenwirkungen des [X.]s können Angstzustände, Schlaflosigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Essstörungen, Bluthochdruck, Herzrasen, Übelkeit, Magenkrämpfe, Schwitzen, Muskelverspannungen und Zittern auftreten.

cc) Metamfetamin und [X.] weisen hinsichtlich der Pharmakokinetik keine wesentlichen Unterschiede auf. Im Vergleich zu Metamfetamin ist bei [X.] jedoch eine deutlich geringere psychoaktive Wirksamkeit festzustellen. Die - überschaubare - Studienlage weist hierbei auf eine 5- bis 10-fach geringere Potenz von [X.] gegenüber Metamfetamin hin (vgl. hierzu auch [X.]/[X.], [X.], 615, 616; [X.], [X.], 8. Aufl., Rn. 3374; [X.]/[X.]/[X.], BtMG, 6. Aufl., § 1 Rn. 479; [X.]/[X.]/[X.], BtMG, 10. Aufl., [X.]. §§ 29 ff. Rn. 207a); Studien an Menschen sprechen hierbei für eine 10-fach geringere psychoaktive Wirksamkeit.

Dies gilt allerdings nicht in Bezug auf die peripher-somatischen autonomen Effekte, die über den sympathischen Nervenstrang zum Beispiel auf Blutdruck und Herzfrequenz wirkend ausgelöst werden; diese stellen sich bei [X.] in Korrelation zu Metamfetamin vergleichbar oder sogar ausgeprägter dar.

dd) Zu den Erfahrungen der [X.]enten mit dem Betäubungsmittel und ihrem [X.]verhalten, insbesondere durchschnittlichen [X.]einheiten lässt die Forschung noch keine verlässlichen Schlüsse zu. Es scheint bislang keinen klassischen [X.]-Markt zu geben. Aufgrund der für [X.]enten spürbar geringeren psychostimulierenden Wirkungen von [X.] sind monokausale Gefahren, Gewöhnung und Folgeschäden vom alleinigen [X.] dieses Wirkstoffes kaum zu erwarten. Es ist insoweit eher von einem episodenhaften [X.] durch Chrystal-Meth-[X.]enten auszugehen. Allerdings ist denkbar, dass [X.] für ungewohnte Erstkonsumenten zu einer Einstiegsdroge für den Missbrauch des potenteren Metamfetamin wird oder [X.]enten auf die geringere psychoaktive Wirksamkeit durch Dosisteigerungen reagieren.

c) Ausgehend von den vorgenannten Grundsätzen ist mangels gesicherter Erkenntnisse zu der äußerst gefährlichen bzw. tödlichen Dosis oder der durchschnittlichen [X.]einheit von [X.] auf den Vergleich mit verwandten Wirkstoffen, vorliegend mit Metamfetamin als dem rechtsdrehenden Enantiomer, abzustellen. Angesichts der erheblich unterschiedlichen psychoaktiven Wirksamkeit von bis zu 10-fach geringerer Potenz von [X.] im Vergleich zu Metamfetamin, bei welchem die nicht geringe Menge bei fünf Gramm [X.] beginnt ([X.], Urteil vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, [X.]St 53, 89), ist unter Berücksichtigung der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen   D.     in Übereinstimmung mit dem Vorschlag einer Projektgruppe aus Vertretern kriminaltechnischer Institute von Bund und Ländern ([X.]/[X.] u.a., [X.] 2019, 5, 14 f.) nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft ein Grenzwert der nicht geringen Menge für [X.] von 50 Gramm [X.]-Base festzusetzen.

Eine abweichende Beurteilung gebietet vorliegend nicht das etwaige Bedürfnis einer einheitlichen Behandlung von [X.] und anderen, sich in der Wirkweise gleichenden, jedoch eine unterschiedliche Wirkungsintensität aufweisenden Substanzen (vgl. hierzu [X.], Urteile vom 17. November 2011 - 3 [X.], [X.]St 57, 60 Rn. 10; vom 9. Oktober 1996 - 3 StR 220/96, [X.]St 42, 255, 267 f.).

Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass zwar bislang kein klassischer abgrenzbarer Markt für [X.] beobachtet wurde, gleichwohl jedoch die Sicherstellungen dieses Betäubungsmittels ansteigen und bei den [X.] bundesweit vorgenommenen Analysen der vermeintlichen [X.] bereits in acht Prozent der untersuchten Proben [X.] als alleiniger Wirkstoff festzustellen war, was für eine zunehmende Marktrelevanz dieses Betäubungsmittels spricht.

Zudem stünde einer Gleichbehandlung mit anderen gleich wirkenden, jedoch unterschiedlich potenten Substanzen - vorliegend in Gestalt von Metamfetamin - bei Zugrundelegung der für Metamfetamin geltenden Grenze zur nicht geringen Menge das Gebot der fehlenden Täterbenachteiligung entgegen. Diesem könnte nur dadurch Rechnung getragen werden, dass insgesamt der Wert für diejenige Erscheinungsform zugrunde gelegt wird, welche die geringste Wirkungsintensität aufweist (vgl. [X.], Urteile vom 17. November 2011 - 3 [X.], [X.]St 57, 60 Rn. 10; vom 9. Oktober 1996 - 3 StR 220/96, [X.]St 42, 255, 267 f.). Ein solches Vorgehen verbietet sich indes angesichts der signifikant unterschiedlichen Wirkungsintensität der betroffenen Betäubungsmittel.

Etwas anderes gilt auch nicht unter Berücksichtigung der peripher-somatischen autonomen Effekte, die bei dem [X.] von [X.] im Vergleich zu Metamfetamin in gleicher oder sogar ausgeprägterer Form festgestellt werden konnten. Die insoweit beobachteten Auswirkungen des [X.]s auf das vegetative Nervensystem stellen sich als weniger gefährlich dar als diejenigen, die durch die psychoaktive Wirkung auf das zentrale Nervensystem, beispielsweise durch eine mögliche Blockierung des Atemzentrums, entstehen. Todesfälle sind infolge der bei [X.] zu beobachtenden peripher-somatischen Nebenwirkungen nicht bekannt geworden. Die deutlich geringere psychoaktive Wirksamkeit von [X.] einschließlich der hiermit einhergehenden geringer ausgeprägten Wirkungen auf das zentrale Nervensystem und des geringeren Abhängigkeitspotentials begründet damit die insgesamt betrachtet herabgesetzte Gefährlichkeit dieser Droge, welcher im Rahmen der Grenzwertziehung entsprechend Rechnung zu tragen ist. Dies wiederum entspricht auch der Einschätzung der genannten Projektgruppe, welche im Rahmen ihres Vorschlags die peripher-somatischen autonomen Effekte von [X.] ebenfalls berücksichtigt und gleichwohl eine entsprechende Grenzwertfestlegung befürwortet hatte.

2. Während der Schuldspruch schon mit Blick auf das die nicht geringe Menge überschreitende tatbetroffene Kokain keinen Rechtsfehler aufweist, beruht der Strafausspruch auf der abweichenden Beurteilung der nicht geringen Menge für [X.] durch das [X.], denn die [X.] hat im Rahmen der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten explizit die für beide sichergestellten Betäubungsmittel erreichten Grenzwerte („das 229-fache des Grenzwertes zur nicht geringen Menge“ unter Annahme einer 70,5-fachen Grenzwerterreichung in Bezug auf das sichergestellte [X.]) berücksichtigt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie bei Zugrundelegung des zutreffenden Grenzwertes und einer danach in Bezug auf das sichergestellte [X.] lediglich 14-fachen Erreichung der nicht geringen Menge auf eine geringere Strafe erkannt hätte.

Die zugehörigen Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

Schäfer     

      

Hohoff     

      

Anstötz

      

Kreicker     

      

Voigt     

      

Meta

3 StR 462/22

10.08.2023

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Kleve, 22. September 2022, Az: 120 KLs 23/22

§ 29a Abs 1 Nr 2 BtMG, § 30 Abs 1 Nr 4 BtMG, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.08.2023, Az. 3 StR 462/22 (REWIS RS 2023, 6348)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6348

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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