Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 24.07.2012, Az. 1 AZB 47/11

1. Senat | REWIS RS 2012, 4333

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Gegenstand

Tariffähigkeit - Tarifzuständigkeit - Aussetzung


Leitsatz

Einer Aussetzung iSd. § 97 Abs. 5 ArbGG bedarf es nicht, wenn über den erhobenen Anspruch ohne Klärung der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften entschieden werden kann. Dies setzt eine vorherige Prüfung der Schlüssigkeit und der Erheblichkeit des Parteivorbringens in Bezug auf die Klageforderung ebenso voraus wie die Durchführung einer ggf. notwendigen Beweisaufnahme.

Tenor

1. Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 17. August 2011 - 2 Ta 44/11 - aufgehoben.

Die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des [X.] vom 16. Mai 2011 - 3 [X.]/11 - wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des [X.] hat die Beklagte zu tragen.

Gründe

1

I. Der Kläger war bei der Beklagten vom 1. Juli 2007 bis zum 31. Mai 2008 als Leiharbeitnehmer beschäftigt. Im Arbeitsvertrag war die Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge zwischen dem [X.] ([X.]) und der [X.] ([X.]) vereinbart. Mit der vorliegenden Klage macht der Kläger Differenzlohnansprüche gemäß § 9 Nr. 2 AÜG geltend.

2

Die Beklagte hat beantragt, das Verfahren nach § 97 Abs. 5 ArbGG auszusetzen. Diesen Antrag hat das Arbeitsgericht abgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten hat das [X.] den Rechtsstreit bis zur Klärung der Tariffähigkeit der [X.] „zum [X.]punkt des Abschlusses der zwischen dem 01.07.2007 und 31.05.2008 einschlägigen Tarifverträge“ ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.

3

II. [X.] ist begründet. Ein Grund für die Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung über die Tariffähigkeit der [X.] besteht nicht. Die angefochtene Entscheidung unterliegt schon deshalb der Aufhebung, weil es an einer Begründung für die Entscheidungserheblichkeit der Tariffähigkeit der [X.] fehlt und der [X.]punkt für das Vorliegen dieser Eigenschaft nicht hinreichend bezeichnet ist. Einer darauf gestützten Zurückverweisung bedarf es indes nicht, da die fehlende Tariffähigkeit der [X.] rechtskräftig festgestellt ist.

4

1. Nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG auszusetzen, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Vereinigung tariffähig ist oder ob die Tarifzuständigkeit der Vereinigung gegeben ist. Über die für die Ordnung des Arbeitslebens bedeutsame Eigenschaft der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung soll in einem objektivierten Verfahren, in dem die jeweils beteiligten Personen und Stellen anzuhören sind (§ 97 Abs. 2 iVm. § 83 Abs. 3 ArbGG), einheitlich mit Wirkung gegenüber jedermann entschieden werden. Zu den formellen Voraussetzungen eines Aussetzungsbeschlusses, der die Grundlage für das nach § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG einzuleitende Beschlussverfahren bildet, gehört die Begründung der Entscheidungserheblichkeit der vorgenannten Eigenschaften und die Angabe des [X.]punkts, für den diese geklärt werden sollen.

5

a) Die Entscheidungserheblichkeit iSd. § 97 Abs. 5 ArbGG liegt nur vor, wenn der prozessuale Anspruch der klagenden [X.] allein von der Geltung einer bestimmten Kollektivvereinbarung als Tarifvertrag iSd. § 1 Abs. 1 [X.] abhängt. Eine Aussetzung hat zu unterbleiben, wenn über den erhobenen Anspruch ohne die Klärung der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften entschieden werden kann ([X.] 28. Januar 2008 - 3 [X.] - Rn. 10, [X.] 1979 § 97 Nr. 17 = EzA ArbGG 1979 § 97 Nr. 9). Dies setzt eine vorherige Prüfung der Schlüssigkeit und der Erheblichkeit des [X.]vorbringens in Bezug auf die Klageforderung ebenso voraus wie die Durchführung einer ggf. notwendigen Beweisaufnahme. Die Entscheidung über den erhobenen Anspruch darf nur noch vom Vorliegen der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit der Vereinigung abhängen. Im Aussetzungsbeschluss ist daher zu begründen, dass und in welchem Umfang die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften für den erhobenen prozessualen Anspruch von Bedeutung sind. Es stünde im Widerspruch zum [X.] (§ 9 Abs. 1, § 61a Abs. 1 ArbGG) wie auch zu den Grundsätzen der Verfahrensökonomie, die [X.]en des Ausgangsverfahrens auf die Durchführung eines Beschlussverfahrens über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung zu verweisen, ohne dass zuvor feststeht, in welcher Weise das Ergebnis des auszusetzenden Verfahrens von der Durchführung eines solchen Beschlussverfahrens abhängt.

6

b) Das Arbeitsgericht hat im Aussetzungsbeschluss nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG den [X.]punkt, zu dem die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften vorliegen müssen, anzugeben. Unzureichend ist es, wenn im Tenor oder in den Gründen nur die Dauer des Arbeitsverhältnisses angegeben wird und auf die in diesem [X.]raum geltenden Tarifverträge verwiesen wird. Vielmehr ist das Abschlussdatum des für entscheidungserheblich angesehenen Tarifvertrags konkret zu bezeichnen, da sich in den Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG die Antragsbefugnis der [X.]en des Ausgangsrechtsstreits für die Klärung der dort genannten Eigenschaften nach dem im Aussetzungsbeschluss angeführten [X.]punkt bestimmt (vgl. [X.] 29. Juni 2004 - 1 [X.] - zu [X.] 2 a der Gründe, [X.]E 111, 164).

7

2. Die Aussetzung eines Verfahrens nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG darf nur erfolgen, wenn zumindest eine der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften einer Vereinigung aufgrund vernünftiger Zweifel streitig ist, wobei im Arbeitsleben geäußerte Vorbehalte zu berücksichtigen und vom Arbeitsgericht aufzugreifen sind ([X.] 14. Dezember 2010 - 1 [X.] - Rn. 59, [X.] § 2 Tariffähigkeit Nr. 6 = EzA [X.] § 2 Nr. 31). Danach ist der Ausgangsrechtsstreit nicht schon dann auszusetzen, wenn die Tariffähigkeit oder die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung nur von einer [X.] ohne Angabe nachvollziehbarer Gründe in Frage gestellt wird. Eine solche Auslegung der Aussetzungspflicht in § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG würde den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergebenden Anforderungen an die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes nicht genügen.

8

a) Nach der Rechtsprechung des [X.] folgt für zivilrechtliche Streitigkeiten aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) die Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener [X.] abzuschließen. Dabei ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen (vgl. [X.] 1. Senat 3. Kammer 2. Dezember 2011 - 1 BvR 314/11 - zu III 1 a der Gründe, [X.], 177). Dieses Gebot hat der Gesetzgeber für die arbeitsgerichtlichen Verfahren einfach-gesetzlich durch den [X.] normiert. Dieser Grundsatz verpflichtet die Gerichte für Arbeitssachen, die bei ihnen anhängigen Verfahren, unter Beachtung des materiellen und des Verfahrensrechts zügig zum Abschluss zu bringen. Der [X.] stellt nicht nur einen unverbindlichen Programmsatz dar, sondern ist bei der Auslegung von Verfahrensvorschriften zu beachten, die Einfluss auf die Dauer des Rechtsstreits haben ([X.] 5. August 1982 - 2 [X.] - zu [X.]I 4 c der Gründe, [X.]E 40, 17). Zwar wird einer raschen Verfahrensbeendigung durch § 9 Abs. 1, § 61a Abs. 1 ArbGG kein absoluter Vorrang gegenüber der Verwirklichung von materieller Gerechtigkeit eingeräumt. Deren Wert kann jedoch durch eine verzögerte oder verspätete Entscheidung beeinträchtigt werden. Bei Klagen auf Arbeitsvergütung ist zu berücksichtigen, dass die Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis für den Arbeitnehmer vielfach seine alleinige wirtschaftliche Lebensgrundlage darstellen. Eine Aussetzung des Ausgangsrechtsstreits hat zur Folge, dass die klagende [X.] ihr Recht auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht innerhalb angemessener [X.] durchsetzen kann und überdies mit dem Insolvenzrisiko der beklagten [X.] belastet wird. Ein Verfahrensstillstand durch eine nicht gebotene Aussetzung des Rechtsstreits stellt eine nachhaltige Verletzung des Beschleunigungsgebots dar. Darüber hinaus ist die Durchführung eines nach § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG eingeleiteten Beschlussverfahrens über die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften für alle anzuhörenden Beteiligten regelmäßig mit einem hohen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden.

9

b) Die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem [X.] ergebenden Vorgaben dürfen daher bei der Auslegung der Anforderungen für die Aussetzungsentscheidung nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG nicht unberücksichtigt bleiben. Eine Aussetzung des Ausgangsrechtsstreits ist auch unter Berücksichtigung des Normzwecks des § 97 Abs. 5 ArbGG nicht geboten, wenn die Beurteilung der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung ein Verfahren nach § 97 ArbGG nicht erfordert. Eines solchen Verfahrens bedarf es nicht, wenn über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung für den entscheidungserheblichen [X.]punkt bereits rechtskräftig entschieden ist. Gleiches gilt, wenn am Vorliegen der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften keine vernünftigen Zweifel bestehen. Nur ein solches Verständnis trägt einerseits den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung von effektivem Rechtsschutz Rechnung und berücksichtigt den Normzweck des § 97 ArbGG.

3. Danach liegt ein Grund für die Aussetzung des Rechtsstreits nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG zur Einleitung eines Beschlussverfahrens über die Tariffähigkeit der [X.] nicht vor.

a) Die angefochtene Entscheidung ist schon deshalb aufzuheben, weil das [X.] die Entscheidungserheblichkeit der Tariffähigkeit der [X.] nicht begründet hat. Es hat in seinem Aussetzungsbeschluss weder die Schlüssigkeit der Klageforderung festgestellt noch ist es auf die von der Beklagten dagegen erhobenen Einwendungen eingegangen. Ebenso kann der angefochtenen Entscheidung nicht entnommen werden, von welchen Tarifverträgen aus Sicht des [X.]s die Beurteilung der Klageforderung abhängt. Diese werden weder in den Gründen aufgeführt noch ist dort oder im Tenor ein [X.]punkt angegeben, für den in einem nachfolgenden Beschlussverfahren die Tariffähigkeit der [X.] beurteilt werden soll.

b) Der Senat kann von einer hierauf gestützten Zurückverweisung absehen. Dabei kann offen bleiben, ob das Beschwerdegericht das Verfahren wegen der aus seiner Sicht klärungsbedürftigen Frage der Tariffähigkeit der [X.] nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG zu Recht ausgesetzt hat. Nach dem Senatsbeschluss vom 14. Dezember 2010 (- 1 [X.] - Rn. 59, [X.] § 2 Tariffähigkeit Nr. 6 = EzA [X.] § 2 Nr. 31) und der in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung des [X.]s Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2012 (- 24 [X.] 1285/11 ua. - [X.] 2012, 693) steht fest, dass die [X.] im zeitlichen Geltungsbereich ihrer Satzungen vom 11. Dezember 2002, 5. Dezember 2005 sowie vom 8. Oktober 2009 weder als [X.] nach § 2 Abs. 1 [X.] noch als Spitzenorganisation nach § 2 Abs. 3 [X.] tariffähig ist ([X.] 23. Mai 2012 - 1 [X.] - Rn. 5, [X.] 2012, 625; 23. Mai 2012 - 1 [X.] - Rn. 12, [X.] 2012, 623). Eines erneuten Verfahrens nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG bedarf es danach nicht mehr.

        

    Schmidt    

        

    [X.]    

        

    Koch    

        

        

        

        

        

        

                 

Meta

1 AZB 47/11

24.07.2012

Bundesarbeitsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AZB

vorgehend ArbG Schwerin, 16. Mai 2011, Az: 3 Ca 200/11, Beschluss

§ 2a Abs 1 Nr 4 ArbGG, § 97 Abs 5 ArbGG, § 9 Abs 1 ArbGG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 24.07.2012, Az. 1 AZB 47/11 (REWIS RS 2012, 4333)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 4333

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Referenzen
Wird zitiert von

12 TaBV 55/17

3 Sa 744/12

13 Sa 673/12

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