Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2020, Az. B 4 AS 4/20 R

4. Senat | REWIS RS 2020, 2306

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Rücknahmestreit über Beendigung eines Klageverfahrens (hier: durch Klagerücknahmefiktion) - Zulassungsbedürftigkeit der Berufung - Revision ohne Sachantrag - Zulässigkeit - Prozessentscheidung des Berufungsgerichts


Leitsatz

Eine Berufung ist bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch dann zulassungsbedürftig, wenn im sogenannten Rücknahme- oder Erledigungsstreit darüber gestritten wird, ob das Verfahren (hier: durch Klagerücknahmefiktion) beendet ist.

Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 9. Juli 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Das Revisionsverfahren betrifft die Frage, ob im Rücknahmestreit nach einer Klagerücknahmefiktion die Zulässigkeit der Berufung den Beschränkungen des § 144 Abs 1 [X.]G unterliegt.

2

Der Kläger beantragte am 5.7.2016 beim Beklagten die Weiterbewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem [X.] und machte dabei als Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) einen monatlichen Betrag von 363,67 [X.] geltend. Der Beklagte bewilligte ihm vorläufig Leistungen für Juli bis Dezember 2016 (Bescheid vom 16.9.2016; Widerspruchsbescheid vom 5.12.2016), unter anderem Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 314,30 [X.] (Juli und August 2016) bzw monatlich 340,30 [X.] (September bis Dezember 2016).

3

Der Kläger hat beim [X.] Klage erhoben mit dem Ziel der Verurteilung des Beklagten zur Gewährung der KdU in tatsächlicher Höhe (Differenz zum bewilligten Betrag insgesamt: 192,22 [X.]). Nach vorheriger Betreibensaufforderung hat das [X.] den Beteiligten mit Verfügung vom 29.8.2017 mitgeteilt, dass die Klage als zurückgenommen gelte, weil der Bevollmächtigte des [X.] das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben habe.

4

Am 2.10.2017 hat der Kläger die "Wiederaufnahme" und Fortführung des Verfahrens beantragt. Das [X.] hat daraufhin festgestellt, dass das ursprüngliche Verfahren durch fingierte Klagerücknahme erledigt sei (Gerichtsbescheid vom 2.1.2018). Das [X.] hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass die Berufung nicht ausgeschlossen sei, selbst wenn sie im ursprünglichen Verfahren nicht zulassungsfrei gewesen wäre. Im Rücknahmestreit sei nur streitgegenständlich, ob sich das ursprüngliche Verfahren durch Klagerücknahme erledigt habe. Dies stelle keinen bezifferbaren Wert des [X.] des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.]G dar. Der Gerichtsbescheid hat über das Rechtsmittel der Berufung belehrt.

5

Das L[X.] hat die Berufung des [X.] als unzulässig verworfen (Urteil vom [X.]). Auch der Rücknahmestreit unterliege den Beschränkungen des § 144 Abs 1 [X.]G. Der Wert des [X.] entspreche dem "Gegenstandswert" des ursprünglichen Verfahrens, der 192,22 [X.] betragen habe. Die Berufung sei weder vom [X.] noch vom L[X.] zugelassen worden.

6

Mit seiner vom L[X.] zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 143 [X.]G. Das L[X.] habe den Ausnahmetatbestand des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G zu Unrecht für einschlägig gehalten. Es handele sich vorliegend nicht um eine vermögensrechtliche Streitigkeit im Sinne dieser Vorschrift, da alleine die Beendigung des Rechtsstreites Gegenstand des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides gewesen sei. Anders als im Fall der Untätigkeitsklage stünden Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffneten. Da damit der Schutzbereich des Art 19 Abs 4 GG eröffnet sei, sei eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Die Möglichkeit einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung vermöge keinen ausreichenden Schutz zu gewährleisten. Die Geltendmachung eines [X.] unterliege besonderen formellen Anforderungen. Zudem werde die unberechtigte Annahme einer Klagerücknahmefiktion nicht von allen L[X.] als Verfahrensfehler angesehen.

7

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 9. Juli 2019 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Der Beklagte hält das Urteil des L[X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des [X.] ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Das [X.] hat die Berufung des [X.] gegen den Gerichtsbescheid des [X.] zu Recht als unzulässig verworfen. Die Berufung war unzulässig, weil sie der Zulassung bedurfte hätte, sie aber nicht zugelassen worden war.

1. Der Zulässigkeit der Revision steht nicht entgegen, dass der Kläger nur die Aufhebung des Urteils des [X.] und die Zurückverweisung des Rechtsstreites an dieses Gericht beantragt hat, also keinen Sachantrag gestellt hat. Zwar mag es zweifelhaft sein, ob ein Revisionskläger für einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis hat, wenn er einen Antrag stellen kann, der auf eine den Rechtsstreit abschließende Entscheidung des [X.] gerichtet ist (B[X.] vom 4.4.2017 - B 4 [X.]/16 R - B[X.]E 123, 62 = [X.]-1500 § 102 [X.], Rd[X.]7; wohl generell für Unzulässigkeit eines bloßen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrags Hauck in [X.], [X.]G, § 164 RdNr 92, März 2019). In einem solchen Fall könnte der Rechtsstreit einfacher und prozessökonomischer zu einem Ende geführt werden (vgl B[X.] vom [X.] - 4 RA 52/93 - [X.]-1500 § 164 [X.], juris RdNr 9 f). Für diese Bedenken ist aber kein Raum, wenn ein Verfahrensmangel des Berufungsverfahrens gerügt wird, der nur zur Folge haben kann, dass es zur Aufhebung und Zurückverweisung kommt, weil das Urteil des [X.] kein geeigneter Gegenstand einer revisionsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung über ein Leistungsbegehren ist (vgl B[X.] vom 4.4.2017 - B 4 [X.]/16 R - B[X.]E 123, 62 = [X.]-1500 § 102 [X.], Rd[X.]7). So liegt der Fall hier, weil das [X.] die Berufung als unzulässig verworfen hat. Zwar kann das Revisionsgericht auch nach einem Prozessurteil eine Sachentscheidung treffen, wenn sich die Klage bzw Berufung auch materiell-rechtlich ohne Weiteres als unbegründet erweist, weil dann eine Zurückverweisung überflüssig wäre (B[X.] vom 11.12.1963 - 5 [X.] 39/62 - [X.] [X.]0 zu § 51 [X.]G, juris Rd[X.]9; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 170 RdNr 5). Anders verhält es sich aber regelmäßig, wenn die berufungszurückweisende Prozessentscheidung des [X.] zu Unrecht erfolgt wäre und sich auch aus materiell-rechtlichen Gründen nicht ohne Weiteres im Ergebnis als zutreffend erwiese. Denn im Falle einer Prozessentscheidung des [X.] fehlt es regelmäßig an den für eine Sachentscheidung notwendigen Feststellungen ([X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 170 Rd[X.]a). In dieser Konstellation kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden, dass er keinen Sachantrag gestellt hat (vgl B[X.] vom 4.4.2017 - B 4 [X.]/16 R - B[X.]E 123, 62 = [X.]-1500 § 102 [X.], Rd[X.]4). Ihm geht es nicht um eine Aufhebung und Zurückweisung "um ihrer selbst willen" (vgl [X.] vom 31.5.1995 - [X.] - NJW-RR 1995, 1155 zur Berufung ohne Sachantrag), sondern um die Erlangung einer Sachentscheidung des [X.] nach Zurückverweisung und letztlich die Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens.

2. Die Berufung des [X.] bedurfte nach § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G der Zulassung. Diese Norm greift auch dann ein, wenn (vorab) über die Erledigung des Rechtsstreites zu befinden ist. Die Voraussetzungen einer nach Maßgabe des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G nicht zulassungsbedürftigen Berufung liegen nicht vor.

a) Gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des [X.] oder auf Beschwerde durch den Beschluss des [X.], wenn der Wert des [X.] bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs 1 Satz 2 [X.]G). § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G gilt gemäß § 105 Abs 1 Satz 3, Abs 2 [X.]G entsprechend, wenn das [X.] - wie hier - durch Gerichtsbescheid entschieden hat ([X.] in [X.]/[X.], [X.]G, 5. Aufl 2017, § 144 Rd[X.]; [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, 2014, § 144 RdNr 8; [X.] in [X.][X.], jurisPK-[X.]G, 2017, § 144 RdNr 4).

Die durch § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G normierte Zulassungsbedürftigkeit knüpft an das materielle Begehren des Berufungsklägers an, also das ursprüngliche Klageziel (B[X.] vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rd[X.]2), soweit dieses im Berufungsverfahren noch verfolgt wird (vgl B[X.] vom [X.] [X.]/15 B - juris Rd[X.] mwN); maßgeblich ist der Zeitpunkt der Berufungseinlegung (B[X.] vom 8.10.1981 - 7 [X.] - [X.] 1500 § 144 [X.]8, juris Rd[X.]6 mwN; B[X.] vom [X.] AL 15/10 R - [X.]-3250 § 51 [X.] Rd[X.]3). Unerheblich ist demgegenüber, ob das [X.] eine Entscheidung in der Sache getroffen hat. So steht außer Zweifel, dass § 144 Abs 1 [X.]G auch dann eingreift, wenn das [X.] eine Klage als unzulässig abgewiesen hat (B[X.] vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rd[X.]2; so zu §§ 144 bis 149 [X.]G aF bereits B[X.] vom [X.] [X.] - [X.] [X.]1 zu § 147 [X.]G, juris Rd[X.]4; vgl auch B[X.] vom 9.4.2014 - [X.] [X.]/13 R - B[X.]E 115, 288 = [X.]-1500 § 87 [X.], RdNr 8 f). Die Regelungen über die Berufung in den §§ 143 ff [X.]G differenzieren nicht danach, ob das [X.] eine Prozessentscheidung oder eine Sachentscheidung getroffen hat. Sinn und Zweck des § 144 Abs 1 [X.]G, den Rechtszug in Streitigkeiten, denen der Gesetzgeber geringere Bedeutung für die Beteiligten beigemessen hat, grundsätzlich auf eine Instanz zu beschränken, gelten auch für Fälle, in denen eine Klage aus prozessualen Gründen als unzulässig abgewiesen worden ist; die Bedeutung der Sache wird dadurch nicht erhöht (so zu §§ 144 bis 149 [X.]G aF bereits B[X.] vom [X.] [X.] - [X.] [X.]1 zu § 147 [X.]G, juris Rd[X.]4). Dem Erfordernis, prozessuale Fehlentscheidungen korrigierbar zu machen, hat der Gesetzgeber durch § 144 Abs 2 [X.], § 145 [X.]G Rechnung getragen.

Ebenso ist in der Rechtsprechung des B[X.] anerkannt, dass § 144 Abs 1 Satz 1 [X.]G auch dann einschlägig ist, wenn Gegenstand des Berufungsverfahrens eine Untätigkeitsklage (§ 88 [X.]G) ist (B[X.] vom 6.10.2011 - B 9 SB 45/11 B - [X.]-1500 § 144 [X.] Rd[X.]0 ff; B[X.] vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rd[X.]3; ebenso [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, 2014, § 144 Rd[X.]3; [X.] in [X.], [X.]G, § 144 Rd[X.]1a, Oktober 2017; aA wohl auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 144 RdNr 9b), obwohl auch in diesem Fall nicht über das materielle Begehren, sondern nur über den Anspruch auf Bescheidung als solchen zu entscheiden ist (vgl dazu B[X.] vom [X.] P 5/10 R - [X.]-3300 § 71 [X.] Rd[X.]3; B[X.] vom 16.10.2014 - [X.] R 282/14 B - juris Rd[X.] mwN; B[X.] vom 28.10.2015 - [X.] [X.]/15 B - juris RdNr 5).

Nicht anders verhält es sich, wenn - wie hier - im sog Rücknahme- oder Erledigungsstreit darüber gestritten wird, ob das Verfahren bereits beendet ist (so ohne Einschränkung bereits B[X.] vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rd[X.]2 im Fall der Erledigung durch Annahme eines Anerkenntnisses im [X.] an [X.], NZS 2017, 727, 729 mwN; siehe für die Erledigung durch Klagerücknahmefiktion die Nachweise zum Streitstand bei [X.] in [X.][X.], jurisPK-[X.]G, 2017, § 102 RdNr 99 bis 99.8).

Hat das [X.] den Beteiligten (ebenso wie im Fall der nicht bloß fingierten, sondern tatsächlichen Klagerücknahme) formlos (Umkehrschluss zu § 102 Abs 3 Satz 1 [X.]G; vgl [X.] in [X.]/ [X.], [X.]G, 2014, § 102 Rd[X.]8; anders im Fall der Berufungsrücknahmefiktion: § 156 Abs 2 Satz 3 [X.]G) mitgeteilt, dass die Klage "erledigt" ist, zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt, ist der Kläger darauf verwiesen, einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens zu stellen (vgl zu § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO [X.] vom 13.7.1998 - 1 BvR 666/98 - juris RdNr 8; [X.] vom 28.4.2003 - 1 BvR 625/03 - juris Rd[X.]; [X.] vom 17.9.2016 - 1 BvR 661/13 - juris RdNr 8; zur Rücknahmefiktion nach § 81 Satz 1 [X.] etwa [X.] vom [X.] - 2 BvR 12/19 - juris Rd[X.]6 ff). Eine Beschwerde gegen einen gemäß § 102 Abs 3 Satz 1 [X.]G ohnehin nur auf Antrag zu erlassenden deklaratorischen Einstellungsbeschluss ist durch § 102 Abs 3 Satz 2 [X.]G ausgeschlossen und daher kein Mittel, die Fortsetzung des Verfahrens zu erzwingen.

Stellt der Kläger einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens, führt das [X.] das Verfahren entweder in der Sache fort oder stellt durch Urteil oder Gerichtsbescheid fest, dass das Verfahren erledigt ist (vgl [X.] vom 13.7.1998 - 1 BvR 666/98 - juris RdNr 8; [X.] vom 23.4.1985 - 9 C 48/84 - [X.]E 71, 213, 215 = [X.] 402.25 § 33 AsylVfg [X.], juris Rd[X.]4). Gegen die feststellende Entscheidung des [X.], dass die Klage als zurückgenommen gilt, ist das Rechtsmittel statthaft, das auch gegen eine Entscheidung in der Sache selbst einzulegen wäre (vgl zu § 33 AsylVfG [X.] vom 23.8.1984 - 9 CB 48/84 - [X.] 402.25 § 33 AsylVfG [X.], juris Rd[X.]).

Selbst wenn Gegenstand des Berufungsverfahrens dann nur die Frage ist, ob das Klageverfahren erledigt ist (so etwa [X.] in [X.]/[X.], Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, [X.], 7. Aufl 2016, RdNr 8a; offengelassen von B[X.] vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rd[X.]2; siehe zum Streitstand die Nachweise bei [X.] in [X.][X.], jurisPK-[X.]G, 2017, § 102 Rd[X.]00 ff), unterliegt die Berufung der Zulassungsbedürftigkeit nach Maßgabe des § 144 Abs 1 [X.]G. Denn nach den oben dargelegten Maßstäben kommt es nicht darauf an, ob lediglich eine prozessrechtliche Entscheidung getroffen oder ob in der Sache entschieden wurde.

Für einen engeren Anwendungsbereich des § 144 Abs 1 [X.]G bietet bereits dessen Wortlaut keinen Anhaltspunkt. Es ist auch kein tragfähiger Grund ersichtlich, warum etwa die Berufung gegen eine Klageabweisung als unzulässig aufgrund mangelnden [X.] (zum Rechtsschutzbedürfnis als Sachurteilsvoraussetzung vgl [X.] vom 5.12.2001 - 2 BvR 527/99 - [X.]E 104, 220, 232, juris Rd[X.]4) den Beschränkungen des § 144 Abs 1 [X.]G unterliegt, aber die Berufung gegen die erstinstanzliche Feststellung des Eintritts der Klagerücknahmefiktion aufgrund fehlenden [X.] oder [X.], auf dem das Instrument der Klagerücknahmefiktion beruht (B[X.] vom 4.4.2017 - B 4 [X.]/16 R - B[X.]E 123, 62 = [X.]-1500 § 102 [X.], Rd[X.]0; hierzu auch [X.] in [X.][X.], jurisPK-[X.]G, 2017, § 102 RdNr 54; zur Berufungsrücknahmefiktion nach § 156 Abs 2 [X.]G B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/16 B - [X.]-1500 § 156 [X.] Rd[X.]), hiervon befreit sein sollte. Auch bei der Feststellung, dass der Rechtsstreit erledigt ist, handelt es sich um eine Prozessentscheidung (B[X.] vom 4.4.2017 - B 4 [X.]/16 R - B[X.]E 123, 62 = [X.]-1500 § 102 [X.], Rd[X.]4; ferner B[X.] vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rd[X.]2 unter Hinweis auf [X.] vom 15.1.1985 - [X.] - juris Rd[X.]3). Für die Beurteilung der Zulassungsbedürftigkeit der Berufung in einem Wiederaufnahmeverfahren, in dem die Interessenlage derjenigen im Rücknahmestreit ähnlich ist, ist § 144 Abs 1 [X.]G anzuwenden und auf den Streitwert des ursprünglichen Klageverfahrens abzustellen (B[X.] vom [X.] - B 8 [X.] 21/18 BH - juris RdNr 8; zu § 146 [X.]G aF vgl bereits B[X.] vom 13.4.1967 - 5 [X.] 171/64 - [X.] [X.]7 zu § 146 [X.]G, juris Rd[X.]7).

Ein anderes Verständnis würde im Übrigen auch dem Zweck des § 144 Abs 1 [X.]G nicht gerecht. Der Gesetzgeber wollte hierdurch - zuletzt durch die Anhebung der [X.] in § 144 Abs 1 [X.] [X.]G auf 750 Euro mit Wirkung zum [X.] (Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom [X.], [X.]) - eine Entlastung der Berufungsgerichte erreichen (Begründung des Gesetzentwurfes des Bundesrates für ein Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 27.9.1991, BT-Drucks 12/1217 [X.] f zu [X.]; Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung für ein Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes, BT-Drucks 16/7716 [X.] zu [X.]4 Buchst b). Diese Zielrichtung würde konterkariert, wenn für Verfahren, in denen lediglich prozessuale Vorfragen zu klären sind, der Zugang zur Berufungsinstanz leichter möglich wäre, als wenn es auf die materielle Rechtslage ankäme.

Dies gilt in der Konstellation, in der über den Eintritt einer Klagerücknahmefiktion zu befinden ist, erst recht. Denn hier treffen zwei Regelungen, die die Entlastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bezwecken sollen, aufeinander. Auch mit der Einführung der Klagerücknahmefiktion in das sozialgerichtliche Verfahren zum [X.] (Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom [X.], [X.]) wollte der Gesetzgeber in Anknüpfung an entsprechende Regelungen aus dem Asylrecht (§ 81 [X.], früher AsylVfG) und dem verwaltungsgerichtlichen Verfahrensrecht (§ 92 Abs 2 VwGO) eine Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit und eine Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens erreichen (Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung auf BT-Drucks 16/7716 [X.], 14). Diese doppelte Entlastungsintention schließt es aus, gerade in den Fällen des § 102 Abs 2 [X.]G eine Ausnahme von § 144 Abs 1 [X.]G zu machen.

Dies ist auch mit Verfassungsrecht vereinbar. Art 19 Abs 4 Satz 1 [X.] gewährleistet keinen Instanzenzug (zuletzt [X.] vom 18.6.2019 - 1 BvR 587/17 - juris Rd[X.]7 - zur Veröffentlichung in [X.]E vorgesehen; siehe auch [X.] in [X.]/Höfling, [X.] Kommentar zum [X.], Art 19 IV Rd[X.]91 mwN, Oktober 2002). Entsprechend ist der Gesetzgeber berechtigt, den Zugang zur Rechtsmittelinstanz an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zu knüpfen ([X.] vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 - [X.]E 128, 90, 99 = [X.]-1100 Art 14 [X.]3 Rd[X.]6). Vor diesem Hintergrund ist § 144 Abs 1 [X.]G nicht zu beanstanden. Zwar darf dann, wenn der Gesetzgeber ein Rechtsmittel vorsieht, der Zugang zur nächsten Instanz durch die Normanwendung durch die Gerichte nicht in unzumutbarer und durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (zuletzt [X.] vom 18.6.2019 - 1 BvR 587/17 - juris Rd[X.]7 - zur Veröffentlichung in [X.]E vorgesehen). Hierfür ist vorliegend aber nichts ersichtlich. Ein Konflikt mit Art 19 Abs 4 Satz 1 [X.] kann hier im Übrigen auch schon deswegen nicht eintreten, weil der von einer Klagerücknahmefiktion betroffene Kläger in jedem Fall Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung beim [X.] erheben kann (§ 145 [X.]G). Käme das [X.] zu dem Ergebnis, dass das [X.] zu Unrecht vom Eintritt der Klagerücknahmefiktion ausgegangen wäre, läge regelmäßig ein Verfahrensfehler iS von § 144 Abs 2 [X.] [X.]G vor, der zur Zulassung der Berufung führen müsste (vgl [X.] in [X.], [X.]G, § 144 Rd[X.]1a, Oktober 2017).

b) Die Voraussetzungen einer nicht zulassungsbedürftigen Berufung nach § 144 Abs 1 [X.]G liegen nicht vor.

Die Klage betrifft einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt, nämlich den Bescheid des Beklagten vom 16.9.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.12.2016, mit dem der Beklagte dem Kläger Geldleistungen (vgl § 11 Satz 1 [X.]B I, § 4 Abs 1 [X.] [X.]B II) nach dem [X.]B II gewährt hat. Die Klage zielte auf die Gewährung von weiteren Leistungen für KdU (zur Zulässigkeit der Begrenzung auf diesen Streitgegenstand vgl nur B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/15 R - [X.]-1500 § 75 [X.]4 Rd[X.]6 mwN) in Höhe von 192,22 Euro und insofern auf eine Änderung der genannten [X.]. Damit bedurfte die Berufung gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G der Zulassung. Da nur um Leistungen für sechs Monate gestritten wurde, greift auch § 144 Abs 1 Satz 2 [X.]G nicht ein.

Die Berufung ist nicht zugelassen worden. Die nach alledem zulassungsbedürftige Berufung haben weder das [X.] noch das [X.] zugelassen. Dass das [X.] in seinem Gerichtsbescheid die Auffassung vertreten hat, die Berufung bedürfe nicht der Zulassung, und den Kläger daher über das Rechtsmittel der Berufung belehrt hat, ist nicht als gleichsam konkludente Zulassung der Berufung zu werten (vgl B[X.] vom 6.10.2011 - B 9 SB 45/11 B - [X.]-1500 § 144 [X.] Rd[X.]2; B[X.] vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rd[X.]7). Im Gegenteil hat das [X.] durch seine Ausführungen gerade zum Ausdruck gebracht, dass es der Auffassung ist, dass die Berufung nicht zulassungsbedürftig sei.

Meta

B 4 AS 4/20 R

19.03.2020

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Regensburg, 2. Januar 2018, Az: S 3 AS 519/17, Gerichtsbescheid

§ 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG, § 102 Abs 1 SGG, § 102 Abs 2 SGG, § 102 Abs 3 S 1 SGG, § 102 Abs 3 S 2 SGG, § 105 Abs 1 S 3 SGG, § 105 Abs 2 SGG, § 160 SGG, Art 19 Abs 4 S 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2020, Az. B 4 AS 4/20 R (REWIS RS 2020, 2306)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2306

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