Bundessozialgericht, Urteil vom 04.04.2017, Az. B 4 AS 2/16 R

4. Senat | REWIS RS 2017, 12951

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Klagerücknahmefiktion - Untätigkeit des Klägers - Betreibensaufforderung - Vorliegen objektiver Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses - Verfassungsmäßigkeit - Rechtsschutzgarantie


Leitsatz

Die Fiktion der Klagerücknahme knüpft an den objektivierbaren Umstand der Untätigkeit des Klägers an und setzt weiter voraus, dass für das Gericht objektive Anhaltspunkte dafür bestehen, der Kläger habe das Rechtsschutzinteresse an dem Rechtsstreit verloren.

Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 29. Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Rechtsstreit durch [X.] beendet ist.

2

In dem zugrunde liegenden Verfahren griff der Kläger den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2008 an. Mit der Entscheidung nahm der Beklagte die Bescheide vom 15.12.2004, 18.3.2005, 11.8.2005, 29.9.2005, [X.], [X.], 13.3.2006 und [X.] betreffend die Leistungsbewilligung vom 1.1.2005 bis 31.8.2006 teilweise zurück und verpflichtete den Kläger, überzahlte Leistungen in Höhe von 3046,53 Euro zu erstatten. Der Kläger habe vom 1.11.2004 bis 31.5.2005 eine geringfügige Tätigkeit im [X.] ausgeübt und hieraus ein Einkommen von "ca. 50 Euro" monatlich in bar bezogen. Dies habe er dem Beklagten nicht mitgeteilt. Seine damalige Ehefrau habe ab 1.1.2005 ebenfalls eine geringfügige Tätigkeit im Restaurant "V." ausgeübt. Auch diese Einkünfte seien dem Beklagten nicht mitgeteilt worden. Die erzielten Einkünfte seien auf die erbrachten Leistungen anzurechnen, die entsprechenden Bewilligungen seien zurückzunehmen und der überzahlte Betrag sei von dem Kläger zu erstatten. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 19.8.2008).

3

Der Kläger hat beim [X.] Klage erhoben und diese auf knapp einer Seite begründet. Mit Verfügung vom 14.10.2008 hat der zuständige Richter beim [X.] den Bevollmächtigten des Klägers angeschrieben und angefragt:

"Gibt es Beanstandungen gegenüber der Berechnung des Überzahlungsbetrages?

Überprüfen sie bitte den Klageantrag. Ist der Bescheid vom 4.7.2007 gemeint?"

4

Mit Verfügung vom 9.11.2008 hat das [X.] an die Erledigung der Verfügung vom 14.10.2008 erinnert. Der Klägerbevollmächtigte hat daraufhin Akteneinsicht beantragt und hinzugefügt:

"Nach Erfolg der Akteneinsicht kann … zu den Fragen Stellung genommen werden."

5

Am 11.12.2008 hat der Bevollmächtigte den Erhalt der Akten bestätigt und diese mit der Bemerkung zurückgegeben: "Es wird noch Stellung genommen. Die Überzahlbeträge sind in jedem Fall zu hoch."

6

Der zuständige Richter beim [X.] hat dem Klägerbevollmächtigten die mit vollem Namen unterschriebene Betreibensaufforderung vom 19.2.2009 am [X.] gegen [X.] zugestellt:

"Es wird aufgefordert, das Verfahren zu betreiben. Insbesondere sind einzureichen die angekündigte Stellungnahme und die Beantwortung des Schreibens vom 14.10.2008. Wenn dieser Aufforderung nicht binnen drei Monaten nachgekommen wird, gilt die Klage gemäß § 102 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz als zurückgenommen."

7

Nachdem eine Reaktion des [X.] nicht erfolgt ist, hat das [X.] unter dem [X.] die Klage als zurückgenommen (§ 102 Abs 2 [X.]G) ausgetragen und dies den Beteiligten mitgeteilt. Unter dem [X.] hat der Kläger erklärt, dies werde auf keinen Fall akzeptiert. Es sei dargelegt worden, warum der angefochtene Bescheid rechtswidrig sei. Das [X.] hat durch Urteil festgestellt, dass die Klage zurückgenommen ist. Der Kläger habe nach Akteneinsicht angekündigt, eine Stellungnahme abzugeben. Diese sei weder in einem Zeitraum von zwei Monaten noch innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Aufforderung erfolgt. Deshalb dränge sich auf, dass der Kläger kein Interesse mehr an dem Verfahren habe.

8

Das L[X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen. Die Betreibensaufforderung sei rechtmäßig. Es bestünden keine Bedenken gegen die Annahme des Wegfalls des [X.]. Der Kläger habe selbst angekündigt, nach erfolgter Akteneinsicht eine Stellungnahme abgeben zu wollen, insbesondere vorzutragen, aus welchen Gründen der Erstattungsbetrag "auf jeden Fall zu hoch" sei. Damit habe er zu erkennen gegeben, dass er neben der Anfechtung dem Grunde nach auch die Höhe der Forderung streitig stellen wolle. Eine Stellungnahme hierzu habe er nicht abgegeben. Der Kläger sei gehalten gewesen, durch eine Reaktion das Indiz zu widerlegen, dass er am Rechtsstreit nicht mehr interessiert sei.

9

Der Kläger hat die vom L[X.] zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung von § 102 Abs 2 [X.]G. Im sozialgerichtlichen Verfahren gelte das [X.]. Die Förderung des Verfahrens sei nicht Aufgabe der Parteien, sondern immer des Gerichts. Das Gericht habe den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Die Beteiligten müssten weder ihnen günstige Tatsachen behaupten noch ungünstige bestreiten. Nach § 123 [X.]G sei das Gericht nicht einmal an die Fassung der gestellten Anträge gebunden. Deshalb habe das [X.] nicht auf eine "Stellungnahme" warten dürfen. Vielmehr hätte es den angefochtenen Bescheid hinsichtlich der formellen und materiellen Voraussetzungen prüfen müssen. Die Klage gelte nicht als zurückgenommen, vielmehr sei diese weiterhin anhängig.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 29. Juli 2015 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Das [X.] habe in Kenntnis seiner Pflicht, das Verfahren "im Sinne des [X.] zu fördern", bei diesem angefragt, ob über den bisherigen Vortrag hinaus auch die Berechnung des Überzahlungsbetrags beanstandet werde. Das [X.] habe dem Kläger damit Gelegenheit gegeben, die offensichtlich unbegründete Klage durch Erweiterung des [X.] auf die Höhe der Forderung einer sachlichen Prüfung zugänglich zu machen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 [X.]G).

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des [X.] vom 29.7.2015, mit dem dieses die Feststellung der Erledigung des Klageverfahrens durch das [X.] bestätigt hat. Der Kläger hat mit dem Urteil des [X.] keine Sachentscheidung über sein [X.] erhalten, vielmehr hat das [X.] lediglich das Prozessurteil des [X.] bestätigt. Falls sich das Urteil des [X.] als rechtswidrig erweisen sollte, wäre es in jedem Fall aufzuheben und der Rechtsstreit an das [X.] zurückzuverweisen, damit dieses eine Sachentscheidung über die vom Kläger geführte Anfechtungsklage treffen kann (vgl B[X.] vom [X.] [X.]/16 B - veröffentlicht in juris).

2. Die statthafte Revision des [X.] ist zulässig. Sie entspricht den Anforderungen des § 164 Abs 2 S 3 [X.]G, denn der Kläger hat die verletzte Norm des Bundesrechts bezeichnet, einen zulässigen Revisionsantrag gestellt und diesen hinreichend begründet.

Der von dem Kläger gestellte Revisionsantrag ist zulässig, obwohl er (nur) auf die Aufhebung des Urteils des [X.] und Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht zielt. Der Revisionsbegründung ist zu entnehmen, dass er vom Senat die Entscheidung begehrt, dass das Urteil des [X.] wegen Verletzung von § 102 Abs 2 [X.]G aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist, damit das [X.] eine Sachentscheidung über die vom Kläger geführte Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2008 treffen kann.

Für diesen Antrag fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Zwar kann es zweifelhaft sein, ob ein Revisionskläger für einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis hat, wenn er einen Antrag stellen kann, der auf eine den Rechtsstreit abschließende Entscheidung des [X.] gerichtet ist. In einem solchen Fall könnte der Rechtsstreit einfacher und prozessökonomischer zu einem Ende geführt werden (vgl B[X.] vom [X.] - 4 RA 52/93 - [X.]-1500 § 164 [X.] Rd[X.] 9 f). Für diese Bedenken ist aber kein Raum, wenn im Wesentlichen ein Verfahrensmangel des Berufungsverfahrens gerügt wird, der nur zur Folge haben kann, dass es zur Aufhebung und Zurückverweisung kommt, weil das Urteil des [X.] kein geeigneter Gegenstand einer revisionsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung über ein Anfechtungsbegehren ist. So liegt der Fall hier.

3. Die Revision des [X.] ist in der Sache aber als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 [X.]G), weil das [X.] zutreffend festgestellt hat, dass der Rechtsstreit beim [X.] als durch Klagerücknahme erledigt gilt.

a) § 102 Abs 2 [X.]G in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes ([X.]GArbGGÄndG) vom [X.] ([X.]), der mit Wirkung zum [X.] in [X.] getreten ist, lautet: "Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen." Die wirksame Fiktion der Klagerücknahme erledigt nach § 102 Abs 1 S 2 [X.]G den Rechtsstreit in der Hauptsache.

Bei der fiktiven Klagerücknahme handelt es sich um eine gesetzliche Regelung für Fälle, in denen das Rechtsschutzinteresse an einem Verfahren entfallen ist (vgl BT-Drucks 16/7716, [X.] zu Nummer 17; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, Vor § 51 Rd[X.]6 f). Der Gesetzgeber verfolgt mit dem [X.]GArbGGÄndG den Zweck, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Zum Entwurf des § 102 Abs 2 [X.]G wird weiter ausgeführt: "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. [X.] vom 1.11.1996 ([X.] 1626) eingefügt wurde und § 81 des [X.] (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das [X.] vom [X.] ([X.] 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr [X.] brauchen … ".

Das [X.] hat in mehreren Entscheidungen herausgestellt, dass eine prozessrechtlich verankerte Klagerücknahmefiktion, wie sie sich [X.] in § 92 Abs 2 VwGO und § 81 AsylVfG findet, mit Art 19 Abs 4 GG in Einklang steht. Das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes hindert nicht daran zu verlangen, dass jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzinteresse voraussetzt. Auch könne ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des [X.] ausgehen, wenn das Verhalten eines Beteiligten Anlass zu der Annahme biete, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen sei. Eine hierauf gestützte Abweisung seines [X.]s mangels Sachbescheidungsinteresses sei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ([X.] Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167).

Das [X.] hat aber auch betont, dass prozessrechtliche Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung im Hinblick auf die Rechtsschutzgewährleistung in Art 19 Abs 4 GG zu beachten sei ([X.] Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f zu § 33 AsylVfG 1982; [X.] Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; umfassende Nachweise zur Literatur in: B[X.] vom [X.] - B 13 R 58/09 R - B[X.]E 106, 254 = [X.]-1500 § 102 [X.], jeweils Rd[X.] 44). Jede Anwendung der Klagerücknahmefiktion setzt deshalb voraus, dass konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist ([X.] Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167).

b) Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung iS des § 102 Abs 2 S 1 [X.]G sind vorliegend erfüllt. Hierbei geht der Senat von denjenigen Grundsätzen aus, wie sie insbesondere vom 13. Senat des B[X.] formuliert worden sind (B[X.] vom [X.] - B 13 R 58/09 R - B[X.]E 106, 254 = [X.]-1500 § 102 [X.]; vgl auch B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/16 B - [X.]-1500 § 156 [X.]).

Die Klagerücknahmefiktion kann einen Rechtsstreit nur beenden, wenn zuvor dem Kläger vom Gericht eine wirksame Betreibensaufforderung zugegangen ist (§ 102 Abs 2 S 1 [X.]G). Eine Betreibensaufforderung muss nach der zitierten Rechtsprechung des B[X.] vom [X.] verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden sein; ein den Namen [X.] (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (unter Hinweis auf [X.]/[X.], Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, [X.] Rd[X.]70a; [X.], [X.]b 2009, 458, 460; [X.], [X.] 2009, 554, 556, jeweils mwN). Die Aufforderung muss konkret und klar sein ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 102 Rd[X.] 8c). Der Adressat der Aufforderung ist in dieser auf die Rechtsfolgen, die gemäß § 102 Abs 2 S 1 [X.]G eintreten können, hinzuweisen (§ 102 Abs 2 S 3 [X.]G). Schließlich ist die Betreibensaufforderung dem Kläger oder ggf seinem Bevollmächtigten zuzustellen.

Entsprechend diesen Anforderungen hat der zuständige Kammervorsitzende beim [X.] die Betreibensaufforderung vom [X.] mit vollem Namen unterschrieben. Die Aufforderung ist dem Bevollmächtigten gegen [X.] am 2.3.2009 förmlich zugestellt worden. Die Aufforderung ist inhaltlich konkret und klar. Sie fordert den Kläger auf, die angekündigte Stellungnahme vorzulegen und die Gerichtsverfügung vom 14.10.2008 zu beantworten, die auf Klarstellung des Antrags und die Frage gerichtet gewesen ist, ob auch Einwendungen gegen die Berechnung der Erstattungsforderung erhoben werden. Mit der Aufforderung ist dem Kläger die gesetzliche [X.] gesetzt worden, um das Verfahren zu betreiben. Er ist auch auf die Rechtsfolgen hingewiesen worden, die eintreten, falls er der Aufforderung, die Klage zu betreiben, nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommt. Eines Hinweises auf eine Kostenfolge bedurfte es nicht, da es sich nicht um ein nach § 197a Abs 1 S 1 [X.]G kostenpflichtiges Verfahren handelt ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 102 Rd[X.] 8c).

c) Die Betreibensaufforderung hat auch die Fiktion der Klagerücknahme ausgelöst (§ 102 Abs 2 S 1 [X.]G).

aa) Die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 [X.]G tritt nach Sinn und Zweck der Vorschrift sowie ihren verfassungsrechtlichen Grenzen nur ein, wenn neben den formellen Voraussetzungen bereits zum [X.]punkt des Erlasses der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, "sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des [X.]" vorliegen ([X.] Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62; [X.] vom [X.] - 8 [X.]/00 - NVwZ 2000, 1297; vgl auch BT-Drucks 16/7716, [X.]).

Der Senat geht hinsichtlich der an die "sachlichen Anhaltspunkte" für den Wegfall des [X.] zu stellenden Anforderungen davon aus, dass ein Wegfall des [X.] erst nach einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls angenommen werden darf. Bei der Gesamtwürdigung sind sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das Verhalten des [X.] zu berücksichtigen ([X.] Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; [X.] in [X.]/[X.]/ [X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 102 Rd[X.] 8a mwN; [X.]/[X.], VwGO, 4. Aufl 2014, § 92 Rd[X.]3; [X.] in [X.]/Fichte, [X.]G, 2. Aufl 2014, § 102 Rd[X.] 9).

bb) Aufgrund der Umstände vor Erlass der Betreibensaufforderung, insbesondere dem Verhalten des [X.], durfte das [X.] berechtigt annehmen, dass er das Interesse an dem Rechtsstreit verloren hat. Denn das [X.] hat ihn mit Verfügungen vom 14.10. und 9.11.2008 aufgefordert bzw erinnert, die angekündigte Stellungnahme abzugeben. Die Aufforderung des [X.] an einen Beteiligten, Mitwirkungshandlungen im sozialgerichtlichen Verfahren vorzunehmen, ist rechtlich möglich und zulässig. Es gehört zu den Aufgaben des Gerichts, den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife zu fördern, dabei unklare Anträge auszuräumen, auf die Stellung sachlicher Anträge hinzuwirken und die wesentlichen Einwendungen des [X.] zu klären 106 Abs 1 und 2 [X.]G). Bei der Klärung des Gegenstands der Klage und der wesentlichen Einwendungen ist der Kläger - anders als seine Revisionsbegründung nahelegt - nicht von [X.] freigestellt (§ 92 Abs 1 S 3, 4 und Abs 2 [X.]G; [X.], [X.] 2011, 326, 327; zu prozessualen Mitwirkungspflichten des Beklagten: B[X.] vom 22.9.2009 - B 4 AS 18/09 R - B[X.]E 104, 192 = [X.]-4200 § 22 [X.] 30, Rd[X.] 26). Prozessuale [X.] können auch erst durch eine gerichtliche Anfrage entstehen, wie sich aus mehreren Regelungen des Prozessrechts ergibt ([X.] § 92 Abs 2, § 106 oder § 106a [X.]G). Allerdings genügt für eine Betreibensaufforderung nicht jegliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit, vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die [X.] für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (vgl B[X.] vom [X.] - B 13 R 74/09 R - juris Rd[X.] 52; [X.] Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 168).

Die Aufforderungen des [X.] waren auf Äußerungen zu entscheidungserheblichen Tatsachen gerichtet. Sie sind vertretbar und nicht zu beanstanden. Es kann dahinstehen, ob - wie der Beklagte vorträgt - dem Kläger mit der Betreibensaufforderung lediglich Gelegenheit gegeben worden ist, eine offensichtlich unbegründete Klage zu [X.]. Jedenfalls aber betrifft die Aufforderung des [X.] zur Stellungnahme die Frage, ob und mit welchen Gründen der angefochtene Verwaltungsakt hinsichtlich der Höhe der Erstattungsforderung angegriffen wird. Insbesondere ging es darum, zu klären, ob Einwände gegen die im Wege einer rückwirkenden Aufhebung der Bewilligungsbescheide berücksichtigten Einkünfte des [X.] und seiner damaligen Ehefrau aus nicht gemeldeten Beschäftigungen erhoben werden. Das [X.] hat damit nicht in unzulässiger Weise die Amtsermittlungspflicht (§ 103 [X.]G) auf den Kläger überwälzt, sondern diesem vielmehr Gelegenheit zur Verwirklichung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gegeben (§ 62 [X.]G, Art 103 Abs 1 GG).

Bei der Gesamtwürdigung ist auch das Verhalten des [X.] in den Blick zu nehmen. Bei diesem Aspekt der Gesamtwürdigung ist der Terminus des "unkooperativen Verhaltens" allein nicht geeignet, den Wegfall des [X.] grundsätzlich verneinen oder bejahen zu können (so auch [X.] Nordrhein-Westfalen vom 22.1.2016 - L 19 AS 1863/15 B - juris Rd[X.]5). Vielmehr kommt es auf die Art und Weise des "unkooperativen Verhaltens" an. Denn § 102 Abs 2 S 1 [X.]G stellt darauf ab, dass ein Kläger den Rechtsstreit "nicht betreibt". Die Fiktion der Klagerücknahme knüpft mithin an den objektivierbaren Umstand der Untätigkeit an. Dagegen würde ein "unkooperatives Verhalten" lediglich dergestalt, dass ein Beteiligter versucht, weitere Streitgegenstände in das Verfahren einzubeziehen, das Verfahren zu komplizieren oder in die Länge zu ziehen, die Klagerücknahmefiktion nicht auslösen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob schon die schlichte Mitteilung, eine weitere Stellungnahme werde nicht abgegeben, ausgereicht hätte, um das Verfahren zu betreiben. Das [X.] hat eine solche Reaktion genügen lassen, nachdem ein Kläger im Ausgangsverfahren (schlicht) erklärt hatte, er halte an der Klage fest ([X.], Beschluss vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - juris Rd[X.] 36). Auch nach der Gesetzesbegründung könnte es ausreichen, deutlich zu machen, dass der Rechtsstreit weiter betrieben werde, der Kläger sich aber in der Sache nicht weiter äußern wolle oder könne (vgl BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff; "…Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann…").

Dies kann hier dahinstehen, denn auch eine solche Reaktion hat der Kläger nicht gezeigt. Nachdem er die Klage kurz begründet, Akteneinsicht genommen und angekündigt hatte, sich äußern zu wollen, ist er untätig geblieben. Nach der Aufforderung des [X.] und der eigenen Ankündigung durfte das [X.] bei fortbestehendem Rechtsschutzinteresse erwarten, der Kläger werde nach Akteneinsicht und Kenntnisnahme von den dortigen Bescheinigungen über Einkünfte von ihm und seiner Ehefrau dazu Stellung nehmen, ob und ggf in welchem Umfang diese unzutreffend sein könnten (vgl zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/16 B - [X.]-1500 § 156 [X.]). Mit seiner Ankündigung, zur Höhe der Forderung Stellung zu nehmen, hat er auch zu erkennen gegeben, dass er sich gegen die Höhe der Erstattungsforderung wenden will und deren Prüfung im Rechtsstreit für entscheidungserheblich hält. Der anwaltlich vertretene Kläger hat dann aber für die Dauer von mehreren Monaten weder auf die gerichtliche Verfügung reagiert noch klargestellt, dass weiterer Vortrag unterbleiben werde.

Auch die weitere Voraussetzung des § 102 Abs 2 [X.]G, dass der Kläger nach Zugang der Betreibensaufforderung das Verfahren nicht betrieben hat, ist erfüllt. Das [X.] hat zutreffend angenommen, dass die Fiktion der Klagerücknahme den Rechtsstreit gemäß § 102 Abs 2 S 2 iVm Abs 1 S 2 [X.]G erledigt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 [X.]G.

Meta

B 4 AS 2/16 R

04.04.2017

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Dortmund, 17. Juni 2013, Az: S 31 AS 305/09, Urteil

§ 102 Abs 2 S 1 SGG, § 102 Abs 1 S 2 SGG, § 62 SGG, § 103 SGG, § 106 SGG, § 106a SGG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 92 Abs 2 VwGO, § 81 AsylVfG 1992

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 04.04.2017, Az. B 4 AS 2/16 R (REWIS RS 2017, 12951)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 12951

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 2254/11

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