Bundessozialgericht, Beschluss vom 30.10.2020, Az. B 9 SB 17/20 B

9. Senat | REWIS RS 2020, 2360

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Abhandenkommen von Verwaltungs- und Prozessakten während der Gerichtsverfahrens - Entscheidung auf der Grundlage einer Behelfsakte - Darlegungsanforderungen - konkrete Bezeichnung der fehlenden entscheidungserheblichen Unterlagen - Sachverständigengutachten - Nichterscheinen zu Begutachtungsterminen - konkrete Darlegung der jeweiligen Verhinderungsgründe - rechtliches Gehör - Möglichkeit der Außerachtlassung von Sachvortrag aus Rechtsgründen


Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 11. März 2020 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt in der Hauptsache die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 ab dem 1.10.2013. Wie zuvor bereits das [X.] (Gerichtsbescheid vom [X.]) hat auch das L[X.] diesen Anspruch verneint. Auf Grundlage der vorliegenden medizinischen Unterlagen lasse sich der von der Klägerin begehrte GdB nicht feststellen. Durch die fehlende Mitwirkung der Klägerin an der Begutachtung durch den [X.]achverständigen [X.] sei eine abschließende [X.]achverhaltsaufklärung nicht möglich gewesen (Urteil vom 11.3.2020).

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde eingelegt. [X.]ie rügt Verfahrensmängel.

3

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund des [X.] (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 [X.]atz 3 [X.]G).

4

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wie im Fall der Klägerin darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 1 [X.]G), so müssen bei der Bezeichnung des [X.] (§ 160a Abs 2 [X.]atz 3 [X.]G) die den Verfahrensmangel begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des L[X.] - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Die Geltendmachung eines [X.] wegen Verletzung des § 103 [X.]G ([X.]) kann gemäß § 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 3 [X.]G nur darauf gestützt werden, dass das L[X.] einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Anforderungen an die Bezeichnung eines [X.] erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.

5

Die Klägerin rügt, dem L[X.] hätten die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akte des [X.] nicht vorgelegen. Daher sei schon fraglich, woraus das L[X.] seine Erkenntnisse für seine Entscheidung gezogen habe. Dem L[X.] hätten nur die von der Beklagten selbst nochmals eingereichten Unterlagen zur Verfügung gestanden. Da der Akteninhalt nicht mehr verlässlich verfügbar gewesen sei, hätte das Berufungsgericht ein erneutes Gutachten von Amts wegen nach § 103 [X.]G oder nach § 109 [X.]G einholen müssen.

6

Mit diesem Vortrag hat die Klägerin keinen Verfahrensmangel i[X.] des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G bezeichnet. Zwar weist sie zutreffend darauf hin, dass dem L[X.] die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akte des [X.] nicht vorgelegen haben, weil nach Mitteilung des [X.] die [X.] dort nicht mehr auffindbar waren, sie räumt aber selbst ein, dass das L[X.] aus der übersandten Prozesshandakte der Beklagten eine Behelfsakte (sog [X.]) erstellt hat. Vor diesem Hintergrund trägt sie nicht substantiiert vor, dass und aus welchen Gründen das L[X.] auf dieser tatsächlichen Grundlage nicht hätte entscheiden dürfen. Insbesondere legt sie nicht dar, dass und [X.] welche im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten medizinischen Berichte und sonstigen für die Entscheidung des L[X.] tragenden Unterlagen die Behelfsakte nicht enthalten soll. [X.]ie zeigt auch nicht auf, dass sich das Berufungsgericht hätte gedrängt fühlen müssen, weitere [X.]achaufklärung (§ 103 [X.]G) durch Einholung eines medizinischen [X.]achverständigengutachtens zu betreiben. Die Klägerin behauptet in der Beschwerdebegründung nicht einmal, dass sie einen entsprechenden Beweisantrag bis zuletzt vor dem L[X.] wenigstens sinngemäß aufrechterhalten hat (vgl zu den [X.] an eine [X.]achaufklärungsrüge: [X.]enatsbeschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris Rd[X.] 20 f). Auf eine Verletzung des § 109 [X.]G kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 2 [X.]G ohnehin nicht gestützt werden.

7

Nichts anderes ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin, das L[X.] sei - wie zuvor bereits das [X.] - zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass sie die Einholung des vom [X.] von Amts wegen in Auftrag gegebenen [X.]achverständigengutachtens des [X.] durch ihr Nichterscheinen zu den anberaumten Begutachtungsterminen vereitelt und deswegen eine weitere [X.]achaufklärung verhindert habe. Auch insoweit hat sie keinen Verfahrensmangel i[X.] des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G bezeichnet. Die Klägerin versäumt es bereits, in chronologisch geordneter Reihenfolge aufzuzeigen, dass und aus welchem sachlichen Grund sie jeweils zu welchem Termin zur Begutachtung bei [X.] nicht habe erscheinen können. Allein die pauschalen, nicht terminbezogenen Hinweise in der Beschwerdebegründung auf "ärztliche Atteste", "Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen" oder "Unwetter" reichen hier nicht. "Bezeichnet" i[X.] des § 160a Abs 2 [X.]atz 3 [X.]G ist ein Verfahrensmangel nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird ([X.]enatsbeschluss vom [X.] [X.]B 88/16 B - juris Rd[X.] 5). Es ist nicht Aufgabe des [X.], sich im Rahmen des [X.]s die - möglicherweise - maßgeblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil des L[X.] sowie den Gerichts- und Verwaltungsakten selbst herauszusuchen (stRspr, zB [X.]enatsbeschluss vom 16.4.2018 - [X.] - juris Rd[X.] 4; [X.]enatsbeschluss vom 21.8.2017 - B 9 [X.]B 3/17 B - juris Rd[X.] 6). Im Übrigen erfolgt die Auswahl des [X.]achverständigen bei Ermittlungen von Amts wegen nach § 118 Abs 1 [X.]atz 1 [X.]G iVm § 404 Abs 1 [X.]atz 1 ZPO durch das Prozessgericht (vgl B[X.] Beschluss vom [X.] - B 5 R 268/18 B - juris Rd[X.] 11; [X.] Beschluss vom 29.3.2017 - [X.] - juris Rd[X.] 12; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 118 Rd[X.] 11c mwN). Dass [X.] als [X.]achverständiger für die Begutachtung nicht geeignet war, hat die Klägerin nicht dargelegt.

8

Die Klägerin sieht schließlich einen Gehörsverstoß (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) darin, dass die Beklagte die Krankenunterlagen "selektiv behandelt" und nur Befunde einbezogen habe, durch welche sie die geringsten Einschränkungen habe. Auch die Vorinstanzen hätten die Krankenunterlagen gar nicht oder nur unzureichend ausgewertet. Die Diagnose "Fibromyalgie" sei überhaupt nicht beachtet worden.

9

Mit diesem Vorbringen hat die Klägerin keinen Gehörsverstoß bezeichnet. Es fehlen bereits Ausführungen dazu, weshalb die Entscheidung des L[X.] auf der vermeintlichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruhen können sollte und welcher konkrete Vortrag der Klägerin insoweit unberücksichtigt geblieben ist. Unabhängig davon, dass die Klägerin ihre Behauptung, die Beklagte habe ihre Krankenunterlagen "selektiv behandelt", nicht näher substantiiert oder gar belegt hat, geht sie in diesem Zusammenhang auch nicht darauf ein, dass das [X.] im Rahmen der [X.]achaufklärung (§ 103 [X.]G) diverse Befundberichte ihrer behandelnden Ärzte beigezogen hat. Dass sich diese medizinischen Unterlagen nicht in der vom L[X.] angelegten Behelfsakte befinden, zeigt die Klägerin ebenfalls nicht auf. Tatsächlich kritisiert sie mit ihrem Vortrag im [X.] lediglich die Beweiswürdigung der Vorinstanzen. Gemäß § 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 2 [X.]G kann ein Verfahrensmangel aber nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 [X.]atz 1 [X.]G (Grundsatz der freien Beweiswürdigung) gestützt werden. [X.]ofern die Klägerin in diesem Kontext rügt, dass die Diagnose "Fibromyalgie" durchgängig ignoriert worden sei, verkennt sie, dass allein die Diagnose einer Krankheit noch keinen Grund zur Zuerkennung eines GdB darstellt. Dieser ist vielmehr nur bei konkreten Funktionsstörungen begründet. Im Übrigen bietet der Anspruch auf rechtliches Gehör keinen [X.]chutz gegen Entscheidungen, die den [X.]achvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lassen (vgl [X.]enatsbeschluss vom [X.] - B 9 V 14/19 B - juris Rd[X.] 12; [X.] Urteil vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - [X.]E 96, 205, 216 = juris Rd[X.] 43). Er gewährleistet nur, dass ein Beteiligter mit seinem Vortrag "gehört", nicht jedoch "erhört" wird. Dass das Urteil des L[X.] aus [X.]icht der Klägerin inhaltlich unrichtig ist, ist für das [X.] ohne Belang (vgl stRspr, B[X.] Beschluss vom 20.2.2017 - B 12 KR 65/16 B - juris Rd[X.] 5 mwN).

Von einer weiteren Begründung sieht der [X.]enat ab (vgl § 160a Abs 4 [X.]atz 2 Halbsatz 2 [X.]G).

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 [X.]atz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 [X.]atz 2 und 3 [X.]G durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 [X.]G.

Meta

B 9 SB 17/20 B

30.10.2020

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Bremen, 27. September 2018, Az: S 19 SB 196/15, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 103 SGG, § 106 Abs 3 Nr 5 Alt 2 SGG, § 128 Abs 1 S 1 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 30.10.2020, Az. B 9 SB 17/20 B (REWIS RS 2020, 2360)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2360

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 9 SB 8/20 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - gesetzlicher Richter - Verbot der Übertragung der Entscheidung auf den Berichterstatter bei …


B 9 SB 59/19 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - beschränkte Berufungseinlegung - keine Rechtskraft des unangefochtenen Teils der Entscheidung …


B 9 SB 71/20 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Ablehnung eines Terminverlegungsantrags - neue …


B 9 SB 71/19 B (Bundessozialgericht)

(Nichtzulassungsbeschwerde - Divergenz - Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Verkennung der Bedeutung der Dokumentation für die …


B 9 SB 55/21 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Tatsachendarstellung - Amtsermittlungspflicht - sozialgerichtliches Verfahren - Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvR 1621/94

VII ZR 149/15

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.