Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.02.2014, Az. 1 BvL 7/11

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 7970

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des Wahlvorschlagsrechts gem § 6 S 1 DrittelbG im Falle des fliegenden Personals (§ 117 Abs 2 BetrVG) eines Luftfahrtunternehmens - Fehlende Erörterung naheliegender Fragen bzgl der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm - unzureichende Erörterung verfassungskonformer Auslegungsalternativen, insb einer weiten Auslegung des § 6 S 1 DrittelbG


Gründe

I.

1

Das Normenkontrollverfahren betrifft die Frage, ob § 6 Satz 1 des Gesetzes über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (Drittelbeteiligungsgesetz - [X.]) vom 18. Mai 2004 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, soweit danach die gemäß § 117 Abs. 2 Satz 1 [X.] durch Tarifvertrag für im Flugbetrieb Beschäftigte errichteten Vertretungen nicht wahlvorschlagsberechtigt sind.

2

1. In Unternehmen mit in der Regel mehr als 500, aber nicht mehr als 2000 Arbeitnehmern regelt das Drittelbeteiligungsgesetz die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Das Recht, zur Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat Wahlvorschläge einzureichen, ergibt sich aus § 6 [X.]. Er lautet:

3

"Die Wahl erfolgt auf Grund von Wahlvorschlägen der Betriebsräte und der Arbeitnehmer. Die Wahlvorschläge der Arbeitnehmer müssen von mindestens einem Zehntel der Wahlberechtigten oder von mindestens 100 Wahlberechtigten unterzeichnet sein."

4

Angelegenheiten der Betriebsräte sind im [X.] ([X.]) geregelt. Dieses findet auf [X.] in Luftfahrtunternehmen Anwendung, aber nicht auf deren im Flugbetrieb Beschäftigte (§ 117 Abs. 1 [X.]). Allerdings kann durch Tarifvertrag eine Vertretung errichtet werden, die für diese Beschäftigten betriebsverfassungsrechtliche Aufgaben wahrnimmt (§ 117 Abs. 2 Satz 1 [X.]).

5

2. Dem Ausgangsverfahren liegt die Anfechtung der Wahl von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat eines Luftfahrtunternehmens zugrunde. Für das [X.] ist dort auf tarifvertraglicher Grundlage eine Personalvertretung gebildet worden, die in Vorbereitung der [X.] einen Wahlvorschlag eingereicht hatte. Der [X.] ließ diesen Wahlvorschlag unter Berufung auf § 6 [X.] nicht zur Wahl zu, weil die Personalvertretung kein Betriebsrat im Sinne des Gesetzes sei. Die Personalvertretung beantragt die Feststellung, dass sie berechtigt ist, bei [X.]en gemäß § 6 Satz 1 [X.] Wahlvorschläge zu machen.

6

3. Das [X.] hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem [X.] die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 6 Satz 1 [X.] mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei. Eine verfassungskonforme Auslegung von § 6 Satz 1 [X.] komme nicht in Betracht. Nach dem fachspezifischen Sprachgebrauch in der parallel erlassenen "Verordnung zur Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer nach dem Drittelbeteiligungsgesetz - Wahlordnung zum Drittelbeteiligungsgesetz" (WO[X.]) und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes erfasse die Norm nur Betriebsräte im Sinne des [X.]es. Die Norm verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil sie die Chancengleichheit aller bei der Wahl antretenden Gruppen nicht wahre. § 6 Satz 1 [X.] versage 25 % der Gesamtbelegschaft, die die Personalvertretung Cockpit repräsentiere, und im Hinblick auf die Personalvertretung Kabine insgesamt der Hälfte der Belegschaft die Möglichkeit, Wahlvorschläge einzureichen, was auch nicht organisatorischer Effizienz diene.

II.

7

Die Vorlage ist unzulässig, weil sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 [X.] genügt.

8

1. Gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 1 [X.] hat ein Gericht die Entscheidung des [X.]s einzuholen, wenn es ein Gesetz für verfassungswidrig hält, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt.

9

Um den Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 [X.] zu genügen, muss das vorlegende Gericht darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift abhängt. Dazu muss es den entscheidungserheblichen Sachverhalt aus sich heraus verständlich schildern und sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzen (vgl. [X.] 88, 187 <194> m.w.N.), die in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Auffassungen berücksichtigen und auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten der Vorschrift eingehen (vgl. [X.] 127, 335 <356> m.w.N.). Der Beschluss muss den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für die Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen (vgl. [X.] 86, 71 <77 f.>). Das vorlegende Gericht muss auch die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung erörtern, wenn offensichtlich mehrere Auslegungsmöglichkeiten in Betracht kommen, die zu unterschiedlich starken Eingriffen in grundrechtlich geschützte Positionen führen und den verfassungsrechtlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts nicht in gleicher Weise ausgesetzt sind (vgl. [X.] 85, 329 <333 f.>; 124, 251 <262>). Es muss insoweit vertretbar begründen, dass es eine verfassungskonforme Auslegung der zur Prüfung gestellten Norm nicht für möglich hält ([X.] 121, 108 <117> m.w.N.).

2. Diesen Anforderungen genügt die Vorlage nicht. Es kann dabei offen bleiben, ob die Darlegungen des [X.]s zur Verfassungswidrigkeit der Norm hinreichend wären (a), denn es fehlt an einer hinreichenden Begründung, warum eine verfassungskonforme Auslegung der vorgelegten Norm zwingend ausgeschlossen sein soll, die grundrechtlich geschützte Positionen der Beteiligten weniger stark beeinträchtigt (b).

a) Es kann dahingestellt bleiben, ob die Überzeugung des [X.]s von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Regelung im Vorlagebeschluss hinreichend dargelegt worden ist. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit der Grundsatz der Wahlgleichheit aus dem Bereich von allgemeinpolitischen Wahlen auf Wahlen im wirtschaftlichen und [X.] Bereich übertragen werden kann und muss, inwieweit der Gesetzgeber die Möglichkeit hat, auf das Gewicht bestimmter Gruppen Rücksicht zu nehmen, und inwieweit bei [X.]en auch [X.] zu berücksichtigen sind (vgl. [X.] 111, 289 <300 f.>), fehlt insoweit jedenfalls. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit der in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutierten Frage, ob der Gesetzgeber das im Flugbetrieb beschäftigte Personal - jenseits etwaiger europarechtlicher Bedenken (vgl. [X.], [X.], 262; [X.], in: [X.], 14. Aufl. 2014, § 117 [X.], Rn. 1; a.[X.], in: [X.], [X.], 13. Aufl. 2012, § 117, Rn. 2; [X.], Beschluss vom 30. Oktober 2009 - 6 TaBVGa 2284/09 -, juris, Rn. 26) - überhaupt vom Anwendungsbereich des [X.]es ausnehmen darf (bejahend [X.], Beschluss vom 5. November 1985 - 1 ABR 56/83 -, juris, Rn. 33 ff. = [X.] Nr. 4 zu § 117 [X.] 1972, nicht in amtlicher Sammlung veröffentlicht; [X.], in: [X.], 14. Aufl. 2014, § 117 [X.], Rn. 1; [X.], in: [X.], [X.], 13. Aufl. 2012, § 117, Rn. 2; a.[X.], in: [X.]/Kittner/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl. 2012, § 117 Rn. 4 ff.; differenzierend Fitting, [X.], 26. Aufl. 2012, § 117, Rn. 5 ff., wonach ein Tarifvertrag zwingend die Vertretung zulassen müsse). Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage hätte jedenfalls nahe gelegen, denn sie ist eng mit dem hier entscheidungserheblichen [X.] verbunden. Nach verbreiteter Auffassung ist es verfassungsrechtlich zulässig, das fliegende Personal, sofern keine besondere tarifvertragliche Regelung besteht, vollständig von der betrieblichen Mitbestimmung auszunehmen. Damit wären auch Wahlvorschläge durch ein Vertretungsorgan des fliegenden Personals ausgeschlossen. Die fehlende Möglichkeit einer bestehenden Personalvertretung, Vorschläge zur Wahl des Aufsichtsrats zu unterbreiten, schränkt die Mitbestimmungsrechte des fliegenden Personals demgegenüber weit weniger schwerwiegend ein. Daher bedürfte es der Erklärung, aus welchen Gründen eine umfassende Einschränkung der betrieblichen Mitbestimmungsrechte verfassungsrechtlich zulässig sein sollte, die hier entscheidungserhebliche punktuelle Einschränkung in Bezug auf das [X.] dagegen nicht.

b) Auch wenn den Ausführungen des [X.]s verfassungsrechtliche Bedenken zu entnehmen sein sollten, hat es jedenfalls nicht hinreichend überzeugend dargelegt, warum eine verfassungskonforme Auslegung der streitentscheidenden Norm aus seiner Sicht nicht in Betracht kommt. Der fachspezifische Sprachgebrauch in § 2 Abs. 4 WO[X.], der zwischen Betriebsrat und Personalvertretung differenziert, zwingt nicht ohne weiteres dazu, auch § 6 Satz 1 [X.] derart eng zu verstehen. Es handelt sich um unterschiedliche Normgeber und Rechtsquellen unterschiedlicher Ebenen, denn das Drittelbeteiligungsgesetz ist ein förmliches Parlamentsgesetz, wohingegen die Verordnung zur Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer nach dem Drittelbeteiligungsgesetz durch die Bundesregierung erlassen wurde. Zudem normiert die Durchführungsverordnung durchaus ein wenngleich eingeschränktes Mitwirkungsrecht einer Personalvertretung bei der Durchführung von [X.]en, was dafür sprechen könnte, dies auch beim Vorschlagsrecht anzuerkennen. Darüber hinaus gibt es weitere Regelungen, die eine verfassungskonforme Auslegung der Begrifflichkeit des § 6 Abs. 1 [X.] zumindest als möglich erscheinen lassen. So findet nach dem hier anwendbaren § 1 Abs. 3 Tarifvertrag Personalvertretung Nr. 1 vom 25. Juli 2007 das [X.] grundsätzlich auch für das [X.] und dessen Personalvertretung Anwendung. Jedenfalls nach der Vorstellung der Tarifvertragsparteien ist also die Stellung der Personalvertretung derjenigen des Betriebsrats angenähert. Auch hat das [X.] in anderem Zusammenhang die Personalvertretung für das fliegende Personal unter den Begriff des Betriebsrats subsumiert ([X.], Teilurteil vom 26. April 2007 - 8 [X.] -, juris, Rn. 50 = ZIP 2007, 2136 ff., nicht in amtlicher Sammlung veröffentlicht). Die dort tragenden Überlegungen zur Effizienz des Insolvenzverfahrens liegen auch hier nahe, denn Wahlvorschläge lassen sich, wie das vorlegende Gericht selbst ausführt, durchaus effizient auch über die [X.] organisieren.

Für die Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung der streitentscheidenden Norm spricht zudem, dass diese in der Fachliteratur angesprochen und unterschiedlich gesehen, jedenfalls aber entgegen der Darstellung im Vorlagebeschluss auch befürwortet wird (dagegen [X.], in: [X.]/[X.]/[X.], Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 6 [X.] Rn. 4; dafür im Ergebnis [X.], in: [X.] Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, § 285 Rn. 17).

Einer weiten Auslegung der Norm steht ihre historische Deutung nicht entgegen. Nach den Darlegungen des vorlegenden Gerichts bleibt offen, ob der Gesetzgeber die Vertretungen für das fliegende Personal bewusst vom Vorschlagsrecht nach § 6 Satz 1 [X.] ausgenommen hat. Jedenfalls deckt die gesetzgeberische Vorstellung, das [X.] der Betriebsräte solle als organisatorisch einfaches Verfahren erhalten bleiben, wie das Gericht überzeugend darlegt, durchaus auch ein Vorschlagsrecht der [X.] nach § 117 Abs. 2 Satz 1 [X.]. Auch die in der vorgelegten Norm erfolgte Nennung der Arbeitnehmer neben den [X.] ließe sich als Hinweis auf die Möglichkeit einer weiten, Betriebsräte und vergleichbare Vertretungen berücksichtigenden Auslegung verstehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvL 7/11

12.02.2014

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Beschluss

Sachgebiet: BvL

vorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen), 14. Januar 2011, Az: 13 TaBV 46/10, Vorlagebeschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 100 Abs 1 GG, § 80 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 117 Abs 1 BetrVG, § 6 S 1 DrittelbG, § 2 Abs 4 WODrittelbG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.02.2014, Az. 1 BvL 7/11 (REWIS RS 2014, 7970)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 7970


Verfahrensgang

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Az. 1 BvL 7/11

Bundesverfassungsgericht, 1 BvL 7/11, 12.02.2014.


Az. 13 TaBV 46/10

Landesarbeitsgericht Hamm, 13 TaBV 46/10, 23.01.2015.

Landesarbeitsgericht Hamm, 13 TaBV 46/10, 14.01.2011.


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II ZB 14/11 (Bundesgerichtshof)

Alt-Aktiengesellschaft: Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat eines Unternehmens mit weniger als fünf Beschäftigten


II ZB 14/11 (Bundesgerichtshof)


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Wird zitiert von

13 TaBV 46/10

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