Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.08.2016, Az. 1 B 83/16

1. Senat | REWIS RS 2016, 6902

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Gegenstand

Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (hier: Anwendung einer Vorschrift nach ihrer Aufhebung)


Gründe

1

Die [X.]eschwerde hat keinen Erfolg.

2

1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.

3

Eine Rechtssache hat grundsätzliche [X.]edeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen [X.]edeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist ([X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 1. April 2014 - 1 [X.] 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 [X.] 7.15 - juris).

4

Die [X.]eschwerde hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,

"ob die Streichung des § 100a Abs. 1 [X.]VFG 2001 durch Art. 2 Nr. 2a des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur [X.]ereinigung des [X.]undesvertriebenengesetzes vom 07.11.2015 dazu geführt hat, dass nunmehr in noch offenen [X.]escheinigungsverfahren nach § 15 Abs. 1 [X.]VFG von Antragstellern, die vor dem 07.09.2001 im Wege des Aufnahmeverfahrens nach [X.] übergesiedelt sind und denen hier antragsgemäß oder ohne förmliche bestandskräftige Ablehnung eines Antrags auf Ausstellung einer [X.]escheinigung nach § 15 Abs. 1 [X.]VFG eine [X.]escheinigung nach § 15 Abs. 2 [X.]VFG ausgestellt wurde, nicht mehr auf die ab dem 07.09.2001 geltende, sondern auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Übersiedlung nach [X.] abzustellen ist,

oder

ob § 100a Abs. 1 [X.]VFG 2001 trotz Streichung der Vorschrift durch den Gesetzgeber in den vorgenannten Fällen weiterhin anzuwenden ist."

5

Dies rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Denn die aufgeworfene Frage kann bereits anhand des Gesetzes unter [X.]erücksichtigung der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden.

6

Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Die Gerichte sind [X.] einschlägig gültiger Normen zu deren Anwendung verpflichtet, dürfen sich über ihre Gesetzesbindung nicht hinwegsetzen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) schließt es aus, dass die Gerichte [X.]efugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des [X.] in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der [X.]indung an Recht und Gesetz entziehen ([X.]VerfG, [X.] vom 26. September 2011 - 2 [X.]vR 2216/06, 2 [X.]vR 469/07 - NJW 2012, 669 = juris Rn. 44 und vom 23. Mai 2016 - 1 [X.]vR 2230/15, 1 [X.]vR 2231/15 - juris Rn. 36, jeweils m.w.N.).

7

Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem [X.] zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, [X.] aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird ([X.]VerfG, [X.]eschluss vom 6. Juli 2010 - 2 [X.]vR 2661/06 - [X.]VerfGE 126, 286 <306> und [X.] vom 26. September 2011 - 2 [X.]vR 2216/06, 2 [X.]vR 469/07 - NJW 2012, 669 = juris Rn. 46). Der [X.]efugnis zur "schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung" sind allerdings mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt ([X.]VerfG, [X.] vom 23. Mai 2016 - 1 [X.]vR 2230/15, 1 [X.]vR 2231/15 - juris Rn. 37 m.w.N.). Der [X.] darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten [X.]edingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des [X.], keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein ([X.]VerfG, [X.]eschluss vom 25. Januar 2011 - 1 [X.]vR 918/10 - [X.]VerfGE 128, 193 = juris Rn. 53, [X.] vom 3. März 2015 - 1 [X.]vR 3226/14 - [X.] 2015, 121 = juris Rn. 18 und vom 23. Mai 2016 - 1 [X.]vR 2230/15, 1 [X.]vR 2231/15 - juris Rn. 39). Rechtsfortbildung überschreitet die zulässigen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft ([X.]VerfG, [X.]eschluss vom 6. Juli 2010 - 2 [X.]vR 2661/06 - [X.]VerfGE 126, 286 <306>). Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch judikative Lösung ersetzen ([X.]VerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 5 C 18.12 - [X.]uchholz 436.511 § 93 SG[X.] VIII Nr. 5 = juris Rn. 22 m.w.N.).

8

Nach diesen Maßstäben ist die vom [X.]erufungsgericht vertretene Auffassung, dass die aufgehobene Vorschrift des § 100a Abs. 1 [X.]VFG 2001 auf Fälle der vorliegenden Art nicht anwendbar ist, nicht zu beanstanden. Art. 2 Nr. 2. a) des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur [X.]ereinigung des [X.]undesvertriebenengesetzes vom 7. November 2015 ([X.]G[X.]l. I S. 1922) ist einer einschränkenden Auslegung dahingehend, dass § 100a Abs. 1 [X.]VFG 2001 trotz Streichung weiterhin ganz oder teilweise anzuwenden ist, nicht zugänglich. Voraussetzung für eine teleologische Reduzierung ist, dass der Wortlaut einer Vorschrift zu weit gefasst ist, diese also auch Fälle umfasst, die der inneren Teleologie (Zielsetzung) des Gesetzes widersprechen. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, weil bei einer Auslegung der Norm in dem Sinne, dass § 100a Abs. 1 [X.]VFG 2001 trotz Streichung als fortbestehend zu behandeln ist, der [X.] seines Anwendungsbereichs gänzlich beraubt würde und folglich nicht nur eine Einschränkung des Anwendungsbereichs vorliegen würde. Zwar ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, dass die Streichung des § 100a Abs. 1 [X.]VFG 2001 lediglich der Rechtsbereinigung dienen sollte und der Gesetzgeber davon ausging, dass sich der Zweck der Norm erledigt habe ([X.]T-Drs. 18/4625 S.11). Diese unzutreffende tatsächliche Einschätzung berechtigt die Judikative indes auch dann nicht, sich über den eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers, die Vorschrift aufzuheben, hinwegzusetzen, wenn sie auf einem offenkundigen Irrtum des Gesetzgebers beruhte und etwa die durch die eindeutig gewollte Aufhebung des § 100a Abs. 1 [X.]VFG 2001 bewirkten Rechtsfolgen von dem Gesetzgeber nicht gewollt gewesen wären. Der Gesetzgeber hat daher selbst tätig zu werden, falls er seine irrtümliche Vorstellung, dass die Norm keinen Anwendungsbereich mehr hat, korrigieren will.

9

2. Im Übrigen wirft das [X.]eschwerdevorbringen eine bestimmte abstrakte, klärungsbedürftige Rechtsfrage zu einer Norm des revisiblen Rechts nicht auf. Dies gilt insbesondere, soweit die [X.]eschwerde (s. S. 13 der [X.]eschwerdeschrift) Zweifel äußert, ob das [X.]undesverwaltungsgericht heute noch an der im Urteil vom 19. Oktober 2000 (- 5 C 44.99 -) erfolgten Auslegung des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.]VFG festhalten würde.

3. Von einer weitergehenden [X.]egründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

4. [X.] beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Meta

1 B 83/16

10.08.2016

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 7. April 2016, Az: 11 A 2336/14, Urteil

§ 100a Abs 1 BVFG, § 15 Abs 1 BVFG, § 15 Abs 2 BVFG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.08.2016, Az. 1 B 83/16 (REWIS RS 2016, 6902)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 6902

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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