Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 26.01.2022, Az. 2 BvR 75/22

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2022, 1756

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsbeschwerde gegen sitzungspolizeiliches Verbot des Mitschreibens in einem Staatsschutzverfahren wegen Subsidiarität unzulässig - Antrag auf Ausnahmegenehmigung nicht aussichtslos und daher vorrangig


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

1. [X.] richtet sich unmittelbar gegen folgende Anordnung des Senatsvorsitzenden in einem vor dem [X.] geführten Staatsschutzverfahren:

Zuschauern ist das Mitschreiben in der Verhandlung grundsätzlich nicht gestattet. Sofern in Ausnahmefällen ein nachgewiesenes wissenschaftliches Interesse an der Mitschrift besteht, kann ein begründeter Antrag an den Senat gestellt werden. Eine Mitschrift ist dann im Fall positiver Bescheidung zulässig.

2

Medienvertretern hingegen ist gestattet, sich mit internetfähigen Geräten im Offline-Modus Notizen zu machen.

3

Die Anordnung stützte der Senatsvorsitzende auf § 176 Abs. 1 [X.]. Eine Begründung für die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung enthält die [X.] Verfügung nicht.

4

2. Der Beschwerdeführer macht geltend, diese Regelung verletze ihn in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit. Außerdem gebe es keinen Grund dafür, Medienvertreter und Personen, die ein wissenschaftliches Interesse daran geltend machen könnten, in der Verhandlung mitzuschreiben, ihm gegenüber zu privilegieren, weshalb auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliege. Er führt aus, er besuche "nur ab und zu in [seiner] Freizeit Gerichtsprozesse und möchte auch an diesem [Prozess] teilnehmen und [sich] bei spannenden Sachen Notizen machen, […] den Eindruck des [X.] schriftlich festhalten und mitschreiben, wie so ein großer Gerichtsprozess [ablaufe]". Seine Aufzeichnungen wolle er weder an andere Personen weitergeben noch sonst veröffentlichen.

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3. Es ist dem Beschwerdevortrag nicht zu entnehmen, ob der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde beim Senat beantragt hat, ihm das Mitschreiben während der Verhandlung zu gestatten.

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[X.] wird nicht zur Entscheidung angenommen, denn die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] sind nicht erfüllt. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, da sie unzulässig ist. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der Subsidiaritätsgrundsatz entgegen.

7

1. Der aus § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] abgeleitete Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. [X.] 68, 384 <388 f.>; 77, 381 <401>; 81, 97 <102>; 140, 229 <232 f. Rn. 10>). Die mit dem Grundsatz der Subsidiarität bezweckte vorrangige Anrufung der Fachgerichte soll eine umfassende Vorprüfung des [X.] gewährleisten (vgl. [X.] 4, 193 <198>; 16, 124 <127>; 51, 386 <396>; 72, 39 <43>). Dem [X.] soll vor seiner Entscheidung unter anderem ein - gegebenenfalls sogar in mehreren Instanzen - geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Gerichte vermittelt werden (vgl. [X.] 8, 222 <227>; 9, 3 <7>; 72, 39 <43>; 140, 229 <232 f. Rn. 10>).

8

Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität verpflichtet einen Beschwerdeführer zwar nicht, fachgerichtlichen Rechtsschutz zu suchen, wenn dieser offensichtlich aussichtslos wäre (vgl. [X.] 16, 1 <2 f.>; 55, 154 <157>; 102, 197 <208>; 150, 309 <327 f. Rn. 45>). Er greift aber ein, wenn eine anderweitige Möglichkeit besteht, den geltend gemachten Grundrechtsverstoß zu beseitigen. Beruht ein Eingriffsakt auf einer grundrechtsverletzenden Regelung, die Ausnahmen vorsieht, muss der Beschwerdeführer deshalb vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde versuchen, die Beseitigung des [X.] unter Berufung auf die Ausnahmeregelung zu erwirken (vgl. [X.] 78, 58 <69>).

9

2. Diese Grundsätze hat der Beschwerdeführer nicht beachtet. Im Ansatz zutreffend erkennt er, dass ihm ein Rechtsbehelf gegen die [X.] Verfügung eines Senatsvorsitzenden beim [X.] nicht zusteht (vgl. [X.], Beschluss vom 13. Oktober 2015 - StB 10/15, StB 11/15 -, juris, Rn. 3 ff.; vgl. auch [X.] 91, 125 <133>; 103, 44 <58>; 119, 309 <317>; offenlassend [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 8. Juli 2016 - 1 BvR 1534/16 -, Rn. 2; Beschluss der [X.] des [X.] vom 6. September 2016 - 1 BvR 2001/16 -, Rn. 2). Er übersieht allerdings, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gehalten ist, dem geltend gemachten Grundrechtsverstoß entgegenzuwirken, indem er unter Berufung auf Ausnahmeregelungen beantragt, eine ihm eine durch eine abstrakte Regelung präventiv untersagte Handlung in dem ihn betreffenden Einzelfall zu erlauben.

Ein solcher Antrag erwiese sich hier nicht von vornherein als offensichtlich aussichtslos, denn das Verbot, in der Verhandlung mitzuschreiben, gilt nach der angegriffenen [X.]n Verfügung nicht ausnahmslos. Das [X.] behält sich vor, nach entsprechender Prüfung eines begründeten Antrags Ausnahmen vom [X.] zuzulassen. Zwar ist in der angegriffenen Verfügung ausdrücklich nur vorgesehen, Zuschauern das Mitschreiben bei dargelegtem wissenschaftlichen Interesse zu gestatten. Der Strafsenat ist aber gehalten, jedes grundrechtsrelevante Vorbringen zu erwägen und zu bescheiden, denn er hat die Aufgabe, zunächst als Fachgericht die für eine tragfähige verfassungsrechtliche Prüfung erforderliche Tatsachenbasis zu ermitteln und die Grundrechte des Beschwerdeführers zu wahren und durchzusetzen (vgl. [X.] 107, 395 <414>).

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GO[X.]).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 75/22

26.01.2022

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Frankfurt, 14. Dezember 2021, Az: 5-3 StE 2/21-4 - 2/21, Verfügung

Art 2 Abs 1 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 176 Abs 1 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 26.01.2022, Az. 2 BvR 75/22 (REWIS RS 2022, 1756)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1756

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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