Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.05.2019, Az. B 14 AS 37/18 B

14. Senat | REWIS RS 2019, 7517

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung - Beiziehung eines Rentengutachtens ohne vorherige Unterrichtung der Beteiligten


Tenor

Auf die Beschwerden der Kläger wird das Urteil des [X.] vom 25. Januar 2018 - L 31 AS 994/17 - aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Sache über die Frage, ob die Bedarfe der Kläger für Unterkunft und Heizung trotz eines durchgeführten [X.] für den Zeitraum Mai bis Oktober 2014 weiterhin in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anzuerkennen waren, weil ihnen aufgrund der psychischen Erkrankung des [X.] zu 2. ein Umzug nicht zuzumuten war.

2

Das [X.] hat der Klage auf der Grundlage einer persönlichen Anhörung des [X.] zu 2. und der Vernehmung einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie des sozialpsychiatrischen Dienstes stattgegeben (Urteil vom 24.3.2017).

3

Soweit das beklagte Jobcenter hiergegen Berufung eingelegt hat, ist diese erfolgreich gewesen (Urteil des L[X.] vom 25.1.2018). Das L[X.] hat sich insoweit maßgeblich auf im [X.] erstellte Gutachten zur Erwerbsfähigkeit des [X.] zu 2. gestützt. Von der Beiziehung der Rentenakten hat es die Beteiligten erst in der mündlichen Verhandlung unterrichtet. Mit der Ladung erfolgte allein der Hinweis, die Akten des Beklagten seien beigezogen. Die Prozessbevollmächtigte der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage "der [X.]" des [X.] zu 2. beantragt sowie [X.] von einem Monat, um zu der Absicht des L[X.], sich auf die Gutachten zur Erwerbsfähigkeit zu beziehen, Stellung zu nehmen. Das L[X.] hat gleichwohl am selben Tag durch Urteil entschieden und insoweit ausgeführt, bei dem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens habe es sich nur um eine Beweisanregung gehandelt, der nicht nachzugehen sei, weil der Sachverhalt hinreichend geklärt sei. Insoweit sei auch keine [X.] zu gewähren, da der Senat durch die Ladung ausreichend zu erkennen gegeben habe, dass er die Sache ohne weitere Ermittlungen für entscheidungsreif halte.

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision im vorbezeichneten Urteil richten sich die Beschwerden der Kläger, mit denen sie ua die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör rügen.

5

II. Die Beschwerden der Kläger sind zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 160a Abs 5 [X.]G). Das Urteil des L[X.] beruht auf einem Verfahrensfehler nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G, der von den Klägern entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G bezeichnet worden ist. Zutreffend rügen die Kläger, dass das L[X.] ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

6

Gemäß § 62 Halbsatz 1 [X.]G, der einfachrechtlich das durch Art 103 Abs 1 GG garantierte prozessuale Grundrecht wiederholt, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren; dies gilt insbesondere für eine die Instanz abschließende Entscheidung. Demgemäß darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 [X.]G). Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs im Gerichtsverfahren hat ua zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben müssen und ihnen dazu eine angemessene Zeit eingeräumt wird (vgl nur B[X.] vom 19.3.1991 - 2 RU 28/90 - [X.] 3-1500 § 62 [X.]; B[X.] vom [X.] - B 2 U 15/00 R - [X.] 3-1500 § 128 [X.]; B[X.] vom 23.10.2003 - [X.]/03 B - [X.] 4-1500 § 62 [X.] RdNr 6). Dies gilt auch für den [X.], in der das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten zu erörtern ist (§ 112 Abs 2 [X.]G). Nimmt der Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung eine unerwartete Wendung, so muss das Gericht, um [X.] zu verhindern, ggf durch Einräumung einer angemessenen Frist zur Stellungnahme sicherstellen, dass sich die Beteiligten sachgemäß zum Prozessstoff äußern können (B[X.] vom 23.10.2003 - [X.]/03 B - [X.] 4-1500 § 62 [X.] RdNr 6 [X.]).

7

Daran gemessen hätte das L[X.] auf den entsprechenden Antrag der anwaltlich vertretenen Kläger die Verhandlung entweder vertagen (§ 202 [X.]G iVm § 227 Abs 1 ZPO) oder ihnen jedenfalls [X.] (§ 202 [X.]G iVm § 283 ZPO) gewähren müssen (vgl zu den verschiedenen Möglichkeiten B[X.] vom 23.10.2003 - [X.]/03 B - [X.] 4-1500 § 62 [X.] RdNr 8). Es durfte nicht voraussetzen, dass die Prozessbevollmächtigte der Kläger in der mündlichen Verhandlung spontan in der Lage war, sich zu dem bereits vor mehr als 3 ½ Jahren zuvor erstellten [X.] sachgemäß zu äußern. Die Kläger mussten vor der mündlichen Verhandlung auch nicht damit rechnen, dass das L[X.] die Rentenakten beiziehen und sich im Hinblick auf die Unzumutbarkeit des Umzugs aus gesundheitlichen Gründen entscheidungserheblich auf die dort getroffenen gutachtlichen Feststellungen zur geltend gemachten Erwerbsunfähigkeit stützen würde. Die Begründung des L[X.] für die nicht gewährte [X.], es habe durch die Ladung ausreichend zu erkennen gegeben, dass es die Sache ohne weitere Ermittlungen für entscheidungsreif halte, ist nach dem Akteninhalt nicht verständlich, weil es sich mit der Beiziehung der Rentenakten gerade zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen nach § 153 Abs 1 iVm § 106 Abs 3 [X.]G veranlasst gesehen hat; allerdings ohne die Beteiligten hierüber in Kenntnis zu setzen (vgl zu einer insoweit idR vor der mündlichen Verhandlung gebotenen Mitteilung nur B. [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 107 RdNr 2a [X.]). Bei dem Antrag auf [X.] hat es sich in dieser prozessualen Situation um die naheliegende Möglichkeit der Kläger gehandelt, sich Gehör zu verschaffen.

8

Dass die Entscheidung des L[X.] auf dieser Verletzung des Anspruchs der Kläger auf rechtliches Gehör beruhen kann, haben sie in ihrer Beschwerdebegründung nachvollziehbar dargelegt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sie in einem nachgelassenen Schriftsatz oder einer weiteren mündlichen Verhandlung die begrenzte Aussagekraft des beigezogenen Gutachtens für die hier zu klärende [X.] überzeugend hätten darlegen können und sich das L[X.] zu weiteren Ermittlungen mit anderem Ergebnis hätte veranlasst gesehen.

9

Angesichts dieser Verletzung des Anspruchs der Kläger auf rechtliches Gehör kann eine Entscheidung über die von ihnen erhobenen weiteren [X.] dahinstehen.

Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 [X.]G eröffneten Möglichkeit Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des vorliegenden Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache an das L[X.] zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Das L[X.] wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 14 AS 37/18 B

08.05.2019

Bundessozialgericht 14. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Berlin, 24. März 2017, Az: S 194 AS 16219/14, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 62 Halbs 1 SGG, § 112 Abs 2 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 283 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.05.2019, Az. B 14 AS 37/18 B (REWIS RS 2019, 7517)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 7517

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