Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12.09.2016, Az. 1 BvR 1630/16

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2016, 5679

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Versagung sozialgerichtlichen Eilrechtsschutzes bzgl der Erhöhung eines Persönliches Budgets (§ 17 SGB 9, § 57 SGB 12) verletzt Rechtsschutzanspruch des Betroffenen (Art 19 Abs 4 S 1 GG) - Anforderungen an Darlegung eines Anordnungsgrundes dürfen nicht überspannt werden - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 27. Juni 2016 - L 4 [X.] 75/16 B ER - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Damit erledigen sich die Anträge auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts sowie auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das [X.] auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die [X.]beschwerde richtet sich gegen sozialgerichtliche Beschlüsse in sozialhilferechtlichen Eilverfahren, mit denen der Antrag des Beschwerdeführers, sein Persönliches Budget im Wege der einstweiligen Anordnung zu erhöhen, mit der Begründung abgelehnt wurde, er habe einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.

2

1. Der Beschwerdeführer ist wegen der Folgen einer frühkindlichen Hirnschädigung auf ständige Pflege und Unterstützung angewiesen. Der Sozialhilfeträger gewährt ihm ein Persönliches Budget (§ 57 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch in Verbindung mit § 17 Abs. 2 [X.]), mit dem er in einer eigenen Wohnung wohnen und die ambulante Versorgung selbst organisieren kann, indem er [X.] beschäftigt (sogenanntes "[X.]").

3

2. Der Beschwerdeführer streitet mit dem Sozialhilfeträger über die Höhe des Persönlichen Budgets. Bezogen auf einen vergangenen Bewilligungszeitraum bis Juli 2015 hatte er beim Sozialgericht eine einstweilige Anordnung erwirkt, mit der seinem auf vorläufige Erhöhung des Persönlichen Budgets gerichteten Begehren in voller Höhe entsprochen wurde. Im Hauptsacheverfahren ist eine Entscheidung noch nicht ergangen. Bezogen auf den anschließenden Bewilligungszeitraum bis Juli 2016 bewilligte der Sozialhilfeträger erneut nur einen geringeren monatlichen Betrag. Der dagegen gerichtete Widerspruch wurde mit Einverständnis des Beschwerdeführers und mit [X.]ick auf das beim Sozialgericht anhängige Hauptsacheverfahren nicht weiter bearbeitet.

4

3. Das Sozialgericht lehnte den vom Beschwerdeführer im April 2016 gestellten Antrag, sein Persönliches Budget im Wege der einstweiligen Anordnung zu erhöhen, mit angegriffenem Beschluss vom 10. Mai 2016 ab und führte zur Begründung aus, ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht. Seit der Einlegung des Widerspruchs seien mehr als sieben Monate verstrichen, in denen es dem Beschwerdeführer offenbar gelungen sei, seine Versorgung sicherzustellen. Insofern sei es unverständlich, wenn der Beschwerdeführer nunmehr, ohne sich zuvor wieder an den Antragsgegner gewandt und ohne das Widerspruchsverfahren wieder aufgerufen zu haben, sich plötzlich an das Gericht wende und die Eilbedürftigkeit seines Anliegens geltend mache.

5

4. Das [X.] wies die Beschwerde des Beschwerdeführers mit angegriffenem Beschluss vom 27. Juni 2016 zurück. Zur Begründung nahm es auf die Ausführungen des [X.] Bezug und führte ergänzend aus, der Beschwerdeführer habe einen Anordnungsgrund auch nicht im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemacht. Vielmehr habe er lediglich pauschale Personalkostenberechnungen vorgelegt, die nicht erkennen ließen, wieso er mehr als die doppelte Summe des ihm bisher von der Antragsgegnerin gewährten Persönlichen Budgets benötige. Die Antragsgegnerin habe einen Rund-um-die-Uhr-Bedarf berücksichtigt. Der Beschwerdeführer habe keine konkreten Unterlagen vorgelegt, die erkennen ließen, weshalb der mehr als doppelte Bedarf geboten sein solle. Die von ihm in diesem Zusammenhang vorgelegten Bescheinigungen seien pauschal gehalten und ließen keinen konkreten Bezug zum Bedarf des Antragstellers erkennen. Schließlich habe der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren keine konkreten Arbeitsverträge betreffend die von ihm beschäftigten Assistenzpersonen vorgelegt. Nach alledem sei ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.

6

1. Mit seiner [X.]beschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Er macht geltend, er habe keine Möglichkeit, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren seine Assistenz aufrecht zu erhalten. Er könne Sozialabgaben und Löhne nicht mehr zahlen und ihm drohe die Privatinsolvenz.

7

2. Das [X.] hat Stellung genommen. Das [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.

8

Die Kammer nimmt die [X.]beschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Entscheidung an und gibt ihr insoweit statt. Das [X.] hat die für die Beurteilung der [X.]beschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt (vgl. [X.] 93, 1 <13 f.> m.w.N.); die zulässige [X.]beschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]G). Der Beschluss des [X.]s vom 27. Juni 2016 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

9

1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. [X.], 263 <274>; 35, 382 <401 f.> m.w.N.). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich im Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. [X.] 37, 150 <153>; 65, 1 <70>). Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl. [X.] 49, 220 <226>; 77, 275 <284>). So sind die Fachgerichte gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen ([X.] 93, 1 <13 f.>). Hinsichtlich des fachrechtlich begründeten Erfordernisses der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes bedeutet dies, dass die Anforderungen an dessen Vorliegen nicht überspannt werden dürfen ([X.] 93, 1 <15>; vgl. auch [X.], 233 <243>).

2. Diesen Anforderungen genügt der Beschluss des [X.]s vom 27. Juni 2016 nicht.

Das [X.] hat die Anforderungen an das Vorliegen eines nach § 86b Abs. 2 [X.]gesetz für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrundes in einer am Maßstab von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht hinnehmbaren Weise überspannt. Dem Beschwerdeführer droht hier ganz offensichtlich eine über Randbereiche hinausgehende Verletzung in eigenen Rechten, wenn er im Eilverfahren unterliegt, in der Hauptsache aber obsiegt.

Die Infragestellung des vom Beschwerdeführer im Rahmen des ihm nach Auffassung der Beteiligten des Ausgangsverfahrens dem Grunde nach unstreitig zustehenden Persönlichen Budgets eingegangenen "[X.]" für die Dauer des Hauptsacheverfahrens wiegt - mit [X.]ick auf seine Bedürfnisse einerseits und seine Verpflichtungen aus seinen Beschäftigungsverhältnissen andererseits - ersichtlich schwer. Es ist einem Gericht in einem solchen Fall zwar nicht von vornherein von [X.] wegen verwehrt, bei der Beurteilung der Frage, ob die zur Begründung des Antrages geltend gemachte Eilbedürftigkeit auch glaubhaft gemacht worden ist, dem Umstand der Erfüllung der eingegangenen finanziellen Verpflichtungen über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit eine Bedeutung beizumessen. Allerdings ist entscheidend auf die gegenwärtige Situation des Bedürftigen abzustellen, weshalb Umstände aus der Vergangenheit nur insoweit herangezogen werden dürfen, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage ermöglichen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 6. August 2014 - 1 BvR 1453/12 -, juris, Rn. 12). Daher überschreitet das Gericht jedenfalls dann die Grenze des nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Zulässigen, wenn die Erfüllung der finanziellen Verpflichtung über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit den Schluss auf die mangelnde Eilbedürftigkeit deshalb nicht zulässt, weil sich den Ausführungen des Betroffenen gewichtige Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass die finanziellen Kapazitäten nunmehr vollständig ausgeschöpft sind.

Dies war hier der Fall. Der Beschwerdeführer hatte dem [X.] im Beschwerdeverfahren Unterlagen vorgelegt, denen sich entnehmen lässt, dass er ab März 2016 in Bezug auf seine finanziellen Verpflichtungen aus dem von ihm eingegangenen "[X.]" in Schwierigkeiten geraten ist ([X.]. 178 bis 187 der beigezogenen Gerichtsakte). Dazu hat er geltend gemacht, dass dies auf die zu diesem Zeitpunkt eingetretene finanzielle Leistungsunfähigkeit zurückzuführen sei. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den weiteren Ausführungen des [X.]s. Sie ändern nichts daran, dass die Dringlichkeit seines Begehrens nicht mit dem schlichten Verweis auf seine bisherige Leistungsfähigkeit verneint werden durfte, zumal die Erwägungen des [X.]s mehr auf den Anordnungsanspruch als auf den Anordnungsgrund zielen, ohne jedoch das Vorliegen des Anspruchs zu prüfen.

3. Die Entscheidung des [X.]s beruht auf der unzureichenden Beachtung der sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das [X.] bei einer verfassungsrechtlich gebotenen Befassung mit dem Begehren des Beschwerdeführers zu einem für diesen günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Dem Beschluss lässt sich nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen, dass das [X.] die begehrte einstweilige Anordnung nicht - auch nicht in Teilen - erlassen hätte. Er verhält sich insbesondere nicht zu der Frage, welcher Maßstab bei Prüfung des Anordnungsanspruchs zu Grunde gelegt worden wäre. Es kann daher nicht beurteilt werden, zu welchem Ergebnis die Zweifel des Gerichts am Erfolg des Beschwerdeführers in der Hauptsache geführt hätten.

4. Soweit sich die [X.]beschwerde gegen den Beschluss des [X.] richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der [X.]beschwerde hat der Beschwerdeführer nunmehr erneut die Möglichkeit, vor dem [X.] die Beseitigung seiner Beschwer zu erstreiten. Dies kann zur Folge haben, dass im Ergebnis sämtliche geltend gemachten [X.]rechtsverletzungen beseitigt werden (vgl. [X.]K 11, 13 <20>).

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 [X.]G. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten für das [X.]beschwerdeverfahren erledigt sich, weil das [X.] zur Kostenerstattung verpflichtet wird (vgl. [X.] 105, 239 <252>). Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]G abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1630/16

12.09.2016

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 27. Juni 2016, Az: L 4 SO 75/16 B ER, Beschluss

Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 57 SGB 12, § 17 Abs 2 SGB 9, § 86b SGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12.09.2016, Az. 1 BvR 1630/16 (REWIS RS 2016, 5679)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5679

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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