Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 28.07.2016, Az. 1 BvR 1644/15

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2016, 7431

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 20. April 2015 - 011 O 4106/14 - und der Beschluss des [X.] vom 10. Juni 2015 - 1 W 925/15 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes und werden aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

4. Der [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

5. [X.] wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage gegen den [X.] wegen menschenunwürdiger Unterbringung in Strafhaft.

2

1. Mit Schriftsatz an das [X.] vom 5. November 2014 übersandte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nebst [X.] für eine Amtshaftungsklage gegen den [X.]. Er machte geltend, im Zeitraum vom 9. Oktober 2013 bis zum 28. November 2013 insgesamt 51 Tage lang unter menschenunwürdigen Bedingungen in der [X.] in Haft gewesen zu sein. Vom 9. Oktober 2013 bis zum 6. November 2013 sei er gemeinsam mit drei weiteren Gefangenen im Haftraum Nr. 510 untergebracht gewesen, der eine Gesamtgrundfläche von 18 m

3

Der Beschwerdeführer monierte unter anderem den Verlust jeglicher Privatsphäre und unzumutbare Belastungen der Gefangenen, die aus dem erzwungenen engen körperlichen Kontakt rührten.

4

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 20. April 2015 verweigerte das [X.] dem Beschwerdeführer die Prozesskostenhilfe. Die Klage habe keine Aussicht auf Erfolg. Unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des [X.] und des [X.] führte das [X.] - soweit hier erheblich - aus, dass sich nicht abstrakt-generell klären lasse, ob der Vollzug einer Strafhaft als menschenunwürdig anzusehen sei; vielmehr bedürfe es jeweils einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls. Dabei kämen als Faktoren, die eine aus den räumlichen Haftbedingungen resultierende Verletzung der Menschenwürde indizierten, in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen in Betracht, namentlich Abtrennung und Belüftung der Toilette. Eine Menschenwürdeverletzung sei danach nicht festzustellen.

5

Der [X.] gehe bei der Anwendung von Art. 3 [X.] als Leitlinie für die für jeden Gefangenen erforderliche Fläche von 4 m

6

Ein etwaiger Anspruch auf Entschädigung sei auch deswegen ausgeschlossen, weil der Beschwerdeführer die Beeinträchtigung seiner Menschenwürde nicht durch Gebrauch eines Rechtsmittels abgewendet habe. Gemäß § 839 Abs. 3 BGB führe dies zum Anspruchsverlust.

7

3. Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2015 legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein, die das [X.] mit angegriffenem Beschluss vom 10. Juni 2015 zurückwies.

8

Die sofortige Beschwerde sei unbegründet, da nach der gebotenen Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls eine Verletzung der Menschenwürde nicht vorliege. Wie die vom [X.] vorgelegten Fotos belegten, seien die Toiletten der Hafträume nicht nur durch einen "Holzverschlag", sondern baulich vollständig vom restlichen Raum getrennt und mit einem Aktivkohlefilter ausgestattet gewesen. Die dem Beschwerdeführer nach eigenem Vortrag im Haftraum Nr. 510 zur Verfügung stehenden 4,5 m

9

4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

5. Dem Justizministerium des [X.]s Bayern sowie der Präsidentin des [X.] wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Sie halten die Verfassungsbeschwerde jeweils für unbegründet. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Verfassungsbeschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung anzunehmen, da dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

1. Das [X.] hat die hier maßgeblichen Fragen zu Inhalt und Reichweite des aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit bereits geklärt (vgl. [X.] 81, 347 <356 ff.>; 92, 122 <124>). Die Verfassungsbeschwerde ist danach hinsichtlich der Rüge einer Verletzung der Rechtsschutzgleichheit im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] zulässig und begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit.

a) Die Gewährleistung der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von [X.] und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. [X.] 9, 124 <130 f.>; stRspr). Zwar ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der [X.] erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (vgl. [X.] 81, 347 <357>).

Danach dürfen bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können. Dabei muss Prozesskostenhilfe nicht immer schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe kann ungeachtet des Fehlens einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gerechtfertigt sein, wenn die Rechtsfrage angesichts der gesetzlichen Regelung oder im Hinblick auf [X.], die von bereits vorliegender Rechtsprechung bereitgestellt werden, ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann. Ist dies jedoch nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der [X.] wegen fehlender Erfolgsaussichten ihres Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (vgl. [X.] 81, 347 <359>). Ansonsten würde der [X.] im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 14. Juni 2006 - 2 BvR 626/06 u.a. -, NVwZ 2006, S. 1156 <1157>; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. Februar 2008 - 1 BvR 1807/07 -, NJW 2008, S. 1060 <1061>; Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1044> und vom 7. November 2011 - 1 BvR 1403/09 -, juris).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Prozesskostenhilfe versagenden Beschlüsse des [X.]s und [X.]s einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Sowohl [X.] als auch [X.] haben ihre Einschätzung fehlender Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung auf ein Verständnis der [X.] in der Haftunterbringung gestützt, das in der bisherigen Rechtsprechung der Fachgerichte noch keine hinreichende Klärung gefunden hat. Die damit verbundenen Fragestellungen durften demnach nicht in das Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert werden.

aa) Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung sind [X.] wie [X.] im Ansatz davon ausgegangen, dass die Frage nach der Menschenwürdigkeit der Unterbringung von Strafgefangenen von einer Gesamtschau der tatsächlichen, die [X.] bestimmenden Umstände abhängt, wobei als Faktoren in räumlicher Hinsicht in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen, namentlich die Abtrennung und Belüftung der Toilette, zu beachten sind (vgl. nur [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Juli 2015 - 1 BvR 1332/14 -, juris; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 22. März 2016 - 2 BvR 566/15 -, juris) und als die [X.] mildernde oder verschärfende Merkmale der Umfang der täglichen Einschlusszeiten und die Belegdichte des Haftraums Berücksichtigung finden. Die Frage, wie diese Faktoren zu bewerten sind und insbesondere, ob oder unter welchen Bedingungen - wie es die angegriffenen Entscheidungen für ausreichend halten - auch eine anteilige Grundfläche von unterhalb von 6 m

Allerdings lässt sich die Frage, wann die räumlichen Verhältnisse in einer Strafanstalt derart beengt sind, dass die Unterbringung eines Gefangenen dessen Menschenwürde verletzt, nach der Rechtsprechung des [X.] nicht abstrakt-generell klären, sondern muss der tatrichterlichen Beurteilung überlassen bleiben (beispielsweise [X.], Urteil vom 4. Juli 2013 - [X.] -, [X.]Z 198, 1). Danach kann es die Klärung eines verfassungsmäßigen [X.] im Sinne schematisch festgelegter allgemeiner Maßzahlen nicht geben (vgl. [X.], Urteil vom 11. März 2010 - [X.]/09 -, NJW-RR 2010, S. 1465). Dies stellt jedoch nicht in Frage, dass es für die Anforderungen an menschenwürdige Haftbedingungen der Herausbildung auch übergreifender Grundsätze und Unterscheidungsmerkmale bedarf, die sowohl den Betroffenen als auch den Behörden Kriterien an die Hand geben, die die Beurteilung der Menschenwürdigkeit der Unterbringung hinreichend vorhersehbar machen.

bb) Diese Anforderungen sind zurzeit nicht geklärt und werden von den Gerichten verschieden beurteilt.

(1) So setzt die obergerichtliche Rechtsprechung bei mehrfach belegten [X.] zum Teil [X.] von 6, zum Teil auch von 7 m

(2) Ungeklärt ist auch die in der Entscheidung des [X.]s aufgeworfene Frage des Verhältnisses der Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 GG zu denen aus Art. 3 [X.]. Der [X.] ist, bezogen auf das Verbot der Folter, der unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafungen oder Behandlung nach Art. 3 [X.], von einem Richtwert von 4 m² Grundfläche pro Gefangenen ausgegangen ([X.], Urteil vom 12. Juli 2007, [X.]. 20877/04, [X.], [X.], [X.] Rn. 57 f.). Für erniedrigende Haftbedingungen spricht eine starke Vermutung, wenn ein Häftling nicht über 3 m

(3) In der Rechtsprechung der Fachgerichte weitgehend offen ist auch die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage nach der Beurteilung einer [X.] durch die gemeinschaftliche Unterbringung auf engem Raum. Zwar hat der [X.] entschieden, dass in der bloßen Tatsache einer - auch rechtswidrigen - Gemeinschaftsunterbringung nicht ohne Weiteres ein Verstoß gegen die Menschenwürde liegt ([X.], Beschluss vom 28. September 2006 - [X.]/05 -, NJW 2006, S. 3572; vgl. zur [X.] auch [X.], Urteil vom 15. Juli 2002, [X.]. 47095/99 - Kalashnikov ./. [X.] -, NVwZ 2005, S. 303 <304 f.>). Damit ist jedoch nicht geklärt, ob und unter welchen Umständen die Eigenheiten der Zwangsgemeinschaft im Einzelfall besondere Nachteile darstellen können. Offen ist bislang, wie sich die bei höherer [X.] auf geringem Raum auftretenden Stress- und Konfliktsituationen und die Anforderungen an eine unabdingbare Privatsphäre auf den Raumbedarf auswirken und welches Gewicht - auch ausgleichend - weitere Faktoren, wie etwa Einschlusszeiten, haben.

cc) Indem [X.] und [X.] der beabsichtigten Amtshaftungsklage ungeachtet dieser ungeklärten Rechtsfragen die Erfolgsaussicht von vornherein abgesprochen und Prozesskostenhilfe verweigert haben, haben sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf Rechtsschutzgleichheit verletzt. Die für die Beurteilung des Begehrens des Beschwerdeführers maßgeblichen Rechtsfragen durften nicht in das Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert werden, sondern bedürfen einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren, die es dem Beschwerdeführer auch ermöglicht, diese gegebenenfalls einer höchstrichterlichen Klärung zuzuführen.

2. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen im tenorierten Umfang auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Soweit das [X.] ergänzend auf einen Anspruchsausschluss wegen Rechtsmittelsäumnis gemäß § 839 Abs. 3 BGB abstellt, trägt diese Erwägung die angegriffene Entscheidung nicht. Der entscheidenden Frage, ob der Beschwerdeführer nach der tatsächlichen Rechtspraxis im maßgeblichen Zeitpunkt effektiven Rechtsschutz hätte erlangen können und damit das Ergreifen der Rechtsschutzmöglichkeiten möglich, zumutbar und erfolgversprechend gewesen wäre, ist das [X.] nicht nachgegangen (vgl. [X.], Urteil vom 11. März 2010 - [X.]/09 -, NJW-RR 2010, S. 1465 <1465 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 409/09 -, NJW-RR 2011, S. 1043 <1046 f.>).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des [X.] beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

1 BvR 1644/15

28.07.2016

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG München, 10. Juni 2015, Az: 1 W 925/15, Beschluss

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 28.07.2016, Az. 1 BvR 1644/15 (REWIS RS 2016, 7431)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 7431

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