Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 25.02.2019, Az. 1 BvR 842/17

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2019, 9973

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

STREIK ARBEITSRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) GEWERKSCHAFTEN LEIHARBEIT LEIHARBEITNEHMER

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Gegenstand

Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Außervollzugsetzung des "Streikbrecherverbots" in Art 1 Nr 7 Buchst b AÜGuaÄndG 2017 sowie des § 11 Abs 5 AÜG nF - Folgenabwägung


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

I.

1

Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen § 11 Abs. 5 des [X.] ([X.] - [X.]) in der durch Art. 1 Nr. 7b des Gesetzes zur Änderung des [X.]es und anderer Gesetze vom 21. Februar 2017 ([X.]uaÄndG 2017) geänderten Fassung ([X.] 258).

2

§ 11 Abs. 5 Satz 1 [X.] enthält in seiner neuen Fassung das Verbot, Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer einzusetzen, wenn der Entleiherbetrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Eine Ausnahme gilt nach § 11 Abs. 5 Satz 2 [X.], wenn Leiharbeitskräfte keine Tätigkeiten übernehmen, die bisher von Streikenden übernommen wurden. Schon vor der Reform des [X.]es stand [X.] im Fall eines Arbeitskampfes im Betrieb ein [X.]ungsverweigerungsrecht zu (§ 11 Abs. 5 Satz 1 [X.] a.F., heute § 11 Abs. 5 Satz 3 [X.]). Nach der angegriffenen Regelung ist ihr Einsatz als Streikbrecher nun zusätzlich bußgeldbewehrt verboten (§ 16 Abs. 1 Nr. 8a, Abs. 2 [X.]). Leiharbeitskräfte dürfen also nicht auf mittelbar oder unmittelbar streikbetroffenen Arbeitsplätzen tätig werden, während der Betrieb unmittelbar von einem Arbeitskampf betroffen ist. Der Gesetzgeber will mit der Regelung die Position von [X.] stärken und eine missbräuchliche Einwirkung auf Arbeitskämpfe unterbinden (BTDrucks 18/9232, [X.] 27 f.).

II.

3

1. Die Beschwerdeführerin ist Arbeitgeberin in der Unterhaltungsindustrie. Sie betreibt bundesweit Filmtheater. [X.] schlossen die Beschwerdeführerin und weitere Unternehmen der Unternehmensgruppe erstmals Mantel- und Entgeltfirmentarifverträge ab, die von der [X.] zum Ende des Jahres 2016 gekündigt wurden. Der im Januar 2017 geschlossene Entgelttarifvertrag wurde seitens der [X.] fristgemäß zum 28. Februar 2019 gekündigt. Während der Arbeitskämpfe in den Jahren 2012 und 2017 setzte die Beschwerdeführerin auf den streikbetroffenen Arbeitsplätzen Leiharbeitskräfte ein.

4

2. Die Beschwerdeführerin hat Verfassungsbeschwerde erhoben und diese sodann mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung verbunden. Sie rügt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Sie sei von der angegriffenen Norm unmittelbar und gegenwärtig betroffen, da Arbeitskämpfe zu erwarten seien, für die sie disponieren müsse. Ihr sei kein anderer Rechtsweg eröffnet, um sich zumutbar gegen das Verbot in § 11 Abs. 5 [X.] zur Wehr zu setzen. Die Regelung verletze sie in ihren Grundrechten. Das Verbot, auf Arbeitskampfmaßnahmen mit dem Einsatz von [X.] zu reagieren, schränke sie in der Wahl der Kampfmittel und damit in der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Betätigungsfreiheit als Koalition in unverhältnismäßiger Weise ein. Es handele sich um einen Eingriff in die Unternehmerfreiheit, der nicht durch das Allgemeinwohl gerechtfertigt sei.

5

3. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, den Vollzug der Regelungen in Art. 1 Nr. 7b [X.]uaÄndG 2017 sowie § 11 Abs. 5 [X.] bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes auszusetzen. Dies sei zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten. Da der geltende Tarifvertrag gekündigt sei, müsse sie zeitnah mit bundesweiten Arbeitskampfmaßnahmen der [X.] rechnen. Wenn sie aufgrund des Verbotes in § 11 Abs. 5 [X.] keine Leiharbeitskräfte einsetzen könne, bestünde die Gefahr einer irreversiblen Grundrechtsverletzung. Sie sei dann gezwungen, sich aufgrund der gestörten [X.] dem Druck des Streiks zu beugen. Aussperrung oder Stilllegung könnten dessen wirtschaftliche Folgen nicht abmildern, die wiederum unvorhersehbar und daher nicht zu beziffern seien. Jedenfalls sei mit einer Gefährdung ihrer Existenz zu rechnen. Auch die betroffenen Leiharbeitskräfte würden durch die Regelung in ihren Grundrechten verletzt. Werde die Norm vorübergehend ausgesetzt, ergäben sich keine erheblichen Nachteile; die Verwirklichung der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele würde nur für einen kurzen Zeitraum in die Zukunft verschoben.

III.

6

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist abzulehnen, da die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] nicht vorliegen. Der Eilantrag ist jedenfalls unbegründet.

7

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das [X.] dann im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.] 64, 67 <69>; 134, 135 <137 Rn. 3>; 140, 211 <218 f. Rn. 12>; stRspr).

8

Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab. Soll der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden, erhöht sich diese Hürde noch, denn das [X.] darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt. Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes darüber hinaus besonderes Gewicht haben. Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile irreversibel oder nur sehr erschwert revidierbar sind, um das [X.] durchschlagen zu lassen (vgl. [X.] 140, 211 <219 f. Rn. 13> m.w.N.).

9

2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie das sogenannte "Streikbrecherverbot" in § 11 Abs. 5 Satz 1 und 2 [X.] betrifft, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Eine Verletzung der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit sowie der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten beruflichen und wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit der Beschwerdeführerin ist jedenfalls nicht von vornherein offensichtlich ausgeschlossen. Die Frage, ob sich sogenannte "Außenseiter-Arbeitgeber" in Tarifauseinandersetzungen um [X.] auf die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Freiheit in der Wahl der [X.] berufen können (hierzu [X.], Urteil vom 14. August 2018 - 1 [X.] -, juris, Rn. 34), ist verfassungsrechtlich nicht geklärt. Auch die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen ist umstritten (kritisch [X.]/[X.]/ [X.], [X.] 2017, [X.] 726 <729>; [X.]/[X.], [X.], [X.] 803 <804 f.>; Boemke, [X.] 2017, [X.] ff.>; [X.], RdA 2016, [X.] 18 <24>; [X.], in: [X.] im Arbeitsrecht 2017, [X.] 143 <158 f.>; [X.], [X.], [X.] 1 <11>; [X.], in: [X.], [X.]., § 11 [X.], Rn. 41; [X.], in: [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2018, § 11 [X.] Rn. 172 ff.; [X.], in: [X.], 19. Aufl. 2019, § 11 [X.] Rn. 21; anders [X.], in: [X.] im Arbeitsrecht 2017, [X.] 121 <126 f.>; Deinert, RdA 2017, [X.] 65 <78>; [X.]/ [X.], [X.], [X.] 31 <33 ff.>).

3. Die dann zur Entscheidung über die einstweilige Anordnung vorzunehmende Folgenabwägung ergibt, dass eine vorläufige Aussetzung des Vollzugs der angegriffenen Vorschrift nicht geboten ist. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, dem Interesse des Gesetzgebers an der Fortgeltung der Norm eindeutig überwiegen.

a) Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung bliebe § 11 Abs. 5 [X.] bis zur abschließenden Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde anwendbar. Der Beschwerdeführerin wäre es dann, falls ihre Verfassungsbeschwerde Erfolg hat, zu Unrecht zeitweilig verwehrt, während eines Streiks Leiharbeitskräfte auf unmittelbar streikbetroffenen Arbeitsplätzen einzusetzen.

b) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung und erwiese sich das angegriffene Gesetz später als verfassungsgemäß, so würde damit im Fall von Arbeitskämpfen bei der Beschwerdeführerin und darüber hinaus für diesen Zeitraum verhindert, dass der vom Gesetzgeber bezweckte Schutz von [X.] und die angestrebte [X.] erreicht würden.

c) Es sind keine Nachteile der Beschwerdeführerin von so großem Gewicht erkennbar, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung dennoch rechtfertigen könnten. Es ist nicht dargelegt, dass es nach Beendigung des aktuellen Tarifvertrags mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Arbeitskampf mit Arbeitsniederlegungen kommt. Die allgemeine Ankündigung der [X.], nach Ende der Friedenspflicht zum Arbeitskampf aufrufen zu wollen, genügt insofern nicht. Zudem ist nicht ersichtlich, warum es der Beschwerdeführerin nicht möglich sein sollte, im Falle einer Arbeitsniederlegung den Betrieb ohne den Einsatz von [X.] fortzuführen. Sie hat die Möglichkeit, eigene arbeitswillige Arbeitskräfte oder zu diesem Zweck befristet eingestellte Kräfte oder aber Drittpersonal im Rahmen eines Werkvertrags mit anderen Unternehmen ("Outsourcing") einzusetzen. Selbst wenn dies nicht gelänge, ist nicht erkennbar, dass derart schwere oder gar existenzgefährdende wirtschaftliche Nachteile eintreten würden, die eine Aussetzung eines Gesetzes rechtfertigten. Die Beschwerdeführerin bezieht sich selbst auf unvorhersehbare und nicht zu beziffernde Folgen. Soweit sie vorträgt, die wirtschaftlichen Folgen eines Streiks seien nicht mit dem Mittel der Abwehraussperrung oder der suspendierenden Betriebsstilllegung abzumildern, fehlen konkrete Ausführungen zum Ausmaß und zur Irreversibilität der Nachteile des Einsatzes dieser Instrumente im Arbeitskampf.

Auch die von der Beschwerdeführerin angeführten Nachteile für die betroffenen Leiharbeitskräfte können eine einstweilige Anordnung nicht tragen. Im Fall der Fortgeltung von § 11 Abs. 5 [X.] wären Einsätze als "Streikbrecher" verboten. Dies wirkt sich jedoch nicht unmittelbar auf das [X.] zwischen Verleiher und [X.] aus. Es ist auch nicht vorgetragen, dass die angegriffene Regelung Arbeitsplätze in der [X.] ernsthaft gefährden würde.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 842/17

25.02.2019

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

nachgehend BVerfG, 19. Juni 2020, Az: 1 BvR 842/17, Nichtannahmebeschluss

Art 9 Abs 3 GG, Art 12 Abs 1 GG, Art 14 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 11 Abs 5 S 1 AÜG vom 21.02.2017, § 16 Abs 1 Nr 8a AÜG vom 21.02.2017, § 16 Abs 2 AÜG vom 21.02.2017, Art 1 Nr 7 Buchst b AÜGuaÄndG 2017

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 25.02.2019, Az. 1 BvR 842/17 (REWIS RS 2019, 9973)

Papier­fundstellen: NJW 2019, 1061 REWIS RS 2019, 9973


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 842/17

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 842/17, 19.06.2020.

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 842/17, 25.02.2019.


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