Bundessozialgericht, Urteil vom 24.03.2015, Az. B 8 SO 5/14 R

8. Senat | REWIS RS 2015, 13580

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - Anspruch auf Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 für ein im Haushalt der Eltern lebendes erwachsenes behindertes Kind - Vermutung der gemeinsamen Haushaltsführung - verfassungskonforme Auslegung


Leitsatz

Zur Vermutung der gemeinsamen Haushaltsführung beim Zusammenleben von Eltern und einem erwachsenen behinderten Kind (Fortführung von BSG vom 23.7.2014 - B 8 SO 31/12 R = BSGE 116, 223 = SozR 4-3500 § 28 Nr 10).

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 16. Januar 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

[X.] sind höhere Leistungen der [X.]rundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ([X.]rundsicherungsleistungen) nach dem [X.] - ([X.]) für die [X.] vom 1.1.2011 bis 31.3.2012.

2

Die 1980 geborene Klägerin ([X.]) ist geistig behindert ([X.]rad der [X.]ehinderung von 100; Merkzeichen "[X.]", "[X.]", "[X.]" und "[X.]"). [X.]ie lebte im streitbefangenen [X.]raum mit ihrer Mutter, die auch ihre [X.]etreuerin ist, und ihrem volljährigen, erwerbsfähigen [X.]albbruder in einer Wohnung in M. Die Mieterin der Wohnung ist allein die Mutter; für die Wohnung fielen 360 Euro Kaltmiete und 73 Euro Nebenkostenvorauszahlung an; die Wohnung verfügt über eine [X.]tromheizung mit dezentraler Warmwasserversorgung. Die [X.]tromkostenvorauszahlungen der Mutter beliefen sich zunächst auf 180 Euro und ab [X.] monatlich. Die Klägerin arbeitete in einer Werkstatt für behinderte Menschen ([X.]), in der ein kostenloses Mittagessen angeboten wurde, und erzielte Einkommen aus der Werkstatttätigkeit; ihr Vater zahlte monatlichen Unterhalt. Das Kindergeld wurde nicht an sie weitergeleitet. Ihr [X.]parbuch wies durchgehend Vermögen von unter 900 Euro aus.

3

Die [X.]eklagte bewilligte der Klägerin für die [X.] vom 1.4.2010 bis [X.] [X.]rundsicherungsleistungen in [X.]öhe von insgesamt 348,76 Euro, ua unter [X.]erücksichtigung eines monatlichen Regelsatzes für einen [X.]aushaltsvorstand (100 %) abzüglich anzurechnenden Einkommens ([X.]escheid vom [X.]). Für die [X.] vom 1.4.2011 bis 31.3.2012 bewilligte sie zunächst Leistungen in unveränderter [X.]öhe ([X.]escheid vom [X.]), hob diesen [X.]escheid dann jedoch mit Wirkung ab 1.1.2011 auf und setzte wegen des Inkrafttretens des [X.]esetzes zur Ermittlung von [X.] und zur Änderung des [X.] und Zwölften [X.]uches [X.]ozialgesetzbuch (R[X.]E[X.]/[X.][X.][X.] II/[X.]-Änd[X.] vom 24.3.2011 - [X.][X.][X.]l I 453) für die [X.] vom 1.1. bis [X.] die Leistungen in [X.]öhe von 358,44 Euro und ab 1.4.2011 in [X.]öhe von nur noch 276,35 Euro unter [X.]erücksichtigung eines Regelsatzes nach Regelbedarfsstufe 3 (80 %) fest ([X.]escheid vom 25.3.2011). Während des Widerspruchsverfahrens änderte sie diesen [X.]escheid wiederum und bewilligte monatliche Leistungen ab 1.5.2011 in [X.]öhe von nur noch 262,68 Euro ([X.]escheid vom [X.]). Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid unter [X.]eteiligung sozial erfahrener Dritter vom [X.]).

4

Die Klage blieb auch erstinstanzlich ohne Erfolg (Urteil des [X.]ozialgerichts [X.]elsenkirchen vom 27.10.2011). Während des [X.]erufungsverfahrens hob die [X.]eklagte die [X.]escheide vom [X.], [X.], 25.3.2011 sowie vom [X.] auf und setzte die Leistungshöhe ua für die streitbefangene [X.] neu fest ([X.]escheid vom 11.6.2012). Vor dem [X.] (L[X.][X.]) [X.] erklärten die [X.]eteiligten durch [X.] ua unter [X.], den streitgegenständlichen [X.]raum auf die [X.] vom 1.1.2011 bis 31.3.2012 sowie inhaltlich auf den Regelsatz und die [X.]öhe des monatlich anzurechnenden Einkommens zu beschränken. Die Klage blieb auch beim L[X.][X.] ohne Erfolg (Urteil vom 16.1.2014). Zur [X.]egründung seiner Entscheidung hat das L[X.][X.] ausgeführt, mit dem Inkrafttreten des R[X.]E[X.]/[X.][X.][X.] II/[X.]-Änd[X.] sei eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten, die die [X.]eklagte berechtigt habe, die Leistungsbewilligung für die [X.] ab 1.4.2011 teilweise aufzuheben. [X.]ie habe der Klägerin ab 1.4.2011 zu Recht nur noch Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 3 (80 %) bewilligt. Denn die Mutter der Klägerin habe ausgeführt, die Klägerin sei seit ihrer [X.]eburt aus gesundheitlichen [X.]ründen nicht in der Lage gewesen, ohne entsprechende [X.]ilfe aus eigener Initiative einen [X.]ausstand zu begründen bzw einen [X.]aushalt zu führen oder sonst zur [X.]aushaltsführung beizutragen. Die Mutter trage zudem alle mit der [X.]aushaltsführung verbundenen Kosten. Die [X.]öhe der Regelbedarfssätze sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dass Leistungsberechtigte nach dem [X.]ozialgesetzbuch Zweites [X.]uch - [X.]rundsicherung für Arbeitsuchende - ([X.][X.][X.] II) ab Vollendung des 25. Lebensjahres Anspruch auf den vollen Regelsatz hätten, beruhe auf [X.]ystemunterschieden zwischen dem [X.][X.][X.] II und dem [X.].

5

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin, die Regelbedarfsstufe 3 sei verfassungswidrig. [X.]ie verstoße insbesondere gegen das [X.]rundrecht auf [X.]ewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, weil der Regelbedarfsbemessung insoweit keine spezielle [X.]onderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 zugrunde liege. Zudem sei der allgemeine [X.]leichheitssatz (Art 3 Abs 1 [X.]rundgesetz <[X.][X.]>) dadurch verletzt, dass über-25-jährige Leistungsbezieher nach dem [X.][X.][X.] II den vollen Regelsatz erhielten, nicht aber über-25-jährige Leistungsbezieher von [X.]rundsicherungsleistungen in einer im Übrigen vergleichbaren Lebenssituation. Darin liege zugleich ein Verstoß gegen das [X.]enachteiligungsverbot behinderter Menschen.

6

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des L[X.][X.] und des [X.][X.] aufzuheben sowie die [X.]escheide vom 25.3.2011 und [X.] in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] abzuändern und die [X.]eklagte zu verurteilen, ihr für die [X.] vom 1.1.2011 bis 31.3.2012 höhere Leistungen der [X.]rundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu zahlen.

7

Die [X.]eklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

[X.]ie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <[X.]>).

Der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nach der Zurückverweisung vom [X.] noch genau zu bestimmen. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung des vor dem [X.] getroffenen Vergleichs. Die Beschränkung des Streitgegenstands allein auf den Regelsatz (zur Zulässigkeit insoweit vgl [X.], 54 ff Rd[X.] 12 = [X.]-3500 § 28 [X.] ist jedenfalls nach Aktenlage nicht möglich (dazu gleich), sodass nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz alle Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu überprüfen sind. Schon deshalb ist die Wirksamkeit des Vergleichs insgesamt fraglich (§ 139 Bürgerliches Gesetzbuch ). Soweit sich in [X.] [X.] des Vergleichs Ausführungen zum anzurechnenden Einkommen finden, könnte diese Regelung zwar noch als zulässig zu bewerten sein, obwohl sie (jedenfalls auch) Elemente einer (unzulässigen) Vereinbarung über die Modalitäten der Einkommensberechnung enthält; richtig wäre es gewesen, einen genauen Betrag über die Höhe des jeweils anzurechnenden Einkommens als Berechnungselement festzulegen. In zeitlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand hingegen unabhängig vom Vergleich schon wegen des gestellten Antrags wirksam auf die [X.] vom 1.1.2011 bis 31.3.2012 begrenzt.

Die genaue Bestimmung des Streitgegenstands durch den Senat selbst ist jedoch untunlich, weil [X.] nur der Bescheid vom 11.6.2012 ist, mit dem die - nach den Ausführungen zum Landesrecht durch das [X.] - örtlich und sachlich zuständige Beklagte ua die Bescheide vom 25.3. und 26.4.2011 aufgehoben und für die [X.] vom 1.1.2011 bis 31.3.2012 die Leistungen neu festgesetzt hat (§ 153 Abs 1, § 96 [X.]); die früheren Bescheide in der Gestalt des Widerspruchsbescheids haben sich dadurch erledigt (§ 39 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - ). Dieser Bescheid nimmt in seinem Verfügungssatz jedoch eine Aufteilung der der Klägerin gewährten Leistungen in Kosten der Unterkunft einerseits bzw [X.] sowie [X.] andererseits nicht vor, sodass insoweit überhaupt keine eigenständige Verfügungen vorliegen. Da das [X.] diesen Bescheid nicht in das Verfahren einbezogen hat und eine Verfahrensrüge nicht erhoben ist, ist der Senat gehindert, über ihn zu befinden (vgl nur [X.] in [X.]/ [X.]/[X.], [X.], 11. Aufl 2014, § 96 [X.] Rd[X.] 12a mwN).

Gegen diesen Bescheid wendet sich die Klägerin, obwohl sich die Rechtmäßigkeit der Entscheidung an § 48 Abs 1 SGB X misst, schon deshalb zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage 54 Abs 1 und 4 [X.], § 56 [X.]) mit dem Ziel höherer Leistungen dem Grunde nach, weil sie nicht nur gleichhohe Leistungen fortgezahlt haben will, sondern zugleich geltend macht, Anspruch auf den ab 1.1.2011 höheren Regelsatz der Regelbedarfsstufe 1 und damit auch insgesamt einen höheren Anspruch zu haben. Dieses Ziel kann sie nicht allein mit der Anfechtung der Bescheide erreichen.

Ob zum 1.1.2011 oder später in den rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist, wie dies § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X voraussetzt, kann vom Senat nicht abschließend beurteilt werden. Gemäß § 19 Abs 2 [X.] iVm § 41 Abs 1 und 3 [X.] (jeweils in der Normfassung des [X.]/[X.]/[X.]-ÄndG) erhalten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, auf Antrag Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, wenn sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 [X.] bestreiten können. Die Anspruchsvoraussetzungen für solche Leistungen dem Grunde nach erfüllte die Klägerin, weil sie zwar nach den Feststellungen des [X.] neben dem Einkommen aus ihrer Tätigkeit in einer [X.] noch Unterhalt von ihrem Vater erhielt, das Einkommen aber nicht zur Deckung ihrer Bedarfe ausreichte; Vermögen war lediglich unterhalb der Vermögensfreigrenze (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 [X.] 1 der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs 2 [X.] 9 [X.]) vorhanden.

Die Höhe der Ansprüche auf Grundsicherungsleistungen für die [X.] ab dem 1.1.2011 richtet sich nach § 42 [X.] 1 [X.] in der zu diesem [X.]punkt in [X.] getretenen Fassung des [X.]/[X.]/[X.]-ÄndG, wobei sich eine Verminderung des Regelbedarfs aus Anlass der Neuregelung wegen der Übergangsregelung in § 137 [X.] vor dem 1.4.2011 nicht zu Lasten der Klägerin auswirken kann. Danach umfassen die Grundsicherungsleistungen neben den Kosten der Unterkunft und Mehrbedarfen den Regelbedarf; ergänzend ist § 27a Abs 3 und [X.] und 2 [X.] (in der Normfassung dieses Gesetzes) anzuwenden. Zur Deckung des Regelbedarfs sind monatliche Regelsätze zu gewähren, die sich nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 [X.] ergeben (§ 27a Abs 3 Satz 1 [X.]). Gemäß dieser Anlage erhält seit dem 1.1.2011 Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von 364 Euro eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die als alleinstehende oder alleinerziehende Person einen eigenen Haushalt führt; dies gilt auch dann, wenn in diesem Haushalt eine oder mehrere weitere erwachsene Personen leben, die der Regelbedarfsstufe 3 zuzuordnen sind. Leistungen der Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von 328 Euro (mithin 90 vH der Regelbedarfsstufe 1) werden demgegenüber gewährt für jeweils zwei erwachsene Leistungsberechtigte, die als Ehegatten, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen. Die Regelbedarfsstufe 3, die Leistungen in Höhe von 291 Euro (80 vH der Regelbedarfsstufe 1) vorsieht, gilt für eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die weder einen eigenen Haushalt führt, noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führt. Für Kinder und Jugendliche sind - abhängig von ihrem Alter - die weiteren Regelbedarfsstufen 4 bis 6 gebildet.

Die danach für die Zuordnung zu einer Regelbedarfsstufe maßgeblichen unbestimmten Rechtsbegriffe "eigener Haushalt" und "einen Haushalt führen" sind der Auslegung bedürftig und fähig; denn es fehlen gesetzlich ausformulierte Kriterien dafür, wann jemand in einem [X.] einen eigenen Haushalt hat und diesen führt. Maßgeblich können auch nicht allein in sich ohnedies nicht konsistente Überlegungen des Gesetzgebers sein, die nur in die [X.] bzw in die Gesetzesbegründung Eingang gefunden haben, weil diese zu system- und verfassungswidrigen Ergebnissen führen würden, wie der Senat ausführlich in seinen Entscheidungen vom 23.7.2014 ([X.] [X.] 31/12 R, [X.] [X.] 12/13 R und [X.] [X.] 14/13 R) im Einzelnen dargelegt hat. Dabei hat er die Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung (vgl dazu zuletzt [X.], Beschluss vom 16.12.2014 - 1 BvR 2142/11) nicht überschritten; selbst die Gesetzesbegründung für sich genommen führt zu keiner klaren anderen Auslegung des § 27a Abs 3 [X.] iVm der Anlage zu § 28 [X.], wie der Senat unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang sowie Sinn und Zweck der maßgeblichen Regelungen ausgeführt hat. Im Grundsatz ist deshalb davon auszugehen, dass sich der Regelbedarf einer erwachsenen, leistungsberechtigten Person nach der Regelbedarfsstufe 1 auch dann richtet, wenn sie mit einer anderen Person, die nicht ihr Partner im Sinne der Regelbedarfsstufe 2 ist, in einer [X.] zusammenlebt; der Gesetzgeber hat typisierend gerade nicht darauf abgestellt, dass es sich bei dieser Art des Zusammenlebens für eine Person um keinen eigenen Haushalt handelt, sondern grundsätzlich um einen gemeinsamen Haushalt, der für jeden Einzelnen ein eigener Haushalt ist. Für das Vorliegen eines eigenen Haushalts ist dabei nicht von Bedeutung, ob oder in welchem Umfang sich eine Person an den Kosten des Haushalts beteiligt ([X.]). Verdeutlicht wird dies durch § 39 Satz 1 1. Halbsatz [X.] nF (ab 1.1.2011), wonach vermutet wird, dass Personen bei Zusammenleben in einer Wohnung gemeinsam einen Haushalt führen, der auf diese Weise für jede Person zu einem "eigenen" wird. Diese gesetzliche Vermutung ist, wie der Senat betont hat, nicht bereits widerlegt, wenn eine Person gegenüber einer anderen in geringerem Umfang zur Haushaltsführung beiträgt; die Regelbedarfsstufe 3 kommt vielmehr erst dann zur Anwendung, wenn keinerlei eigenständige oder eine nur gänzlich unwesentliche Beteiligung an der Haushaltsführung vorliegt. Entgegen der Ansicht des [X.] ist darunter allerdings nicht eine eigeninitiative Beteiligung gemeint (hierzu im Folgenden).

Das Merkmal der "Eigenständigkeit" der Haushaltsführung kann nämlich nicht losgelöst von den Fähigkeiten eines behinderten Menschen beurteilt werden. Nicht erforderlich ist demnach zur Bejahung einer eigenständigen Haushaltsführung eine solche ohne jegliche Anleitung oder aus eigener Initiative heraus; es genügt vielmehr unter Berücksichtigung des [X.] (Art 3 Abs 2 GG iVm der UN-Behindertenrechtskonvention iVm dem Gesetz vom 21.12.2008 - [X.] 1419 -, in der [X.] in [X.] seit [X.] - [X.] 812), dass der behinderte Mensch nach Aufforderung und ggf unter Anleitung und/oder Überwachung der Eltern oder eines [X.] im Rahmen des ihm behinderungsbedingt Möglichen Tätigkeiten im Haushalt verrichtet oder auf die Gestaltung der Haushaltsführung Einfluss nimmt. Insoweit ist entsprechend dem Leitbild des § 1626 Abs 2 Satz 1 BGB typisierend davon auszugehen, dass die Eltern die Persönlichkeitsentwicklung auch ihres erwachsenen behinderten Kindes durch Anleitung und Hilfestellung selbst oder unter Mithilfe Dritter fördern, den behinderten Menschen also auch tatsächlich in die Lage versetzen, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten an der Haushaltsführung zu beteiligen. Auf die Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern, dies zu tun, kann es vor dem Hintergrund des bezeichneten [X.] ebenso wenig ankommen wie darauf, ob der behinderte Mensch sich tatsächlich im Rahmen seiner Fähigkeiten beteiligt. Dies ist ebenso wie eine Anleitung durch die Eltern typisierend zu unterstellen. Die nach § 39 [X.] widerlegbare Vermutung der eigenen Haushaltsführung kann damit allein an den Fähigkeiten des behinderten Menschen ansetzen.

In die Prüfung, ob die gesetzliche Vermutung der in diesem Sinne eigenständigen Haushaltsführung widerlegt ist, hat das Gericht - im vorliegenden Fall - allerdings erst einzutreten, wenn qualifizierter Vortrag des beklagten Sozialhilfeträgers zu den Auswirkungen der Behinderung auf die Fähigkeit zur Beteiligung an der Haushaltsführung Anlass gibt; eigene Zweifel des Gerichts oder bloße Vermutungen genügen für weitere Ermittlungen zur Widerlegung der gesetzlichen Vermutung nicht. Ist der behinderte Mensch insbesondere in der Lage, in einer [X.] tätig zu sein, dürfte die Vermutung angesichts des vorausgesetzten Entwicklungspotentials der behinderten Person (vgl § 39 [X.] behinderter Menschen - : "Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen werden erbracht, um die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit der behinderten Menschen zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen, die Persönlichkeit dieser Menschen weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu ermöglichen oder zu sichern") wie auch der Voraussetzung für ihre Aufnahme in den Arbeitsbereich einer Werkstatt, die sog [X.] (vgl § 136 Abs 2 Satz 1 SGB IX: "Die Werkstatt steht allen behinderten Menschen iS des Abs 1 … offen, sofern erwartet werden kann, dass sie spätestens nach Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich wenigstens ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen werden") jedoch kaum zu widerlegen sein. Das [X.] hätte deshalb gar nicht in Ermittlungen (Befragung der Mutter der Klägerin) eintreten dürfen.

Dies ist allerdings revisionsrechtlich ohne Bedeutung. Denn es fehlen die tatsächlichen Feststellungen des [X.], die für die Beurteilung der Eigenständigkeit im Sinne der Senatsrechtsprechung maßgeblich sind. Die Ausführungen des [X.] basieren vielmehr auf der vom Senat nicht geteilten Ansicht, es müsse eine eigeninitiative Beteiligung im Sinne einer autonomen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des behinderten Menschen vorliegen und Eigenständigkeit könne nur bejaht werden, wenn der behinderte Mensch ohne Anleitung und ohne extrinsische Motivation (qualitativ und quantitativ) in etwa gleichwertig mit dem nichtbehinderten Menschen Tätigkeiten im Haushalt verrichtet. Wenn das [X.] zudem ausführt, die Kosten der Haushaltsführung trage allein die Mutter der Klägerin, ist dies rechtlich ebenso ohne Bedeutung wie die Frage, ob ein behinderter Mensch in der Lage ist, eine Wohnung anzumieten - das [X.] verneint dies und nimmt dies als weiteren Beleg für eine fehlende Eigenständigkeit in dem von ihm verstandenen Sinn. Zu den eigentlichen Voraussetzungen hat das [X.] - ausgehend von seiner Rechtsauffassung - keine Feststellungen getroffen.

Für das Verfahren beim [X.], in dem ohne neue Begrenzung des Streitgegenstands über die gesamten Grundsicherungsleistungen zu befinden sein wird, soll nur ergänzend darauf hingewiesen werden, dass die der Regelbedarfsstufe 3 zugrunde gelegte Ersparnis von 20 % in [X.]en, die keine [X.] im Sinne der Regelbedarfsstufe 2 sind, statistisch nicht belegt sind (vgl BT-Drucks 17/3404, 130, und Rundschreiben 2015/3 - Regelbedarfsstufe 3 des [X.] vom 16.2.2015; zu den maßgeblichen Kriterien vgl [X.]E 125, 175 ff = [X.]-4200 § 20 [X.] 12). Auch das [X.] hat in seinem Beschluss vom 23.7.2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - Rd[X.] 100 - [X.] 1581) zur Bestimmung des Regelbedarfs zusammenlebender und gemeinsam wirtschaftender Erwachsener (90 % des im [X.] für eine alleinstehende Person geltenden Regelbedarfs) Aussagen nur für [X.] im Sinne der Regelbedarfsstufe 2, nicht aber für die hier maßgebliche Regelbedarfsstufe 3 getroffen; auf das im [X.] wegen der Besonderheit der Bedarfsgemeinschaft abweichende normative Begriffsverständnis hat der Senat im Übrigen bereits hingewiesen (Urteil vom 23.7.2014 - [X.] [X.] 14/13 R - Rd[X.] 18). Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des gesetzgeberischen Vorgehens insoweit lässt der Senat gegenwärtig offen.

Das [X.] wird ggf über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 5/14 R

24.03.2015

Bundessozialgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Gelsenkirchen, 27. Oktober 2011, Az: S 8 SO 162/11, Urteil

§ 41 Abs 1 S 1 SGB 12, § 42 Nr 1 SGB 12 vom 24.03.2011, § 27a Abs 3 S 1 SGB 12, Anlage SGB 12, § 39 S 1 Halbs 1 SGB 12, § 39 SGB 9, § 136 Abs 1 S 2 SGB 9, § 8 Abs 1 Nr 1 RBEG, § 8 Abs 1 Nr 2 RBEG, § 8 Abs 1 Nr 3 RBEG, § 1626 Abs 2 S 1 BGB, Art 3 Abs 3 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 24.03.2015, Az. B 8 SO 5/14 R (REWIS RS 2015, 13580)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 13580

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1 BvR 2142/11

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