Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.11.2023, Az. XIII ZB 73/20

13. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 8508

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Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 9. Juli 2020 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] vom 2. September 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste am 8. Juli 2020 mit dem Zug von [X.] nach [X.]. Kurz vor der Einfahrt in den [X.] wurde er einer grenzpolizeilichen Kontrolle unterzogen. Dabei konnte er keine Einreisedokumente vorweisen. Die beteiligte Behörde erteilte ihm daraufhin eine Einreiseverweigerung nach [X.]. 14 [X.] Grenzkodex iVm § 15 [X.].

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 9. Juli 2020 Haft zur Sicherung der Zurückweisung nach [X.] bis zum 29. September 2020 angeordnet. Das hiergegen eingelegte Rechtsmittel des Betroffenen hat das Beschwerdegericht, nach Hinweis, dass zwar keine Haftanordnung zur Sicherung der Zurückweisung jedoch zur Sicherung der Abschiebung in Betracht komme, und dass die Haftgründe des § 62 Abs. 3a Nr. 1 und 6 [X.] beständen, mit dem angefochtenen Beschluss vom 2. September 2020 zurückgewiesen.

3

Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene noch die Feststellung, durch die Beschlüsse in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

4

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, eine zur Sicherung der Zurückweisung nach § 15 Abs. 5 [X.] angeordnete Haft komme zwar nicht in Betracht, da der Betroffene bereits in das [X.] eingereist sei. Allerdings lägen die Voraussetzungen für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Haft aus anderem Grund vor, weil der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben sei. Fluchtgefahr sei hier widerleglich zu vermuten, da der Betroffene erklärt habe, sich der Abschiebung entziehen zu wollen. Umstände, die die Vermutung der Fluchtgefahr widerlegten, seien nicht ersichtlich.

6

2. Dies hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

7

a) Die materiell-rechtliche Grundlage für die beantragte Haft zur Sicherung der Zurückweisung nach § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.] ist die dem Betroffenen erteilte Einreiseverweigerung nach [X.]. 14 [X.] Grenzkodex iVm § 15 [X.]. Zwar bestand im Zeitpunkt und am Ort der Kontrolle des Betroffenen keine nach [X.]. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c [X.] Grenzkodex und § 13 [X.] in Verbindung mit § 61 Abs. 1 [X.] zugelassene Grenzübergangsstelle, sodass der Betroffene mit Überschreiten der Grenze nach [X.]. 22 [X.] Grenzkodex, § 13 Abs. 2 Satz 3 [X.] eingereist war. Nach der Aufgabenverteilung zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit haben die Haftgerichte jedoch von der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung auszugehen (vgl. ausführlich [X.], Beschlüsse vom 15. Dezember 2020 - [X.], juris, Rn. 9-11; vom 23. März 2021 - [X.]/19, juris, Rn. 8-10).

8

b) Wie das Beschwerdegericht zu Recht angenommen hat, reichten die in § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.] genannten Voraussetzungen für die Anordnung der Haft im vorliegenden Fall jedoch nicht aus. Beim Vollzug einer Zurückweisung in den Heimatstaat des Betroffenen ist § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.] im Hinblick auf [X.]. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) unionsrechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass Haft zur Sicherung einer Zurückweisung an einer Binnengrenze der [X.] nur angeordnet werden darf, wenn zusätzlich zu den in § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.] genannten Voraussetzungen einer der in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 3 [X.] genannten Haftgründe vorliegt ([X.], Beschluss vom 15. Dezember 2020 - [X.] 133/19, [X.] 2021, 212 Rn. 10).

9

c) Es kann dahinstehen, ob im Streitfall die vom Beschwerdegericht angenommene Fluchtgefahr und damit ein solcher Haftgrund objektiv gegeben war. Denn das Beschwerdegericht konnte seine Entscheidung jedenfalls nicht ohne erneute persönliche Anhörung des Betroffenen darauf stützen. Es hat die Haftanordnung erstmals auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] gestützt und damit auf einen Umstand, zu dem das Amtsgericht keine Feststellungen getroffen hatte.

(1) Zwar kann nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen - auch unter Berücksichtigung von [X.]. 6 Abs. 1 [X.] - in der Beschwerdeinstanz abgesehen werden, wenn diese in erster Instanz bereits erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse nicht zu erwarten sind ([X.], Beschluss vom 16. September 2010 - [X.], [X.] 2010, 441 Rn. 9). Voraussetzung dafür ist, dass der Sachverhalt sich für eine Entscheidung nach Aktenlage eignet, woran es unter anderem fehlt, wenn es um die Würdigung solcher Umstände geht, die nur auf Grund einer durch unmittelbare Anhörung des Betroffenen gewonnenen Überzeugung angemessen beurteilt werden können ([X.], NJW 1992 1813, 1814 - [X.] gegen [X.]; [X.], Beschlüsse vom 28. Januar 2010 - [X.], [X.] 2010, 163 Rn. 7; vom 16. September 2010 - [X.], [X.] 2010, 441 Rn. 9). Eine erneute Anhörung ist insbesondere dann durchzuführen, wenn die bisherige Haftanordnung auf einen neuen Haftgrund gestützt werden soll oder im Rahmen eines einheitlichen Haftgrundes ein neuer Sachverhalt eingeführt wird, zu dem sich der Betroffene noch nicht persönlich äußern konnte (vgl. [X.], Beschlüsse vom 7. Juli 2016 - [X.], [X.] 2017, 59 Rn. 6; vom 11. Januar 2018 - [X.], [X.] 2018, 184 Rn. 10; vom 23. Januar 2018 - [X.], [X.] 2018, 187 Rn. 13; vom 23. März 2021 - [X.]/19, juris Rn. 17).

(2) Nach Maßgabe dieser Grundsätze bedarf es daher der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen auch dann, wenn in einer [X.] einer der Haftgründe des § 62 Abs. 3 Nr. 1, 3 [X.] - wie hier die Fluchtgefahr - erstmals festgestellt und die bisherige Haftanordnung dann auf diesen erstmals festgestellten Haftgrund gestützt wird.

(3) Eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen ist nicht erfolgt. Dass das Beschwerdegericht dem Betroffenen im Vorfeld einen entsprechenden Hinweis erteilt hat, vermag die fehlende Anhörung nicht zu ersetzen. Der Tatrichter kann nämlich nur anhand des aus der Anhörung gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Betroffenen entscheiden, ob Fluchtgefahr besteht (vgl. [X.], Beschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152 Rn. 15 mwN).

3. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

  

Tolkmitt     

  

Picker

  

Holzinger     

  

Kochendörfer     

  

Meta

XIII ZB 73/20

07.11.2023

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Traunstein, 2. September 2020, Az: 4 T 1968/20

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.11.2023, Az. XIII ZB 73/20 (REWIS RS 2023, 8508)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 8508

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