Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 19.01.2022, Az. 1 BvR 1089/18

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2022, 1932

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Zum verfassungsrechtlichen Maßstab für die Härtefallbefreiung von der Rundfunkbeitragspflicht aus Gründen des geringen Einkommens - Verletzung des Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 GG) durch Versagung der Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht bei Finanzierung des Lebensunterhalts durch Studienkredit statt durch Sozialleistungen


Tenor

Der Widerspruchsbescheid des [X.] vom 15. Juli 2014 - 376 622 683 -, das Urteil des [X.] vom 17. November 2015 - 17 K 4481/14 - und der Beschluss des [X.] für das [X.] vom 1. März 2018 - 16 A 2902/15 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Das Urteil des [X.] und der Beschluss des [X.] werden aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Das [X.] hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung der Befreiung von der [X.] als Härtefall.

2

1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens und Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren (im Folgenden: Beschwerdeführerin) war bis zum streitgegenständlichen [X.]raum aus verschiedenen Gründen von der [X.] befreit; zunächst als Empfängerin von Ausbildungsförderung nach dem [X.] ([X.]) und anschließend als Empfängerin von [X.] nach dem [X.] ([X.]).

3

Nach Wiederaufnahme ihres Studiums zum Sommersemester 2013 und bis einschließlich März 2015 finanzierte die alleinerziehende Beschwerdeführerin ihren Lebensunterhalt und den ihres minderjährigen [X.] aus einem Studienkredit der Darlehenskasse der Studentenwerke im [X.] e.V. und durch Wohngeld. Für ihren minderjährigen [X.] erhielt sie Unterhaltsleistungen. Während dieser [X.] blieb die Beschwerdeführerin trotz Bemühens um eine Befreiung von der [X.] zur Beitragszahlung verpflichtet, obschon ihr Einkommen abzüglich Wohn- und Krankenversicherungskosten nach eigenen Angaben und ausweislich eines vorgelegten Wohngeldbescheids unterhalb der Höhe der sozialrechtlichen Regelsätze lag. Nach dem Auslaufen des Studienkredits wurden der Beschwerdeführerin antragsgemäß Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen gemäß § 7 Abs. 5 in Verbindung mit § 27 Abs. 4 Satz 1 [X.] in der bis zum 31. Juli 2016 gültigen Fassung (heute: § 27 Abs. 3 Sätze 1 und 2 [X.]) wegen des Vorliegens eines besonderen Härtefalls bewilligt. Seitdem war sie antragsgemäß wieder von der [X.] befreit.

4

Streitgegenständlich ist mithin die [X.] der Beschwerdeführerin für die Dauer von circa zwei Jahren, in denen sie ihren Lebensunterhalt aus dem Studienkredit bestritt, wobei der genaue Beginn der begehrten Befreiung im fachgerichtlichen Verfahren offengeblieben ist.

5

2. Die von der Beschwerdeführerin unter Verweis auf ihr Einkommen beantragte Befreiung von der [X.] als Härtefall lehnte der [X.] ([X.]) sowohl im Verwaltungs- als auch im Widerspruchsverfahren ab. Nach den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Unterlagen bestehe ihr Einkommen aus einem Studentendarlehen und Wohngeld. Eine Befreiung nach § 4 Abs. 1 [X.]staatsvertrag ([X.]) sei mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht möglich. Eine Befreiung der Beschwerdeführerin als Härtefall nach § 4 Abs. 6 [X.] scheide ebenfalls aus, weil kein atypischer Sachverhalt vorliege, den der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der [X.] versehentlich übergangen habe.

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3. Gegen die Versagung erhob die Beschwerdeführerin Klage zum Verwaltungsgericht unter gleichzeitiger Beantragung von Prozesskostenhilfe.

7

a) Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit angegriffenem Urteil vom 17. November 2015 ab, weil der Beschwerdeführerin ein Anspruch auf Befreiung von der [X.] aus den im Prozesskostenhilfeverfahren genannten Gründen nicht zustehe. Die Berufung ließ das Verwaltungsgericht nicht zu.

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b) In der in Bezug genommenen Prozesskostenhilfeentscheidung aus Mai 2015 hatte das Verwaltungsgericht die Ablehnung insbesondere damit begründet, dass der Beschwerdeführerin voraussichtlich kein Anspruch auf Befreiung wegen eines Härtefalls nach § 4 Abs. 6 Satz 1 [X.] zustehe. Die bloße Einkommensschwäche sei nicht geeignet, einen solchen Härtefall zu begründen. Auch dass die Beschwerdeführerin ein Studium betreibe, aber keine Ausbildungsförderung mehr erhalte, führe zu keinem anderen Ergebnis. Denn die Durchführung eines dem Grunde nach förderungsfähigen Studiums, für das aber keine Ausbildungsförderung gewährt werde, stehe zwar in der Regel, aber nicht ausnahmslos dem Bezug von Leistungen nach dem [X.] entgegen. Vielmehr [X.] die Bestimmungen des § 7 Abs. 5 in Verbindung mit § 27 Abs. 4 Satz 1 [X.] a.F. beziehungsweise des § 22 Abs. 1 Satz 2 [X.] vor, dass in besonderen Härtefällen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, gegebenenfalls als Darlehen, geleistet werden könnten. Für die begehrte Befreiung von der [X.] sei die Beschwerdeführerin gehalten, Leistungen im Sinne dieser Normen zu beantragen.

9

4. Den gegen das erstinstanzliche Urteil gestellten Antrag auf [X.] lehnte das Oberverwaltungsgericht mit angegriffenem Beschluss genauso ab wie die Beschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe durch das Verwaltungsgericht.

a) Der allein in Betracht kommende Zulassungsgrund des Bestehens von ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) greife jedenfalls in der Sache nicht ein. Das Verwaltungsgericht sei in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats davon ausgegangen, dass allein der Bezug eines niedrigen, gegebenenfalls unter den Regelsätzen nach dem [X.] oder dem [X.] liegenden Einkommens nicht den Begriff der besonderen Härte im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 1 [X.] erfülle. Es gehe insbesondere fehl, dass die Beschwerdeführerin einen Verstoß des angefochtenen Urteils gegen verfassungsrechtliche Grundsätze unter Verweis auf den Beschluss des [X.] vom 30. November 2011 (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. November 2011 - 1 BvR 3269/08 u.a. -) zu begründen versuche. Die zitierte Rechtsprechung betreffe allein Fälle des geringfügigen Überschreitens des für den Bezug von Sozialleistungen - etwa nach dem [X.] - maßgeblichen Einkommens, in denen nur wegen dieses Überschreitens keine Sozialleistungen beansprucht werden könnten und für die Begleichung des [X.] in der Folge dann auf das sozialrechtliche Existenzminimum zurückgegriffen werden müsse. Damit sei der vorliegende Sachverhalt indes nicht vergleichbar, weil er von vornherein aus dem Regelungsbereich der Härtefallbestimmungen des § 4 Abs. 6 Satz 1 [X.] herausfalle. Auch im Übrigen verstoße die Bescheidabhängigkeit der Gewährung der Beitragsbefreiung nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Eine Härtefallbefreiung von der [X.] komme allenfalls in Betracht, wenn der Beschwerdeführerin auf Antrag Leistungen wegen des Vorliegens eines besonderen Härtefalls im sozialrechtlichen Sinne nach § 27 Abs. 4 Satz 1 [X.] in der bis zum 31. Juli 2016 gültigen Fassung bewilligt würden.

b) In seiner vorausgegangenen Beschwerdeentscheidung im Prozesskostenhilfeverfahren hatte das Oberverwaltungsgericht zudem darauf hingewiesen, dass das Begehren der Beschwerdeführerin nicht schon deshalb unter [X.] Erfolg haben könnte, weil sie möglicherweise Einkünfte unterhalb der [X.]-Regelsätze gehabt habe. Maßgeblich sei vielmehr, dass der Fall der Beschwerdeführerin grundsätzlich in § 4 Abs. 1 Nr. 5 Buchstabe a [X.] geregelt sei, ohne dass es wegen spezifischer Besonderheiten zu Ausbildungsförderungs- beziehungsweise ersatzweise Leistungen nach dem [X.] gekommen sei. Derartige fachspezifische Ausschlussgründe könnten nicht über die Härtefallregelungen korrigiert werden. Die von der Beschwerdeführerin angeführte Rechtsprechung des [X.] (vgl. [X.]K 19, 181; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. November 2011 - 1 BvR 3269/08 u.a. -) betreffe Fälle des geringfügigen Überschreitens der sozialrechtlichen Regelsätze, mit denen der vorliegende Sachverhalt nicht vergleichbar sei.

5. Nach Abschluss des fachgerichtlichen Verfahrens der Beschwerdeführerin hat das [X.] unter Bezugnahme auf die Kammerrechtspre-chung des [X.] (vgl. [X.]K 19, 181) seine Rechtsprechung zur Anwendung der rundfunkbeitragsrechtlichen Härtefallklausel geändert (vgl. [X.], Urteil vom 30. Oktober 2019 - 6 C 10.18 -, Leitsatz 3, Rn. 22 ff.). Die bisherige Rechtsprechung zur Härtefallklausel (vgl. [X.], Urteil vom 12. Oktober 2011 - 6 C 34.10 -) wurde dabei teilweise aufgegeben.

6. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde, die sich gegen das Urteil des [X.] und den Beschluss des [X.] im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren richtet, rügt die anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Eine unter Art. 3 Abs. 1 GG unzulässige Ungleichbehandlung erkennt sie unter anderem darin, dass Empfänger von [X.] auf Antrag von dem Rundfunkbeitrag befreit würden, wohingegen ihr - als Darlehensnehmerin eines Studienkredites - eine Befreiung versagt werde, obwohl ihr Einkommen unterhalb der sozialrechtlichen Regelsätze liege und sie damit zur Begleichung des [X.] auf das geschützte Existenzminimum zurückgreifen müsse.

7. Das [X.] des [X.] und der [X.] als Beklagter des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]G zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]G). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]G).

1. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]G). Die [X.] des [X.] des [X.] hat vor zehn Jahren mit zwei Beschlüssen den aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Schutz des Existenzminimums) und aus Art. 3 Abs. 1 GG fließenden verfassungsrechtlichen Maßstab für die Härtefallbefreiung von der [X.] aus Gründen des geringen Einkommens aufgestellt (vgl. [X.]K 19, 181 <184 ff.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. November 2011 - 1 BvR 3269/08 u.a. -, Rn. 14 ff.). Danach muss ein den sozialrechtlichen Regelleistungen entsprechendes Einkommen (Existenzminimum) zur Begleichung des [X.] nicht eingesetzt werden. Die einer einkommensschwachen Person dennoch versagte Befreiung verstößt - im Vergleich zu den nach dem damaligen Rundfunkgebührenstaatsvertrag aus Einkommensgründen befreiten Personengruppen - gegen Art. 3 Abs. 1 GG, ohne dass der Staatsvertrag selbst verfassungswidrig wäre (vgl. [X.]K 19, 181 <184 ff.>). Die Härtefallklausel ermöglicht dem Rechtsanwender in einem solchen Fall eine das Existenzminimum schonende Befreiung von der [X.], auch ohne dass ein normierter [X.] erfüllt ist (vgl. [X.]K 19, 181 <185 f.>).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.]G genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]G). Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise zulässig (a) und hat insoweit auch in der Sache Erfolg (b).

a) Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig, als die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG rügt.

b) Die Verfassungsbeschwerde hat, soweit sie zulässig ist, auch in der Sache Erfolg. Der [X.], das Verwaltungsgericht und das [X.] haben ihre Entscheidungen auf ein Verständnis von der rundfunkbeitragsrechtlichen Härtefallklausel gestützt, das der Rechtsprechung des [X.] zu Art. 3 Abs. 1 GG und dem Schutz des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) (vgl. [X.]K 19, 181; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. November 2011 - 1 BvR 3269/08 u.a. -) widerspricht; dadurch wurde die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.

aa) Aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG folgt, dass ein nachweislich den sozialrechtlichen Regelleistungen entsprechendes oder sogar noch unterschreitendes Einkommen zur Begleichung von Rundfunkbeiträgen nicht eingesetzt werden muss (vgl. [X.]K 19, 181 <185>; [X.], Urteil vom 30. Oktober 2019 - 6 C 10.18 -, Rn. 25). Die Regelleistungen schützen und gewährleisten ein menschenwürdiges Existenzminimum, das sowohl die physische Existenz als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sichert (vgl. [X.]E 125, 175 <228>; 152, 68 <113 Rn. 119>).

Art. 3 Abs. 1 GG gebietet seinerseits, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Bei der Anwendung des Gleichheitssatzes ist daher zunächst zu fragen, ob eine Person oder Gruppe durch die als gleichheitswidrig angegriffene Vorschrift anders gestellt wird als eine andere Personengruppe, die man ihr als vergleichbar gegenüberstellt (vgl. [X.]E 22, 387 <415>; 52, 277 <280>). Das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. [X.]E 79, 1 <17>; 110, 412 <431>). Verboten ist daher ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem einem Personenkreis eine Begünstigung gewährt, einem anderen Personenkreis die Begünstigung aber vorenthalten wird (vgl. [X.]E 110, 412 <431>; 121, 108 <119>).

bb) Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffenen Entscheidungen gegenüber anderen finanziell bedürftigen Personen benachteiligt, denen die Zahlung des [X.] aus ihren sozialrechtlichen Regelleistungen nicht zugemutet wird, weil diese das Existenzminimum schützen. Sowohl der [X.] als auch das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht haben eine [X.] der Beschwerdeführerin von vornherein abgelehnt, ohne die Höhe ihres Einkommens anhand der vorgelegten Nachweise zu überprüfen. Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin und den von ihr im fachgerichtlichen Verfahren vorgelegten Nachweisen - etwa dem Wohngeldbescheid - war aber davon auszugehen beziehungsweise jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass ihr Einkommen in dem streitgegenständlichen [X.]raum unterhalb der sozialrechtlichen Regelsätze lag.

(1) Durch die versagte Befreiung von der [X.] wurde die Beschwerdeführerin, die von einer bescheidgebundenen Befreiung gemäß § 4 Abs. 1 [X.] mangels Vorliegen der Voraussetzungen ausgeschlossen war, gegenüber solchen Personen benachteiligt, die gemäß § 4 Abs. 1 [X.] auf Antrag von der Beitragspflicht zu befreien sind, weil sie einen Anspruch auf Sozialleistungen haben und ihren das Existenzminimum schützenden Regelsatz zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] beziehungsweise der Sozialhilfe nach dem [X.] nicht zur Begleichung des [X.] aufwenden müssen (vgl. [X.]K 19, 181 <185>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. November 2011 - 1 BvR 3269/08 u.a. -, Rn. 16; [X.], Urteil vom 30. Oktober 2019 - 6 C 10.18 -, Leitsatz 3, Rn. 22 ff.). Beide Personengruppen sind in Bezug auf ihre finanzielle Bedürftigkeit miteinander vergleichbar, weil das der Beschwerdeführerin zur Verfügung stehende Einkommen seiner Höhe nach mit den sozialrechtlichen Regelsätzen vergleichbar ist beziehungsweise es sogar noch unterschreitet (vgl. [X.]K 19, 181 <184>; [X.], Urteil vom 30. Oktober 2019 - 6 C 10.18 -, Rn. 26).

(2) Diese Schlechterstellung der Beschwerdeführerin gegenüber den nach § 4 Abs. 1 [X.] auf Antrag von der Beitragspflicht befreiten Personengruppen beruht am Maßstab von Art. 3 Abs. 1 GG auf keinem sachlichen Grund. Sie findet ihre sachliche Rechtfertigung insbesondere nicht in der Möglichkeit, aus Gründen der [X.] zu generalisieren, zu typisieren und zu pauschalieren (vgl. [X.]E 100, 138 <174>; 103, 310 <319>; 112, 268 <280>). Hierzu wäre unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich, dass die mit der Typisierung verbundenen Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären, sie lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen beträfen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv wäre (vgl. [X.]E 100, 138 <174>; 103, 310 <319>; [X.]K 19, 181 <185>; stRspr).

Diese kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen liegen nicht vor. Für die Beschwerdeführerin liegt schon ein intensiver Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor, für dessen Beurteilung insbesondere die Beitragsbelastung maßgeblich ist (vgl. [X.]E 63, 119 <128>; 84, 348 <360>). Zwar ist der Betrag eines [X.] absolut nicht sehr hoch. Er stellt aber für die Beschwerdeführerin, die ihren Lebensunterhalt aus einem Einkommen unterhalb der zur Deckung des Existenzminimums konzipierten sozialrechtlichen Regelleistungen (vgl. [X.]E 125, 175 <228>; 152, 68 <113 Rn. 119>) bestreitet, eine intensive Belastung dar (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. November 2011 - 1 BvR 3269/08 u.a. -, Rn. 19).

(3) Die Beschwerdeführerin musste für eine Härtefallbefreiung insbesondere auch nicht, wie nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] für das [X.] damals verlangt, vorrangig Leistungen nach § 7 Abs. 5 in Verbindung mit § 27 Abs. 4 Satz 1 [X.] in der bis zum 31. Juli 2016 gültigen Fassung beantragen und in Anspruch nehmen. Diese vom Katalog des § 4 Abs. 1 [X.] nicht erfassten Vorschriften sehen vor, dass in besonderen Härtefällen Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts, gegebenenfalls als Darlehen, geleistet werden können.

Denn die maßgebliche (Verfassungsgerichts-)Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG und der Befreiung von der [X.] als Härtefall (vgl. [X.]K 19, 181 <184 ff.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. November 2011 - 1 BvR 3269/08 u.a. -, Rn. 14 ff.; [X.], Urteil vom 30. Oktober 2019 - 6 C 10.18 -, Leitsatz 3, Rn. 22 ff.) gilt unabhängig davon, ob ein Betroffener dem Grunde nach einer der in § 4 Abs. 1 [X.] katalogisierten Bedürftigkeitsgruppen unterfällt, aber deren Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt, oder aber einer Personengruppe angehört, deren Bedürftigkeit der Rundfunkgesetzgeber in § 4 Abs. 1 [X.] von vornherein nicht erfasst hat. Maßgeblich ist allein, dass ein Betroffener nur über ein den sozialrechtlichen Regelsätzen entsprechendes oder sie unterschreitendes Einkommen verfügt und nicht auf Vermögen zurückgreifen kann. Ob das der Fall ist, ist im Rahmen der eröffneten [X.] von der Rundfunkanstalt festzustellen.

(4) Das in § 4 Abs. 7 [X.] verankerte System der so genannten bescheidge-bundenen Befreiungsmöglichkeit dient zwar der Verwaltungsvereinfachung, weil es den Rundfunkanstalten grundsätzlich eine Bedürftigkeitsprüfung erspart. Wegen der verfassungsrechtlichen Grenzen der Typisierung kann es allerdings nicht so weit reichen, dass die Rundfunkanstalten auch im Anwendungsbereich der Härtefallklausel des § 4 Abs. 6 Satz 1 [X.] von einer Bedürftigkeitsprüfung generell absehen könnten. Bei nachweislich einkommensschwachen [X.] sind sie vielmehr gehalten, im Rahmen ihrer Prüfung eines besonderen Härtefalls eine Bedürftigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. [X.]K 19, 181 <185>; [X.], Urteil vom 30. Oktober 2019 - 6 C 10.18 -, Rn. 27).

Der Widerspruchsbescheid des [X.], das Urteil des [X.] und der Beschluss des [X.] beruhen auf der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte sind aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 [X.]G). Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (vgl. [X.]E 104, 337 <356>).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]G abgesehen.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.]G.

Meta

1 BvR 1089/18

19.01.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 1. März 2018, Az: 16 A 2902/15, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 4 Abs 1 Nr 5 Buchst a RdFunkBeitrStVtr, § 4 Abs 6 S 1 RdFunkBeitrStVtr, § 7 Abs 5 SGB 2, § 27 Abs 4 S 1 SGB 2 vom 13.05.2011, § 27 Abs 4 S 1 SGB 2 vom 10.12.2011

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 19.01.2022, Az. 1 BvR 1089/18 (REWIS RS 2022, 1932)

Papier­fundstellen: NJW 2022, 1526 REWIS RS 2022, 1932

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