Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.09.2010, Az. AK 12/10

3. Strafsenat | REWIS RS 2010, 3264

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Gegenstand

Untersuchungshaft über sechs Monate: Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung bei Tätigkeit als Führungfunktionär der DHKP-C; rechtfertigender Notstand für Unterstützungsleistungen bei Anwerbung des Täters durch den Bundesnachrichtendienst


Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem [X.] übertragen.

Gründe

1

Der Angeschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 18. Februar 2010 (6 [X.] 16/10) am 24. Februar 2010 festgenommen und befindet sich seit dem 25. Februar 2010 in Untersuchungshaft.

2

1. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich durch seine Tätigkeit als Führungsfunktionär der [X.] ([X.] Partisi - Cephesi = Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front) vom 5. November 2008 bis Ende März 2009 als Mitglied an einer [X.] im Ausland beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, sowie am 29. Januar und 5. Februar 2009 wiederholt einem Ausländer, der nicht im Besitz des erforderlichen Aufenthaltstitels ist, dazu Hilfe geleistet, dass er unerlaubt in das [X.] einreist. Der [X.] hat unter dem 9. August 2010 Anklage gegen den Angeschuldigten zum [X.] erhoben. Mit dieser wirft er dem Angeschuldigten vor, sich in der [X.] vom 7. Oktober 2002 bis zum 9. April 2009 als Mitglied an der [X.] beteiligt zu haben und am 4. und 5. Januar, am 29. Januar sowie am 5. Februar 2009 als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Straftaten verbunden hat, wiederholt einem Ausländer, der nicht im Besitz des erforderlichen Aufenthaltstitels ist, dazu Hilfe geleistet zu haben, dass er unerlaubt in das [X.] einreist. Das [X.] hat die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und zur Begründung ausgeführt, es halte den Angeschuldigten der ihm in der Anklageschrift zur Last gelegten Taten dringend verdächtig. Über den Antrag des [X.]s, den bestehenden Haftbefehl aufzuheben und durch einen neuen Haftbefehl im Umfang der Anklage zu ersetzen, hat das [X.] noch nicht entschieden.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen auf der - im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121 f. [X.] maßgebenden - Grundlage des Vorwurfs, der dem Angeschuldigten in dem Haftbefehl des Ermittlungsrichters des [X.] vom 18. Februar 2010 gemacht wird, vor.

4

2. Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Geschehen auszugehen:

5

Die [X.] orientierte, hierarchisch und zentralistisch aufgebaute Gruppierung [X.] verfolgt das Ziel, durch "bewaffneten Kampf" einen Umsturz der politischen Verhältnisse in der [X.] herbeizuführen und dort eine [X.] Gesellschaftsordnung zu errichten. Sie hat sich seit dem Jahre 1994 zu zahlreichen Brand- und Sprengstoffanschlägen bekannt, die u. a. gegen Repräsentanten des [X.], Mitglieder [X.] Justizbehörden und der [X.] gerichtet waren. Hinsichtlich der diesbezüglichen Einzelheiten wird auf die Ausführungen in dem Haftbefehl des Ermittlungsrichters des [X.] Bezug genommen. Die [X.] ist auch außerhalb der [X.], vor allem in Westeuropa, aktiv. Hier bestehen Organisationseinheiten, die von Parteifunktionären oder -komitees geleitet werden. Die Aufgabe dieser sog. Rückfront ist es insbesondere, finanzielle Mittel zu beschaffen und auf diese Weise die Begehung der terroristischen Anschläge in der [X.] zu unterstützen. Daneben werden in [X.] Kämpfer rekrutiert; zudem wird für deren Ausstattung gesorgt sowie ein Rückzugsraum für Mitglieder der Organisation geschaffen.

6

Der Angeschuldigte arbeitete als [X.] für die [X.]. Als Nachfolger der am 5. November 2008 festgenommenen E. übernahm er vorübergehend deren Aufgaben und war als [X.]verantwortlicher tätig. In dieser Funktion koordinierte er die Aktivitäten der [X.]. Er war vor allem auch in die Beschaffung von [X.] eingebunden. U. a. leitete er am 30. Januar 2009 ein Treffen verschiedener [X.]-Gebietsverantwortlicher in [X.], bei dem wesentliche Einzelheiten zur "Spendenkampagne" besprochen wurden. Bis Ende März 2009 arbeitete er den neuen [X.]verantwortlichen, den gesondert Verfolgten Ö., in dessen Aufgaben ein und unterstützte ihn.

7

3. Der dringende Verdacht, dass der Angeschuldigte sich als Mitglied an der [X.] beteiligt hat, ergibt sich insbesondere aus seiner Einlassung sowie Erkenntnissen, die im Rahmen verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, etwa der Überwachung der Telekommunikation, gewonnen wurden. Hinsichtlich der Einzelheiten nimmt der Senat auf den Inhalt der Anklageschrift Bezug.

8

4. Danach besteht der dringende Tatverdacht, dass sich der Angeschuldigte nach den § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat. Dabei kann hier dahinstehen, ob - was allerdings nahe liegt (vgl. etwa auch die uneingeschränkte Listung der [X.] als terroristische [X.] in den [X.] 2002/460/[X.] vom 17. Juni 2002 und zuletzt vom 28. Juni 2007 - 2007/445/[X.] - zur Durchführung von Art. 2 Abs. 3 der [X.] ([X.]) 2580/2001 vom 27. Dezember 2001) - vor diesem Hintergrund die [X.] materiell-rechtlich insgesamt als ausländische terroristische [X.] anzusehen ist, oder ob - wie der Haftbefehl annimmt - sich lediglich innerhalb dieser Organisation eine terroristische [X.] gebildet hat, der neben bestimmten Funktionären und den mit der Ausführung der Anschläge betrauten Kadern in der [X.] jedenfalls [X.] als Mitglieder angehören, die im [X.] Ausland in herausgehobenen Funktionen für die [X.] tätig sind und denen es obliegt, u. a. durch Spendensammlungen die für den bewaffneten Kampf erforderlichen finanziellen Mittel zu beschaffen (vgl. schon [X.], Beschluss vom 29. Mai 2009 - AK 8-10/09). Denn nach dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen gehörte der Angeschuldigte als [X.]verantwortlicher diesem engeren Funktionärskreis an.

9

Die erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten in [X.], "die im Zusammenhang mit der terroristischen [X.] stehen, die sich innerhalb des Führungskaders der [X.] unter der Führung von [X.] KARATAS in der [X.] gebildet hat", hat das [X.] am 29. Juli 2003 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 und 4 StGB). Dieser Zusammenhang ist hinsichtlich der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Taten unabhängig davon gegeben, wie der Umfang der [X.] materiell-rechtlich zu bestimmen ist.

Der Strafbarkeit des Angeschuldigten steht nicht entgegen, dass er nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen seit spätestens Anfang des Jahres 2003 für eine Zusammenarbeit mit dem [X.] angeworben und verpflichtet wurde. Der Angeschuldigte hat auch vor diesem Hintergrund die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 129b, 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt. Sein Handeln könnte allenfalls in entsprechender Anwendung der für verdeckte Ermittler [X.]. § 110a [X.] und verdeckt operierende Polizeibeamte geltenden Grundsätze unter den engen Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB gerechtfertigt sein [X.], StGB, 57. Aufl., § 129 Rn. 37 mwN). Hierfür bestehen jedoch aufgrund der bisherigen Einlassung des Angeschuldigten und der sonstigen Ermittlungsergebnisse keine Anhaltspunkte.

5. Da der Angeschuldigte der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen [X.] im Ausland (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b StGB) dringend verdächtig ist, liegt der Haftgrund der [X.] (§ 112 Abs. 3 [X.]) vor. Es ist aufgrund der in dem Haftbefehl näher dargelegten Umstände auch bei Berücksichtigung seiner langjährigen Mitarbeit beim [X.] nicht auszuschließen, dass er sich, in Freiheit belassen, dem Verfahren entziehen wird.

Mit Blick insbesondere auf die Kontakte, die der Angeschuldigte als langjähriges hochrangiges Mitglied einer international agierenden ausländischen terroristischen [X.] zu knüpfen in der Lage war, vermögen weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 [X.] nicht die Erwartung zu begründen, dass durch sie der Zweck der Untersuchungshaft auch erreicht werden kann.

6. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 [X.]) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft. Das Verfahren ist bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Seit der Festnahme des Angeschuldigten wurden zahlreiche Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt. U. a. wurde der Angeschuldigte an insgesamt neun Terminen vernommen. Trotz des großen Umfangs der Ermittlungen ist die Anklage bereits erhoben worden.

7. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht zu den gegen den Angeschuldigten in dem Haftbefehl erhobenen Tatvorwürfen derzeit noch nicht außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Der Umstand, dass der Angeklagte über einen langen [X.]raum als nachrichtendienstliche Quelle tätig war, darf jedoch im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht aus dem Blick geraten. Dabei wird darauf Bedacht zu nehmen sein, dass dem Angeklagten gegebenenfalls kein Nachteil daraus erwachsen darf, dass der [X.] über die Behördenerklärung vom 14. Juli 2010 hinaus keine weiteren Angaben zu der Tätigkeit des Angeschuldigten machen und insbesondere die Führungsperson des Angeschuldigten als Zeuge im hiesigen Strafverfahren nicht zur Verfügung stehen wird (vgl. [X.], Urteil vom 4. März 2004 - 3 [X.], [X.]St 49, 112). Der Einfluss des [X.]es auf die Mitwirkung des Angeschuldigten in der [X.] wird sich gegebenenfalls - abhängig von der Art und Intensität - zu Gunsten des Angeschuldigten bei der Strafzumessung auszuwirken haben (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 17. November 1999 - 3 [X.], [X.]R StGB § 46 Abs. 1 V-Mann 13; Urteil vom 18. November 1999 -  1 [X.], [X.]St 45, 321; Beschluss vom 2. Dezember 1999 - 3 [X.], [X.], 207; Urteil vom 30. Mai 2001 - 1 StR 42/01, [X.]St 47, 44). Mit Blick auf die nach derzeitigem Ermittlungsstand infolge des Einflusses des [X.]es auf das strafbare Verhalten des Angeschuldigten reduzierte Straferwartung und dem im Vergleich zur Anklageschrift deutlich geringeren Tatvorwurf in dem Haftbefehl des Ermittlungsrichters des [X.] wird das [X.] indes zeitnah über die vom [X.] beantragte Erweiterung des Haftbefehls zu befinden haben.

[X.]                                  Schäfer

Meta

AK 12/10

16.09.2010

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 34 StGB, § 46 StGB, § 129a Abs 1 Nr 1 StGB, § 129b Abs 1 StGB, § 110a StPO, Art 2 S 3 EGV 2580/2001, EGBes 460/2002, EGBes 445/2007

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.09.2010, Az. AK 12/10 (REWIS RS 2010, 3264)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3264

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