BT-Drucksache 18/9122

Gute Arbeit in der Pflege - Personalbemessung in der Altenpflege einführen

Vom 7. Juli 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9122
18. Wahlperiode 07.07.2016
Antrag
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Susanna Karawanskij, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Thomas Lutze, Cornelia Möhring, Norbert Müller (Potsdam), Thomas Nord,
Harald Petzold (Havelland), Richard Pitterle, Michael Schlecht, Dr. Petra Sitte,
Azize Tank, Dr. Axel Troost, Kathrin Vogler, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Gute Arbeit in der Pflege ‒ Personalbemessung in der Altenpflege einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In kaum einem anderen Berufsfeld ist der Personalnotstand seit Jahren so spürbar
wie in der Altenpflege. Arbeitsverdichtung, Stress und fehlende Zeit für Zuwendung
und Gespräche mit den zu Pflegenden prägen den Arbeitsalltag der Pflegekräfte. Zu-
sätzlich zu den ohnehin hohen Belastungen entstehen für viele Beschäftigte psychi-
scher Druck und Unzufriedenheit, weil sie in der Ausbildung gelernte Fachkennt-
nisse und Fähigkeiten nicht anwenden und auch eigene Ansprüche an eine qualitativ
hochwertige Pflege nicht erfüllen können.
Trotz eines hohen Ansehens des Berufes in der Gesellschaft (www.die-pflegebi-
bel.de/beruf-altenpfleger-geniesst-hohes-ansehen/) bleibt die dringend notwendige
Aufwertung aus. Die Initiativen der Bundesregierung, welche die Altenpflege stär-
ken und den Beruf attraktiver machen sollen, haben die angekündigten Wirkungen
bei weitem nicht erfüllt. Die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag zwischen
CDU, CSU und SPD, Personalmindeststandards im Pflegebereich einzuführen,
wurde nicht umgesetzt.
Internationale Studien, vor allem aus den USA, wo es in einigen Bundesstaaten ge-
setzliche Regelungen zur Personalbesetzung gibt, belegen einen Zusammenhang
zwischen dem Vorhandensein von ausreichendem und gut qualifiziertem Personal
und der Pflegequalität. Eine spürbare und nachweisbare Verbesserung der Pflege-
qualität (Anzahl von Mängelrügen, Anteil von Pflegebedürftigen mit Druckge-
schwüren und Kontrakturen) setzt zwingend eine Neueinstellung von Pflegekräften
mit hohem Qualitätsniveau voraus.
(www.verdi.de/++file++56cd87e7bdf98d086200021a/download/
Gutachten_gress_stegmueller.pdf, Seite 24 ff.).
Zwar gibt es insgesamt einen kontinuierlichen Beschäftigtenzuwachs nach Köpfen
in der Altenpflege. Dieser ist aber fast ausschließlich auf die Zunahme von Teilzeit-
beschäftigten zurückzuführen. Es sind am Ende mehr Pflegekräfte, die aber insge-
samt weniger Arbeitszeit haben. Der Anteil der in Vollzeit beschäftigten Personen

Drucksache 18/9122 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
hat von 1999 bis heute abgenommen. Von allen in der Altenpflege beschäftigten
Pflegekräften arbeiten mehr als die Hälfte in Teilzeit oder als geringfügig Beschäf-
tigte. Es gibt vor allem einen Zuwachs an Personen, aber nicht im selben Maß an
Vollzeitäquivalenten und Fachkräften (Greß/Stegmüller, Seite 13 f.).
Mit Blick auf die Qualifikation der Beschäftigten muss man von einer Entqualifizie-
rung der Pflege sprechen. „Von den einzelnen Beschäftigtengruppen ist die der Al-
tenpflegehelferinnen und -helfer diejenige Berufsgruppe, die mit Abstand am meis-
ten gewachsen ist. Sie hat sich seit 2003 nahezu verdreifacht und stellt inzwischen
bei den Pflegeberufen in den Heimen, die nicht zu den Fachkräften zählen, die größte
Berufsgruppe dar“ (Greß/Stegmüller, S. 14).
Hinzu kommt, dass die Anzahl der Menschen mit Pflegebedarf im Zuge erhöhter
Pflegebedürftigkeit nicht nur gestiegen ist, sondern sich auch deren Bedürfnisse im
Laufe der Jahre verändert haben. Neben der steigenden Anzahl von Menschen mit
demenziellen Erkrankungen und zunehmender Dauer der Pflegebedürftigkeit spielt
auch die Veränderung von sozialen Strukturen und Lebensweisen sowie ein stärkerer
Wunsch von Menschen mit Pflegebedarf, individuelle Unterstützungslösungen zu
finden, eine Rolle. Diese Veränderungen erfordern den verstärkten Einsatz qualifi-
zierter Pflegekräfte ebenso wie eine den sich wandelnden Bedürfnissen angepasste
Aus- und Weiterbildung, eine individuelle Wohnortgestaltung, um eine Inklusion
von Menschen mit Pflegebedarf in die Gesellschaft zu ermöglichen und weitere
Maßnahmen. Da sich bei gleichbleibenden Voraussetzungen die Arbeitsintensivie-
rung und -verdichtung in der Pflege zuspitzen werden, muss dringend gegengesteu-
ert werden, um negative Begleiterscheinungen für die Arbeitsbedingungen und die
Pflegequalität zu verhindern.
In den meisten Bundesländern gilt in der stationären Langzeitpflege eine Quote für
Pflegefachkräfte von 50 Prozent. Für die ambulante Pflege fehlen gesetzliche Rege-
lungen für die Personalbemessung in Form einer Fachkraftquote. Für die Personal-
ausstattung in der stationären Altenpflege werden in jedem Bundesland unterschied-
liche Personalrichtwerte festgelegt, denen allerdings eine wissenschaftlich fundierte,
überprüfbare Grundlage fehlt und deren Einhaltung kaum überprüft wird.
Zu begrüßen ist die Regelung des Pflegestärkungsgesetzes II, bis 2020 ein bedarfs-
orientiertes Personalbemessungssystem für die stationäre Langzeitpflege zu entwi-
ckeln. Um aus den hieraus gewonnenen Erkenntnissen positive Effekte für die Qua-
lität der Pflege zu erreichen, sind zusätzlich zwingend seine verbindliche Umsetzung
sowie eine ausreichende Refinanzierung durch Abkehr von der Teilkostendeckung
sicherzustellen. Andernfalls müssten die Eigenanteile der Menschen mit Pflegebe-
darf weiter steigen, was schon jetzt eine gute Pflege für viele Menschen uner-
schwinglich macht. Langfristig gelingt eine stabile und sozial gerechte Finanzierung
nur durch eine Pflegevollversicherung im Rahmen einer solidarischen Bürgerinnen-
und Bürgerversicherung. Bundeseinheitliche Regelungen sind nötig, damit den Pfle-
geeinrichtungen keine Ausweichmöglichkeiten bleiben und eine verbindliche Um-
setzung sichergestellt wird (Greß/Stegmüller, Seite 34 ff.).
Für die ambulante Pflege sind ebenso verbindliche und wissenschaftlich begründete
Vorgaben für die Personalbemessung erforderlich. Da die meisten Menschen gern
in ihrer häuslichen Umgebung gepflegt werden möchten und damit der Bedarf an
ambulanten Pflegeleistungen in Zukunft steigen wird, müssen auch hier wissen-
schaftlich überprüfte und verbindliche Standards für die Personalbemessung einge-
führt und deren verbindliche Umsetzung und Finanzierung sichergestellt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

in Abstimmung mit den Bundesländern einen Gesetzentwurf vorzulegen und geeig-
nete Maßnahmen zu ergreifen, um ein wissenschaftliches Verfahren zur einheitli-
chen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach § 113c des Elften

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9122
Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu entwickeln und zu erproben, das tatsächlich
zu einer bedarfsdeckenden Personalausstattung in den Einrichtungen, zu höherer
Pflegequalität und guten Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte führt. Dafür müssen
folgende Maßnahmen umgesetzt werden:
1. Gemeinsam mit der Selbstverwaltung wird gewährleistet, dass der erhöhte Pfle-

geaufwand in Umsetzung des neuen Pflegebegriffs durch eine bessere Personal-
ausstattung bereits ab 01.01.2017 abgesichert wird. Dazu werden bundeseinheit-
liche verbindliche Standards formuliert und Regelungen vereinbart, welche die
zuständigen Behörden in den Bundesländern verpflichten, die Einhaltung des
erforderlichen Personalbedarfs regelmäßig und regelhaft zu überprüfen und Ver-
stöße gegen die Vorschriften wirksam zu sanktionieren.

2. Das Begleitgremium für die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
wird beauftragt, bis zum 31.12.2016 Übergangsempfehlungen bis zur Einfüh-
rung des wissenschaftlich begründeten Personalbemessungsverfahrens 2020 zu
erarbeiten. Dabei ist insbesondere die unverzügliche Umsetzung einer angemes-
senen Mindestpersonalbemessung zu prüfen und dafür zu sorgen, dass Pflege-
kräfte auch nachts nicht allein arbeiten müssen.

3. Ab dem nächstmöglichen Zeitpunkt wird ein Pflegeförderprogramm bis 2020
aufgelegt und finanziert. Vor allem sind eine Pflegefachkraftquote von mindes-
tens 50 Prozent, erhöhte Nachtschichtbesetzungen, gendergerechte, kultursen-
sible und palliative Pflegeleistungen abzusichern. Die Finanzierung der zusätz-
lichen Stellen und der Gehaltsanpassungen an den Tarifvertrag erfolgt zunächst
durch die Auflösung des Pflegevorsorgefonds, der in einen Pflegepersonalfonds
umgewandelt wird. In Anpassung an den erhöhten Pflegeaufwand und die stei-
genden Qualitätsanforderungen durch die Einführung des neuen Pflegebedürf-
tigkeitsbegriffs ist dringend auf eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte hinzu-
wirken.

4. Die einheitliche Umsetzung der gesetzlichen Regelungen erfolgt über die Lan-
despflegeausschüsse in allen Bundesländern. Diese wirken darauf hin, dass wis-
senschaftlich ermittelte Standards und wirksame Kontrollmechanismen in lan-
desrechtliche Regelungen übernommen werden;

5. Eine vollständige Refinanzierung der Kosten der wissenschaftlich ermittelten
Personalausstattung wird abgesichert. Dazu müssen die verbesserten Standards
zur Personalbemessung in den Pflegesatzverhandlungen zur verbindlichen
Grundlage werden. Über Stand und Termine der Pflegesatzverhandlungen ist
Transparenz herzustellen.

6. Eine hochwertige Personalausstattung darf nicht über weitere Steigerungen der
Eigenanteile von Menschen mit Pflegebedarf finanziert werden. Dafür wird die
Teilkostendeckung beendet und eine Pflegevollversicherung eingeführt. Lang-
fristig wird die Umlagefinanzierung weiterentwickelt. Die solidarische Pflege-
versicherung (Bürgerinnen- und Bürgerversicherung) schafft finanzielle Sicher-
heit und ermöglicht Spielräume für eine teilhabeorientierte und selbstbestimmte
Pflege.

7. Die Rechte der Pflegekräfte auf Mitbestimmung, geregelte und verlässliche
Dienstplangestaltung, Gesundheitsfürsorge und Sicherheit am Arbeitsplatz, das
Recht auf Fort- und Weiterbildung und eine tarifliche Entlohnung sind auszu-
bauen und gesetzlich festzuschreiben. Gute Arbeitsbedingungen und die Mög-
lichkeit der Mitgestaltung müssen Maßstab für Personalentscheidungen werden.

8. Die Selbstbestimmungsrechte der Menschen mit Pflegebedarf sind in allen Ent-
scheidungen über die Qualität und Quantität der Personalausstattung zu stärken.
Die Bedürfnisse der Menschen mit Pflegebedarf müssen Maßstab für Personal-
entscheidungen werden.

Drucksache 18/9122 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
9. Die Kontrollbefugnisse des Medizinischen Dienstes und von Heimbeiräten sind

weiterzuentwickeln und auch auf Fragen der Personalausstattung – insbesondere
für gendergerechte, kultursensible und palliative Pflege – auszuweiten. Dabei
sind Kriterien zu entwickeln, die die Arbeitsbedingungen berücksichtigen, z. B.
eine erhöhte Fluktuation der Beschäftigten.

10. Formen entscheidungswirksamer Beteiligung von Heimbeiräten, Personalver-
tretungen und Initiativen der Menschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen
zur Personalentwicklung auf Einrichtungsebene sind im Rahmen der geplanten
„Modellkommunen Pflege“ gemeinsam mit den Pflegekassen zu entwickeln und
zu evaluieren. Best-Practice-Lösungen müssen in die zu entwickelnden Quali-
tätsstandards einfließen.

Berlin, den 6. Juli 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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