BT-Drucksache 18/8725

Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten

Vom 8. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8725
18. Wahlperiode 08.06.2016
Antrag
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Eva
Bulling-Schröter, Roland Claus, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid
Hupach, Kerstin Kassner, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring,
Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas
Lutze, Birgit Menz, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland),
Dr. Petra Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald
Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Hubertus Zdebel
und der Fraktion DIE LINKE.

Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Altersarmut hat auch ein regionales Gesicht. Die gleiche Leistung der Pflegeversi-
cherung oder die gleiche Rentenhöhe führt nicht auch zu gleicher Qualität der Pfle-
geleistungen an unterschiedlichen Orten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.
Pflegemängel erwachsen auch aus kommunalen Angebotsdefiziten. Die wenigsten
Menschen erhalten die Unterstützung, die sie sich wünschen und benötigen und die
sie so lange wie möglich am sozialen Leben teilhaben lässt.
Mit der Pflegeversicherung wurde 1995 die Marktregulierung als Steuerungsprinzip
in der Pflege eingeführt. Die Pflegekassen unterliegen einem Kontrahierungszwang
mit allen geeigneten, leistungsfähigen und wirtschaftlich arbeitenden Leistungsan-
bietern, unabhängig von der jeweiligen örtlichen Bedarfslage. Im Ergebnis wuchsen
die Pflegekapazitäten schneller als die Zahl der Menschen mit Pflegebedarf
(vgl. Rothgang/Sünderkamp/Weiß: „Die Rolle privater Anbieter in der Pflegever-
sorgung“, S. 10). Die Zahl privater Pflegedienste im ambulanten Bereich wuchs be-
sonders schnell. Nahezu zwei Drittel der insgesamt 12.700 ambulanten Pflegedienste
waren im Jahr 2013 in privater Trägerschaft. Nur knapp ein Drittel hatte freigemein-
nützige und weniger als 2 Prozent öffentliche Träger (vgl. Barmer Pflegere-
port 2015, S. 112).
Die pflegerische Bedarfsplanung sowie der Vorrang öffentlicher und freigemeinnüt-
ziger Träger vor privaten wurden faktisch abgeschafft (vgl. Rothgang et al. ebd.,
S. 11). Kommunen können auf Planung und Ausgestaltung von qualifizierter Pflege
kaum noch Einfluss nehmen.
Die in den vergangenen Jahren in Kraft getretenen Pflegegesetze setzen verstärkt auf
ambulante und häusliche Pflege. Trotz einer rasant gestiegenen Zahl privater Leis-

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Drucksache 18/8725 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
tungserbringer werden jedoch viele gesetzlich vorgesehene Angebote von den Ver-
sicherten gar nicht in Anspruch genommen. Neue gesetzliche Regelungen sind oft
unbekannt und schrecken durch bürokratischen Aufwand ab. Gemäß einer Meldung
der Deutschen Stiftung Patientenschutz in der „Frankfurter Allgemeine Zei-
tung“ (FAZ) vom 7. März 2016 werden 1,8 Millionen pflegebedürftige Menschen
zu Hause betreut. Davon nutzen nur 67.000 Leistungen der Tages- und Nachtpflege,
das sind gerade einmal 3,7 Prozent. Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Pati-
entenschutz konstatierte: „Für Angehörige sind Pflege- und Familienpflegezeit ein
Flop. Von 375.000 Anspruchsberechtigen haben 242 ein Darlehen beantragt. Das ist
nicht mal ein Promille“ (vgl. FAZ vom 7. März 2016).
Ungeklärte Schnittstellen zwischen Leistungen der Pflegeversicherung nach dem
Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI), Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) sowie der Eingliederungshilfe im künf-
tigen Bundesteilhabegesetz erschweren den Zugang zu gesetzlichen Leistungsan-
sprüchen zusätzlich und führen zu gravierenden Ungleichbehandlungen, beispiels-
weise in der medizinischen Behandlungspflege in stationären Einrichtungen. „Das
SGB IX, das die Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger bei den Leistungen zur
Teilhabe regelt, gilt nicht für die Pflegekassen. Der positive Ansatz der Pflegestütz-
punkte, der diesem Mangel abhelfen sollte, kann wegen der fehlenden Verknüpfung
mit dem SGB IX und der Beschränkung auf die Pflege im engeren Sinne keine
durchgreifende Wirksamkeit entfalten.“ (vgl. Kuratorium Deutsche Alters-
hilfe/Friedrich-Ebert-Stiftung, Studie „Gute Pflege vor Ort“, S. 12).
Personenzentrierte Pflege wird vor Ort gestaltet. Hier benötigen Menschen mit Un-
terstützungsbedarf, vor allem alte und chronisch kranke Menschen, Menschen mit
Pflegebedarf und Menschen mit Behinderungen passgenaue Versorgungs- und Un-
terstützungsangebote. Sie brauchen sektorenübergreifend medizinische und pflege-
rische Versorgung, übergreifende Informationen aus einer Hand, aufsuchende Bera-
tung und Unterstützung, kurze Entscheidungswege und vertraute Ansprechpartner.
Hier kennen sich die Menschen als Familien, Nachbarn, Freunde, Fachkräfte und
bürgerschaftlich Engagierte. Hier können individuelle Bedarfe konkret und komplex
erfasst sowie Unterstützungsleistungen personenbezogen kombiniert und koordi-
niert werden.
Die Steuerpolitik der Bundesregierung zu Lasten der Länder und Kommunen ver-
hindert zunehmend den Aufbau einer kommunalen Infrastruktur, insbesondere im
ländlichen Raum, die die Teilhabe für Menschen mit Einschränkungen außerhalb der
Häuslichkeit, aber wohnortnah ermöglicht. Altersgerechtes und alternatives Wohnen
wird ungenügend gefördert. Gemeinschaftliche kulturelle Angebote sind nicht finan-
zierbar oder nicht erreichbar ohne passenden öffentlichen Nahverkehr. Barrierefreie
Einkaufsmöglichkeiten und Arztpraxen fehlen. Freiwillige soziale Leistungen wur-
den in vielen Kommunen gekürzt oder gestrichen.
Viele Kommunen haben die Altenhilfeplanung aufgegeben. Für private Anbieter
rechnet sich die ambulante Versorgung in der Fläche nicht. Alternative kommunale
Leistungserbringer stehen nicht mehr zur Verfügung. Kultursensible und genderspe-
zifische Pflegeleistungen fehlen. Bürgerschaftliches Engagement kann professio-
nelle ambulante Pflege nicht ersetzen. Pflegende Angehörige tragen oft die Haupt-
verantwortung, weil professionelle Pflege für viele Familien zu teuer ist oder nicht
angeboten wird. Zugleich wachsen die finanziellen Belastungen der Menschen mit
Pflegebedarf und ihrer Familien (vgl. Barmer GEK Pflegereport 2015, S. 110).
Die soziale Ungleichheit wächst, viele Menschen mit Pflegebedarf und viele Kom-
munen werden zunehmend belastet. Trotz der Leistungsverbesserungen in den ver-
gangenen Jahren bleibt der Wert der Leistungen der Pflegeversicherung hinter den
Kostensteigerungen zurück. So verschlechtern sich Pflegequalität und Personalaus-
stattung durch Lohndumping und Unterqualifizierung. Dennoch verzichtete die Bun-

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desregierung im Pflegestärkungsgesetz II auf jegliche Rahmenvorgaben zur Perso-
nalausstattung für den erhöhten Pflegeaufwand durch die Einführung des neuen Pfle-
gebedürftigkeitsbegriffs.
Es fehlt nicht nur eine regelgebundene Anpassung der Pflegesätze an die Kostenent-
wicklung. Die Teilkostendeckung der Pflegeversicherung, die Konkurrenz der Leis-
tungsanbieter um niedrige Pflegekosten und wachsende Altersarmut zwingen immer
mehr Menschen mit Pflegebedarf, Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII in Anspruch
zu nehmen. Die Zahl der Leistungsbezieherinnen und -bezieher stieg von 2004 bis
2014 von 328.324 auf 452.514. Davon lebten 71 Prozent in Pflegeheimen. Zwei
Drittel waren Frauen. Die Ausgaben der örtlichen und überörtlichen Träger der So-
zialhilfe erhöhten sich im gleichen Zeitraum von 3,15 auf 4,01 Milliarden Euro
(vgl. www.gbe-bund.de). Das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik
in Köln geht davon aus, dass durch die Umstellung auf das neue Begutachtungsver-
fahren die Hilfe zur Pflege „in gleichem Maße zusätzlich belastet wird wie die Pfle-
geversicherung, d. h. um jährlich 14 Prozent der Ausgaben (…) zuzüglich einmalig
17 Prozent der Ausgaben für vier Jahre“ der Überleitung (vgl. Dr. D. Engels „Kurz-
studie zu den Auswirkungen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes auf die Träger der
Sozialhilfe“, S. 9). Die Bundesregierung hat – trotz ausdrücklicher Forderung durch
den Bundesrat – weder den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff mit dem Pflegestär-
kungsgesetz II auf den Leistungsbereich des SGB XII übertragen, noch die Un-
gleichbehandlung von anerkannt pflegebedürftigen Menschen mit Behinderungen
behoben.
Das bestehende System der Pflegeversicherung bedarf der Neuausrichtung. Durch
eine Pflegevollversicherung auf der Basis solidarischer Einnahmensicherung kann
pflegebedingte Armut verhindert werden. Inklusiv ausgestaltete kommunale und re-
gionale Rahmenbedingungen würden gleichwertig hohe und bezahlbare Pflegequa-
lität an allen Lebensorten sichern. Die sozialstaatliche Steuerung in der Pflege ist
zurückzugewinnen und gerecht auszugestalten. Maßstab muss ein teilhabeorientier-
tes, inklusives Alters-, Gesundheits- und Behinderungsverständnis sein, zu dem
Pflege als Sorgearbeit gehört. „Pflege ist der Aspekt des Lebens, an dem sich die
Solidarität und Humanität unserer Gesellschaft im Umgang mit hilfsbedürftigen
Menschen – alten wie jungen, gesunden und kranken, behinderten und nicht behin-
derten – beweist.“ („Gute Pflege vor Ort“, ebd., S. 5).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, Maßnahmen zu ergrei-
fen und Gesetzentwürfe vorzulegen,

1. um gleichwertige Lebensbedingungen in der Pflege für jeden Menschen mit
Pflege- und Unterstützungsbedarf und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäf-
tigten in allen Regionen zu schaffen, mit dem Ziel, jeder und jedem zu jeder Zeit
eine bedarfsdeckende Versorgung in hoher Qualität unabhängig vom Lebensort
oder von der sozialen Situation zu sichern.
a) Die Leistungsausgestaltung des Pflegestärkungsgesetzes II ist ohne Abstriche

in den Leistungsbereich des SGB XII zu überführen. Pflegebedürftige Men-
schen, die Sozialhilfe beziehen, dürfen leistungsrechtlich nicht schlechter ge-
stellt werden als pflegebedürftige Menschen ohne Sozialhilfebezug. Die Fi-
nanzierung der Leistungsausgestaltung des Pflegestärkungsgesetzes II im
Siebten Kapitel des SGB XII wird analog zu § 46a Viertes Kapitel SGB XII
geregelt.

b) Über die Pflegesatzverhandlungen, insbesondere über Höhe und Ausgestal-
tung der Pflegesätze und der Investitionskostenzuschüsse für Menschen mit
Pflegebedarf wird Transparenz geschaffen.

http://www.gbe-bund.de/
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c) Die Pflegekommission nach § 13 Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG)
wird umgehend neu einberufen, um die Entlohnung an den erhöhten Pflege-
aufwand infolge des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs anzupassen. Die Pfle-
gekommission wird mit Vertretern der Pflegekassen und von Interessenver-
bänden der Menschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen erweitert.

d) Der Pflegemindestlohn wird im Zuge der Umsetzung des neuen Pflegebedürf-
tigkeitsbegriffs zum 1. Januar 2017 auf 12,50 Euro je Arbeitsstunde gleicher-
maßen in allen Bundesländern angehoben. Verstöße gegen den Pflegemin-
destlohn werden wirksamer sanktioniert. Die Schutzfunktion des Arbeitszeit-
gesetzes für die Beschäftigten in der Pflege, insbesondere zur Einhaltung der
Ruhezeiten, ist zu sichern.

e) Die Pflegekassen werden als Rehabilitationsträger im § 6 SGB IX und gleich-
lautend im SGB XI sowie im Bundesteilhabegesetz verankert. Kosten der me-
dizinischen Rehabilitation sind von den Krankenkassen, Kosten der geriatri-
schen Rehabilitation von den Pflegekassen zu tragen.

f) Der gemäß § 17a SGB XI einberufene Beirat zur Umsetzung des neuen Pfle-
gebedürftigkeitsbegriffs wird beauftragt, Empfehlungen zur Personalausstat-
tung, zu den fachlichen Anforderungen für Unterstützungsleistungen nach
den §§ 45a bis 45d SGB XI (neu) sowie zur notwendigen Beratungsqualität
zur Verfügung zu stellen und deren Umsetzung zu evaluieren.

g) Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V dürfen nicht als
Sachleistungsbeträge über das SGB XI mitfinanziert werden. Der Anspruch
auf verrichtungsbezogene, krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen (medizi-
nische Behandlungspflege) nach § 37 SGB V wird vollumfänglich als Leis-
tung der gesetzlichen Krankenversicherung gewährt. Das gilt auch in statio-
nären Einrichtungen der Behindertenhilfe.

h) Bisherige Leistungen der Eingliederungshilfe dürfen nicht unter Berufung auf
den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in Pflegeleistungen umgewandelt wer-
den. Pflegebedürftigen Menschen mit Behinderungen dürfen Leistungen der
Eingliederungshilfe nicht unter Verweis auf vorliegende Pflegebedürftigkeit
verwehrt werden;

2. um die öffentliche Steuerungshoheit für eine flächendeckende und bedarfsge-
rechte Pflegeversorgung zurückzugewinnen und Eckpunkte für eine verbindliche
Pflegebedarfsplanung zu entwickeln und umzusetzen.
a) Der Bedarf an ambulanten und stationären Pflegeleistungen ist wissenschaft-

lich fundiert und unter Berücksichtigung von unbezahlter Pflegearbeit zu er-
mitteln. Bei erwiesenen Lücken in der professionellen Pflege sind aus Mitteln
der Pflegekassen auch Maßnahmen der Versorgungssteuerung zu entwickeln
und anzuwenden. Infrage kommen etwa Niederlassungsanreize, Vergütungs-
regelungen und Fortbildungen.

b) Der Landespflegeausschuss nach § 8a SGB XI wird zusammen mit dem Ge-
meinsamen Landesgremium nach § 90a SGB V unter breiter Einbeziehung
von Leistungserbringerinnen und -erbringern der Pflege, der Pflegekassen so-
wie der Kommunen so weiterentwickelt, dass er den Sicherstellungsauftrag
für eine bedarfsgerechte und flächendeckende Pflege übernehmen kann. Ver-
treterinnen und Vertreter zu pflegender Menschen und bürgerschaftlich enga-
gierte Unterstützer werden verbindlich beteiligt. Der Sicherstellungsauftrag
beinhaltet auch Standards der Qualitätssicherung und zur Personalausstat-
tung, sowohl stationär als auch ambulant, sowie Maßnahmen für Prävention
und Rehabilitation.

c) Der Qualitätsausschuss nach § 113b SGB XI wird so ausgestaltet, dass er bun-
deseinheitliche und verbindliche Richtlinien für die Sicherstellung der Pfle-
geversorgung erarbeiten kann. Dabei erhalten Vertreterinnen und Vertreter

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/8725

der Menschen mit Pflegebedarf ein Mitbestimmungsrecht mindestens über
ein Benennungsrecht für ständige unparteiische Ausschussmitglieder.

d) Die Bundesregierung beruft ein Expertengremium für Best-practice-Empfeh-
lungen, um regionale Gesundheits- und Pflegekonferenzen einzurichten. Die
Gesundheits- und Pflegekonferenzen bringen Vertreterinnen und Vertreter
von Pflege- und Gesundheitsberufen, Kommunen, Patienten- und Behinder-
tenvertretungen sowie weitere Bereiche mit Einfluss auf die öffentliche Ge-
sundheitsförderung zusammen. Neben Versorgungsverbesserungen in der
Pflege können insbesondere Maßnahmen für Prävention und zur Teilhabeent-
wicklung im öffentlichen Raum vereinbart werden. Die Konferenzen erhalten
ein Vorschlagsrecht in den Landespflegeausschüssen. Ihre Vorschläge sind in
die Zulassungsverfahren von Pflegeeinrichtungen nach § 69 SGB XI einzu-
beziehen. Ihre Kompetenzen werden bundeseinheitlich im SGB XI verankert.

e) Die Bundesregierung wirkt aktiv darauf hin, von den Kostenträgern und Leis-
tungserbringern unabhängige Qualitätskontrollen unverzüglich zu verstärken.
Die Heimaufsicht wird personell und finanziell gestärkt und die Heimbeiräte
werden wirksam beteiligt. Bundeseinheitliche Prüfstandards werden auch für
die ambulante Versorgung entwickelt. Unabhängige Beschwerdestellen auf
Bundes- und Landesebene sind mit Befugnissen zum Schutz von Whistleblo-
wern einzurichten und öffentlich zu finanzieren;

3. um die Pflege qualitativ zu verbessern und um Menschen mit Pflegebedarf sowie
die Kommunen nachhaltig zu stärken, ist die finanzielle Ausstattung der Kom-
munen und der Pflegeversicherung solidarisch auszugestalten.
a) Mit der im Pflegestärkungsgesetz II für 2018 vorgeschriebenen Einführung

neuer Qualitätsstandards werden alle pflege- und betreuungsbedingten Leis-
tungen aus den Pflegesätzen durch die Pflegeversicherung in voller Höhe
übernommen. Das gilt auch für die Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem
Siebten Kapitel des SGB XII.

b) Mit der Einführung der Pflegevollversicherung ist zu beginnen. Alle Men-
schen mit Pflegebedarf sollen die Gewissheit haben können, dass sämtliche
im Pflegefall entstehenden Kosten im erforderlichen Maße finanziert werden.
In einem ersten Schritt werden die Eigenanteile der Versicherten an den Pfle-
gesätzen eingefroren und dann stufenweise bis zu ihrer Abschaffung abge-
baut.

c) Um die Pflegevollversicherung zu finanzieren, wird das Nebeneinander von
sozialer und privater Pflegeversicherung beendet und alle Einkommen wer-
den in die solidarische Pflegeversicherung einbezogen. Der Pflege-Bahr wird
abgeschafft. Für die Versicherten ist ein Rückabwicklungsrecht vorzusehen.

d) Mit der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist eine jährliche
regelgebundene Dynamisierung zur Anpassung der Leistungen der Pflegever-
sicherung an die Steigerungen der Pflegekosten, insbesondere für Personal,
Heimentgelte und ambulante Sachleistungen einzuführen. Diese Leistungs-
dynamisierung soll sich zu zwei Dritteln an der allgemeinen Lohnentwick-
lung und zu einem Drittel an der allgemeinen Preisentwicklung orientieren.
Eine erstmalige Anpassung soll zum 1. Januar 2017 erfolgen.

e) Ein steuerfinanziertes Förderprogramm für die Entwicklung einer inklusiven
Sozialraumgestaltung, für alternative gemeinschaftliche Wohnformen, für
haushaltsnahe Unterstützungsleistungen und eine teilhabeorientierte Pflege-
infrastruktur ist aufzulegen.

Berlin, den 8. Juni 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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Begründung

Gute Pflege ist ein Menschenrecht. In der „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ heißt es
in Artikel 4: „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf eine an seinem persönlichen Bedarf
ausgerichtete, gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und Behandlung“. Die UN-Behinder-
tenrechtskonvention gilt auch für Menschen mit Pflegebedarf. Artikel 19 dieser Konvention betont das Recht
von Menschen mit Behinderungen, „mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemein-
schaft zu leben“ (UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 19).
Aus diesen Menschenrechtsverträgen – in der Bundesrepublik Deutschland geltendes Recht – erwächst die
staatliche Verpflichtung, diese Rechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Insbesondere die Gewähr-
leistung einer teilhabeorientierten Pflege muss wieder stärker Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge werden.
Dies ist nur als gemeinschaftliche Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen zu sichern.
Teilhabeorientierte Pflege und Gewinnmaximierung schließen sich aus. Pflege vom Menschen her zu denken
und menschenrechtlich auszugestalten, heißt zuerst, jedem Menschen mit Pflegebedarf die Gewissheit zu geben,
dass alle pflegebedingten Kosten auch finanziert werden. Armut darf nicht von guter Pflege ausschließen. Pflege
darf nicht arm machen. Der Weg dorthin ist die Abkehr von der Teilkostendeckung und der Übergang zu einer
Pflegevollversicherung.
Mit der Pflegevollversicherung gewinnen alle. Menschen mit Pflegebedarf erhalten alle notwendigen Leistun-
gen. Das Angebot steht in hoher Qualität zur Verfügung. Familienangehörige werden entlastet: weniger Leis-
tungen müssen familiär erbracht werden. Gewinnen werden vor allem Frauen – sie stellen die Mehrheit der pfle-
genden Angehörigen und Beschäftigten in der Pflege. Mehr Zeit, Gesundheit und Lebensqualität schaffen Frei-
räume für Teilhabe und Gemeinsamkeit mit dem zu pflegenden Menschen. Angehörige müssen auch finanziell
nicht mehr einspringen. Die Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII kann gänzlich entfallen. Das entlastet neben
den Menschen mit Pflegebedarf und ihren Familien auch die Kommunen.
Öffentliche Strukturen für eine selbstbestimmte und bedarfsgerechte Pflege werden ebenso gebraucht, um die
großen regionalen Unterschiede in der Leistungserbringung abzubauen. Der Verfassungsauftrag, gleichwertige
Lebensverhältnisse nach Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes zu sichern, muss auch in der Pflege – gemein-
sam mit den Strukturen der Selbstverwaltung – erfüllt werden.
Die Pflegereformen der vergangenen Jahre haben ein Grundproblem des deutschen Pflegesystems nicht gelöst.
Der angekündigte Paradigmenwechsel durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs blieb aus.
Leistungsverbesserungen werden im Wesentlichen als Geldleistungen für die häusliche Pflege erbracht, ohne
die Strukturen der Leistungserbringung zu stärken, nach einheitlichen Qualitätsmaßstäben auszurichten und die
Personalausstattung sowie die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die öffentliche Steuerungsfunktion für eine
hochwertige Pflege wurde nicht weiterentwickelt. Häusliche Pflege wird ausgebaut, ohne die professionelle
Leistungserbringung zu sichern und weitere finanzielle Belastungen der Menschen mit Pflegebedarf und ihrer
Familien zu verhindern. Die Sparpolitik der Bundesregierung geht einher mit einer drastischen Reduzierung der
öffentlichen Daseinsvorsorge. In vielen Regionen fehlt eine auf Integration und Inklusion ausgerichtete öffent-
liche Infrastruktur.
Hauptursachen sind die fehlende Finanzierungsgrundlage für eine teilhabeorientierte Pflege und ausbleibende
Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Nur die solidarische Pflegeversicherung (Bürgerinnen- und Bür-
gerversicherung) und die Stärkung der Finanzkraft der Kommunen durch eine steuerliche Umverteilung schaf-
fen die nötigen Gestaltungsspielräume für ein würdevolles Altern, eine bedarfsgerechte Pflege und die Teilhabe
aller Menschen am Leben in der Gemeinschaft.

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