BT-Drucksache 18/7368

Jahreswohlstandsbericht einführen

Vom 27. Januar 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7368
18. Wahlperiode 27.01.2016
Antrag
der Abgeordneten Kerstin Andreae, Oliver Krischer, Katharina Dröge, Dieter
Janecek, Peter Meiwald, Dr. Gerhard Schick, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Ekin Deligöz, Katja Dörner, Harald Ebner, Dr. Thomas Gambke, Matthias
Gastel, Kai Gehring, Anja Hajduk, Britta Haßelmann, Sven-Christian Kindler,
Christian Kühn (Tübingen), Markus Kurth, Dr. Tobias Lindner, Beate
Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Brigitte Pothmer, Tabea Rößner, Claudia
Roth (Augsburg), Corinna Rüffer, Elisabeth Scharfenberg, Ulle Schauws,
Kordula Schulz-Asche, Markus Tressel, Dr. Julia Verlinden, Doris Wagner,
Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Jahreswohlstandsbericht einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der wirtschaftliche Erfolg in unserem Land kommt bei vielen Menschen nicht an.
Weder die Einkommen noch die Zukunftschancen sind fair verteilt. Wir wirtschaften
allzu oft auf Kosten von Mensch, Natur und Umwelt. Das schlägt sich aber im klas-
sischen Wohlstandsmaßstab – dem Bruttoinlandsprodukt – nicht nieder. Ein umfas-
sender Wohlstandsbericht, in dem neben ökonomischen auch ökologische, soziale
und gesellschaftliche Entwicklungen anhand messbarer Kriterien dargestellt werden,
hilft dabei, die Debatte über Fehlentwicklungen und politische Handlungserforder-
nisse zu versachlichen und zu intensivieren.
Wissenschaftlich fundierte Daten belegen den Eindruck, dass unser Wirtschaften
nicht nachhaltig ist. So wird seit 2010 der ökologische Fußbadruck in Deutschland
wieder größer. Gemäß Prognosewert für 2015 sind damit alle Fortschritte seit etwa
20 Jahren wieder rückgängig gemacht. Der biologische Fußabdruck liegt deutlich
über der Biokapazität. Deutschland verbraucht also deutlich mehr Naturkapital, als
die ökologischen Grenzen es erlauben. Auch die Artenvielfalt hat seit 2008 noch
einmal deutlich abgenommen. Der Erhalt der Artenvielfalt an Tieren und Pflanzen
ist eine wesentliche Voraussetzung für einen leistungsfähigen Naturhaushalt und bil-
det eine wichtige Lebensgrundlage des Menschen. Die Einkommen sind im letzten
Jahr so ungleich verteilt wie noch nie seit 20 Jahren. Diese Fehlentwicklungen un-
tergraben die langfristigen Grundlagen unseres wirtschaftlichen Erfolges und des ge-
sellschaftlichen Zusammenhalts, werden vom Jahreswirtschaftsbericht der Bundes-
regierung aber bisher ignoriert.
Alle Bundestagsfraktionen diskutierten in der vergangenen Legislaturperiode zwei-
einhalb Jahre lang über ein neues Wohlstandsmaß in der Enquete-Kommission

Drucksache 18/7368 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
„Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“. Ein zentrales Ergebnis dieser Kom-
mission findet sich im Schlussbericht:
„Ausgehend von der Erkenntnis, dass Wohlstand mehr ist als „Materieller Wohl-
stand“ empfiehlt die Enquete-Kommission dem Deutschen Bundestag, ein neues
Wohlstands- und Fortschrittsmaß zu etablieren.“
Dieses Ergebnis wurde von allen Fraktionen beschlossen. Doch die Bundesregierung
fixiert weiterhin zu sehr auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maß für den Wohl-
stand in Deutschland.
Auch durch den von der Bundesregierung eingeleiteten Prozess unter dem Titel „gut
leben in Deutschland“ erhält der Auftrag für einen alternativen Wohlstandsbericht
keine Unterstützung. Im Gegenteil: Dieser Prozess konterkariert bereits bestehende
Konzepte, wie die nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Denn es werden ausschließlich
Indikatoren auf der gesellschaftlichen Mikroebene betrachtet, die auf Zufriedenheit
mit dem privaten und beruflichen Leben sowie das unmittelbare Lebensumfeld fo-
kussieren. Indikatoren zur Betrachtung einer nachhaltigen Entwicklung auf der po-
litischen Makroebene werden dagegen komplett ausgeblendet.
Ein Wohlstandsbericht, der als neues politisches Instrument jedes Jahr im Januar den
Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung ergänzt, ermöglicht eine wissen-
schaftlich fundierte Diskussion der Wirkungen der Regierungsarbeit auch auf die
Bereiche, die im Jahreswirtschaftsbericht – mit der Fokussierung auf die Entwick-
lung des BIP – ausgeblendet werden.
Bei der Konzeption des Berichts ist es wichtig, ihn im Zusammenhang anderer Be-
richterstattungssysteme, wie z. B. zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, zu sehen
und ihn hier schlüssig zu verorten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. zeitgleich mit dem Jahreswirtschaftsbericht ab dem Jahr 2017 einen Jahreswohl-
standsbericht vorzulegen;

2. in seiner Grundstruktur soll der Wohlstandsbericht vier Dimensionen mit je zwei
Kernindikatoren beschreiben. Folgende Dimensionen sollen beschrieben wer-
den:
a. eine ökologische Dimension (Indikatoren zum Verbrauch natürlicher Res-

sourcen und zur Biodiversität),
b. eine soziale Dimension (Indikatoren zur Einkommensverteilung sowie zum

Bildungs- oder Gesundheitsstand),
c. eine ökonomische Dimension (Indikatoren zur Wohlfahrtsentwicklung und

zur ökologischen Modernisierung der Wirtschaft),
d. eine gesellschaftliche Dimension (Indikatoren zur Lebenszufriedenheit und

zur Good Governance).

Berlin, den 26. Januar 2016

Katrin-Göring Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7368
Begründung

Jahreswirtschaftsberichte sind traditionell eine der wichtigsten Veröffentlichungen im Jahr, um die eigene Sicht-
weise und die Verortung des erreichten Standes darzulegen: Dies spiegelt die Interpretation der Geschehnisse
wider als auch die Projektionen der Entwicklungen im nächsten Jahr sowie die angekündigten politischen Pro-
gramme, Maßnahmen und Vorschläge.
Der Jahreswirtschaftsbericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie ist einer der Anlässe, sich mit
dem traditionellen Denkmodell des Wirtschaftens auseinanderzusetzen. Ein neu eingeführter Jahreswohlstands-
bericht soll den Wirtschaftsbericht relativieren und vor allem weiterführen. Es geht um ein anderes Verständnis
des Zusammenhangs von Wirtschaftswachstum und Lebensqualität – eine Differenz, die nur durch eine fundierte
Berichterstattung in einen konstruktiven gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess überführt werden soll.
Die Kritik von wissenschaftlicher Seite am Stellenwert des Bruttoinlandsprodukts als zentrale Kennziffer in Wirt-
schaft und Politik ist umfassend. Der Abbau von Ressourcen und der Verbrauch von Naturkapital sind im BIP
nicht berücksichtigt. Während auf Unternehmensebene der Rückgang beispielsweise von eigenen Bodenschätzen
den Gewinnen gegenübergestellt wird und Abschreibungen erfolgen, nehmen die Volkswirtschaftlichen Gesamt-
rechnungen dies nicht vor. Umweltschäden können mit Reparaturmaßnahmen teilweise beseitigt oder abgemildert
werden. Diese Kosten erscheinen dann im BIP als Steigerung, obwohl sie im Grunde nur den Status quo wieder-
herstellen, der vor der Umweltschädigung existierte. Dagegen kann die Vermeidung von Schäden und Folgekos-
ten in der Zukunft, etwa durch Unterlassen bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten heute, zu einer Verringerung
des BIP führen. Die langfristigen positiven Folgen derartiger Unterlassungen werden in der herkömmlichen
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht abgebildet. Die Verteilung der Einkommen werden im BIP nicht
beachtet; einem bestimmten BIP sieht man nicht an, ob es der Bevölkerung in etwa gleicher Weise zur Verfügung
steht oder ob etwa Zuwächse nur einem sehr kleinen Teil an Kapitaleignern zu Gute kommen. Wenn das BIP als
Wohlfahrtsmaß verwendet wird, steht dies im Grunde sogar im Widerspruch zur klassischen Wohlfahrtsökono-
mie, denn der Wohlfahrtszuwachs eines Euro ist in der Regel für jemanden mit geringem Einkommen deutlich
größer, als für jemanden mit beträchtlich höherem Einkommen.
Das BIP signalisiert aufgrund seiner „sozialen Gleichgültigkeit“ einerseits und seiner „Naturvergessenheit“ ande-
rerseits einen Wohlstand, der sich im Lichte einer Orientierung an gesamtgesellschaftlichem Wohlstand zuneh-
mend als illusionär erweist. Denn in der Regel wird ignoriert, dass das wirtschaftliche Wachstum sich massiv auf
Vorleistungen aus dem sozialen System sowie dem ökologischen System stützt.
Diese umfassende Kritik bewog die fraktionsübergreifende Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Le-
bensqualität“ des Deutschen Bundestages, bereits im Einsetzungsbeschluss ein explizites Ziel in der Entwicklung
eines gegenüber dem BIP weiterreichenden Indikatorsets zu beschließen. Der Jahreswohlstandsbericht stellt vor
diesem Hintergrund eine Initiative dar, durch die nachträglich auch das ursprüngliche Anliegen der Enquete-
Kommission fortgeführt und präzisiert werden kann.
Begründung der gewählten Struktur:
Ausgangspunkt ist die These, dass das traditionelle wachstumszentrierte Modell gesellschaftliche Wohlfahrt teil-
weise untergräbt und somit faktisch einen illusionären Wohlstand signalisiert. Wesentliche Komponenten für ge-
sellschaftliche Wohlfahrt werden in den Bilanzierungen ignoriert, insbesondere die Entwicklung von Human- und
Sozialkapital sowie Naturkapital. Die Gesamtheit gesellschaftlichen Wohlstands kann nur dann sinnvoll beschrie-
ben werden, wenn man die Dimensionen und Teilbereiche betrachtet, aus denen sich diese Gesamtheit zusam-
mensetzt. Hier sind verschiedene Perspektiven möglich, die diese Teilbereiche in einen theoretisch fundierten
Gesamtzusammenhang stellen:

(1) Ein engeres Konzept geht vom Kapitalbegriff aus, erweitert diesen jedoch deutlich.
Als Grundlage für den gesellschaftlichen Wohlstand wird in der Regel das verfügbare produktive Kapital ein-
schließlich des verfügbaren finanziellen Kapitals einer Volkswirtschaft gesehen. Zwar ist anerkannt, dass Fakto-
ren wie eine gute Bildung, berufliche Flexibilität, soziale Sicherheit und Motivation unerlässlich für die Wirtschaft
und für den Arbeitsmarkt sind, jedoch wird das hier eigentlich angesprochene Potenzial an persönlichen Fähig-
keiten und sozialer Stabilität selbst nicht als Teil gesellschaftlichen Wohlstands gesehen. In einem Wohlstands-
konzept sind dies jedoch gleichfalls „Assets“, im Sinne persönlicher wie sozialer Faktoren und Potenziale, die
einen wesentlichen Bestandteil des materiellen und auch immateriellen Wohlstands ausmachen.

Drucksache 18/7368 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Gleiches gilt für die Qualität von Ökosystemen, die von relativ naturnahen Schutzgebieten über stark genutzte
Agrarökosysteme bis hin zu urbanen Ökosystemen reichen. Außer, dass diese sicherlich auch einen „Wert an
sich“ darstellen und nicht a priori unter utilitaristischem Blickwinkel betrachtet werden dürfen, sind relativ intakte
Ökosysteme Voraussetzung für die „Ecosystemservices“, also Funktionen, welche diese Systeme für den Men-
schen erfüllen.
Berücksichtigt man diese grundlegenden „Kapitalbereiche“ in einem Jahreswohlstandsbericht konzeptionell, so
kann wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum immer nur vor dem Hintergrund einer Erhal-
tung und möglichst sogar Förderung von Human-, Sozial- und Naturkapital verstanden werden. Es geht sinnvol-
lerweise um ein qualitatives Wachstum, bei gleichzeitigem Strukturwandel mit schrumpfenden und florierenden
Sektoren, mit dem Ziel, die ökologischen und sozialen Begleit- und Folgekosten zu senken sowie insgesamt die
gesellschaftliche Wohlfahrt zu erhöhen.

(2) Erweiterung um den Bereich „Institutionen“
Über die grundlegenden Kapitalvarianten hinaus soll in einem Jahreswohlstandsbericht auch der „Reichtum“ einer
Gesellschaft angesprochen werden, welcher sich auf ein funktionierendes Staatswesen, rechtlich verankerte de-
mokratische Prozesse und andere institutionelle Errungenschaften stützt, wie die Gewährleistung gesellschaftli-
cher Teilhabe und Partizipation.
Ein Stichwort ist in diesem Zusammenhang das „intangible Kapital“, dem beispielsweise die Weltbank in ihren
Länderstudien eine große Bedeutung beimisst; dort wird sogar häufiger konstatiert, dass diese Form des Wohl-
stands letztlich ausschlaggebender ist als der natürliche Reichtum bzw. die natürlichen Ressourcen eines Landes
oder das Bildungsniveau und andere Handlungskapazitäten, welche jedoch ohne demokratischen Rahmen eher in
Korruption, Elitenbildung und soziale Ungleichheit münden würden. Es erscheint durchaus zielführend, dieses
Total-Wealth-Konzept (Weltbank 2011) als eine Grundlage für die konzeptionelle Ausarbeitung des Jahreswohl-
standsberichtes zu nutzen.

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