BT-Drucksache 17/9951

Visapolitik liberalisieren

Vom 13. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9951
17. Wahlperiode 13. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Memet Kilic, Viola von
Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Katja Keul,
Ingrid Hönlinger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Tom Koenigs,
Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour, Lisa Paus,
Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Visapolitik liberalisieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Austausch und persönliche Kontakte ermöglichen die Verbreitung europäi-
scher Werte und das Kennenlernen demokratischer Teilhabe. Eine Libera-
lisierung der europäischen und deutschen Visapolitik ist daher ein entschei-
dender Schlüssel zu Reformanstößen und gesellschaftlichem Wandel. Sie
hilft beim Aufbau von zivilgesellschaftlichen Reformbewegungen und unter-
stützt darüber hinaus auf vielfältige Weise Transformations- und Demokrati-
sierungsprozesse. Für die von einer Visaliberalisierung betroffenen Men-
schen werden die Vorteile einer Annäherung an die Europäische Union
konkret erfahrbar und gleichzeitig wird die Attraktivität der Wirtschafts-
standorte EU und Deutschland gesteigert.

2. Die Visapolitik der Europäischen Union wie der Bundesrepublik Deutsch-
land erschwert und behindert den wirtschaftlichen, zivilgesellschaftlichen,
wissenschaftlichen und familiären Austausch mit zahlreichen Ländern der
Welt. Bedenkliche Folgen hat dies insbesondere für die Staaten der Östlichen
Partnerschaft (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien,
Ukraine), Russland und Kosovo, weil gerade in diesen Staaten das Bild einer
offenen Gesellschaft mit Leben gefüllt werden muss, um den dortigen
Transformationsprozess zu beschleunigen und die freiheitlich denkenden
Menschen zu unterstützen. Gerade das Beispiel Belarus, wo die menschen-
rechtliche Lage seit Jahren dramatisch ist und die Möglichkeiten zum grenz-
überschreitenden Austausch mit europäischen Nachbarstaaten seit der Ost-
erweiterung des Schengen-Raumes im Jahr 2007 drastisch zurückgegangen
sind, zeigt die Notwendigkeit einer Visaliberalisierung. Dabei ist es im
Interesse deutscher und europäischer Politik, dass nicht nur Geschäftsleuten,

Studierenden und anderen Angehörigen bestimmter Personengruppen, son-
dern allen Bürgerinnen und Bürgern aus den genannten Staaten die Reise in
den Schengen-Raum erleichtert wird.

3. Insbesondere ist die Praxis der Visaerteilung für Kurzaufenthalte (z. B. Be-
suchs- und Geschäftsvisa) durch die deutschen Auslandsvertretungen zu
restriktiv.

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Diese genügt
• weder den Anforderungen einer weltoffenen Politik, die auch außen- und

wirtschaftspolitisch insbesondere gegenüber den Menschen aus den Län-
dern der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union, aus Russland
und Kosovo geboten ist, noch

• dem Wertgehalt des Menschenrechtes auf familiäre Beziehungen und dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da Besuche von Familienangehörigen so-
wie Freundinnen und Freunden in Deutschland viel zu weitgehend er-
schwert werden, noch

• den integrationspolitischen Anforderungen, da hier lebende Einwanderer
es kaum als Signal einer „Willkommenskultur“ verstehen können, wenn
ihre Angehörigen sie nicht in dem Land besuchen können, in dem sie
leben.

4. Die großzügigere Erteilungspraxis anderer EU-Mitgliedstaaten belegt, dass
die Auslegung der europäischen Bestimmungen (Visakodex – VK –, Hand-
buch für die Bearbeitung von Visumanträgen) durch das deutsche Auswärtige
Amt eine wesentliche Ursache der restriktiven Praxis ist. Ursächlich für die
kritisierte Praxis sind jedoch auch die zu restriktiven oder zumindest unkla-
ren europäischen Regelungen als solche.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. vorhandene Spielräume im Rahmen des geltenden Rechtes – gegebenenfalls
auch im Zusammenwirken mit den Auslandsvertretungen anderer Mitglied-
staaten und unter Anlehnung an deren großzügigere Praxis – zu Gunsten
einer freizügigen, weltoffenen und humanitären Visapraxis zu nutzen und
insbesondere in den folgenden Konstellationen anders zu verfahren:
• vermehrte Reduktion von Gebühren im Einzelfall (vgl. Artikel 16 Ab-

satz 6 des Visakodex),
• vermehrte Erteilung von Dauervisa zur Mehrfacheinreise (vgl. Artikel 24

des Visakodex), insbesondere für Familienangehörige,
• kein schematisches Anwenden des Versagungsgrundes „fehlende Rück-

kehrbereitschaft“ schon bei ganz entfernten Zweifeln an dieser Vorausset-
zung,

• bessere personelle, finanzielle und technische Ausstattung der Vertretun-
gen vor Ort,

• Abbau bürokratischer Hindernisse für eine effiziente Antragstellung, in-
dem unter anderem auf die persönliche Vorsprache bei Antragstellungen,
die Vorlage der Originaldokumente sowie auf die Vorlage einer schrift-
lichen Einladung aus dem gewünschten Reiseland verzichtet wird,

• auch jenseits der Kurzfrist-Visa keine Nötigung von Antragstellern zum
Vergleich im gerichtlichen Verfahren, bei denen diese gegen Erteilung des
Visums Kosten des Verfahrens übernehmen müssen;

2. den Bundestag bei der Verfolgung seines im Folgenden (Abschnitt III) darge-
stellten Anliegens gegenüber der Kommission und auch im Rat nachhaltig zu
unterstützen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Europäische Kommission auf, Schritte
zu einer Liberalisierung der Visaverfahren insbesondere in den im Folgenden
genannten Bereichen vorzuschlagen:

1. Generell ist das Bestehen der Visumpflicht für unterschiedliche Staaten zu
überprüfen. Bei den Staaten der Östlichen Partnerschaft, Russland und

Kosovo ist eine zügige Aufhebung der Visumpflicht anzustreben.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9951

2. Vor dem Hintergrund des seit 1963 bestehenden Assoziationsabkommens
und den damit verbundenen langen und intensiven Beziehungen zwischen
der EU und der Türkei lässt sich die bestehende Visumpflicht für türkische
Staatsangehörige während eines Kurzaufenthaltes nicht rechtfertigen. Eine
Aufhebung der Visumpflicht für die Türkei ist dabei auch deshalb geboten,
weil türkische Staatsangehörige bei Einreisen nach Deutschland (und in eine
Reihe von anderen Mitgliedstaaten der Union) im Rahmen der passiven
Dienstleistungsfreiheit ohnehin kein Visum benötigen.

3. Eine generelle Absenkung der abschreckenden Visagebühren ist anzustreben.
Zumindest für besondere Personengruppen (entsprechend der durch die Ab-
kommen der Union mit Drittstaaten über die Erleichterung der Ausstellung
von Visa begünstigten Personengruppen) ist diese zügig umzusetzen. Jeden-
falls Staaten, die von Unionsbürgern für kurzfristige Aufenthalte nicht die
Einhaltung eines Visumverfahrens verlangen, kann dabei der Grundsatz der
Gegenseitigkeit ersichtlich nicht entgegengehalten werden. Keinesfalls kann
es angemessen sein, eine höhere Visumgebühr zu verlangen, weil Private öf-
fentliche Aufgaben im Rahmen des Visumverfahrens wahrnehmen.

4. Generell ist es notwendig, Recht und Praxis der Überprüfung der Rückkehr-
bereitschaft zu überarbeiten, denn nicht jeder Zweifel an der Rückkehrbereit-
schaft darf die Versagung eines Visums begründen (siehe Artikel 32 Absatz 1
Buchstabe b des Visakodex: „begründete Zweifel“):
• Insbesondere darf nicht schematisch daraus, dass Antragsteller sich in

wirtschaftlich ungesicherten Verhältnissen befinden, geschlossen werden,
sie wollten illegal einwandern, da andernfalls eine Einreise aus bestimm-
ten Regionen der Welt kaum möglich ist.

• Staatsangehörigen aus Drittstaaten, die Familienangehörige in der Union
besuchen wollen, darf nicht grundsätzlich entgegengehalten werden, es
bestehe die Gefahr, dass sie zu diesen einwandern wollten.

• Bei der Feststellung, welcher Grad von Zweifeln an der Rückkehrbereit-
schaft eine Visumverweigerung begründen kann, ist vielmehr dem Grund-
satz der Verhältnismäßigkeit und den Grundrechten Rechnung zu tragen.

Berlin, den 12. Juni 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Die Chancen einer Visaliberalisierung übertreffen bei weitem die möglichen
Risiken. Zahlreiche europäische Länder haben dies erkannt und ihre Visaver-
gabepraxis deutlich liberalisiert. Auch die Visaliberalisierung für die Länder des
westlichen Balkans stellte für die Europäische Union eine positive Erfahrung
dar. Nach Abschaffung der Visumpflicht in den Jahren 2009 und 2010 blieb der
befürchtete Migrationsansturm aus. Die proeuropäischen und demokratischen
Kräfte in der Region konnten gestärkt werden. Ausgenommen hiervon ist jedoch
Kosovo, mit dem zwar ein Dialog zur Abschaffung der Visumpflicht begonnen
wurde, das jedoch wegen fehlender Anerkennung durch alle Staaten der Euro-
päischen Union immer noch keine Reisefreiheit genießt.

Die Praxis der Erteilung von Visa, insbesondere für kurzfristige Aufenthalte,
durch das Auswärtige Amt war Gegenstand umfangreicher Prüfungen des Aus-

wärtigen Ausschusses (siehe Protokoll der Anhörung 17/46) sowie interfraktio-

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neller Beratungen und Ermittlungen. Der Befund ist dabei eindeutig. Die deut-
sche Praxis ist – gerade was die Länder der Östlichen Partnerschaft, Russland
und Kosovo angeht – deutlich restriktiver als die anderer Mitgliedstaaten, was
unter anderem zu entsprechenden Reaktionen der russischen Seite bei der Be-
handlung deutscher Staatsangehöriger geführt hat.

Die Einrichtung eines Visa-Untersuchungsausschusses, mit dem die CDU/CSU
vor sieben Jahren den grünen Bundesminister des Auswärtigen und die rot-
grüne Bundesregierung ins Abseits manövrieren wollte, indem sie Ängste vor
einem angeblich unkontrollierten Massenansturm aus Osteuropa schürte, hat in
der Visapolitik bis zum heutigen Tag seine Spuren hinterlassen. Im Klartext
bedeutet dies, dass seit 2005 in den konsularischen Behörden das Bundesminis-
terium des Innern gewissermaßen mit am Tisch sitzt. Aus Angst vor Konsequen-
zen und Anwürfen aus dem Bundesministerium des Innern handeln Sachbear-
beiterinnen und Sachbearbeiter des Auswärtigen Amts zu ihrem eigenen Schutz
eher restriktiv als liberal. So hat in jüngster Zeit beispielsweise die Zahl der
durch die deutsche Vertretung in Kiew abgelehnten Visaanträge von Antragstel-
lenden aus der Ukraine deutlich zugenommen. Hiervon betroffen sind selbst die
Visaanträge von Vielreisenden, die zudem deutlich längere Wartezeiten als frü-
her in Kauf nehmen müssen, da der bisherige Sonderschalter, an dem die Perso-
nengruppe der Vielreisenden umgehend bedient wurde, nun auch noch geschlos-
sen wurde. Damit gefährdet die deutsche Praxis der Visaerteilung nicht nur
Beziehungen zu Personen, die einen ganz normalen Austausch mit der Bundes-
republik Deutschland wünschen – Geschäftsleute, Studierende, Künstlerinnen
und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Familienangehö-
rige von Einwanderinnen und Einwanderern –, sondern beschädigt auch die
wirtschaftlichen Interessen Deutschlands (vgl. auch Positionspapier: Wege zur
Visa-Freiheit, Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, Juli 2011) und sein An-
sehen in der Welt.

Das Fallbeispiel Russland zeigt außerdem, dass die Visapolitik der Europäi-
schen Union wie der Bundesrepublik Deutschland keine zusätzliche Sicherheit
garantieren kann, auch wenn diese suggeriert werden soll. Der Ost-Ausschuss
der Deutschen Wirtschaft belegt in seinem Papier „Wege zur Visa-Freiheit“ mit
Hilfe von Daten und Auskünften des Auswärtigen Amts, dass die Bearbeitungs-
zeit für einen Visumantrag circa sechs Minuten beträgt. Jährlich werden von
deutscher Seite rund 350 000 Schengenvisa in Russland ausgestellt. Die Ableh-
nungsquote liegt bei 3 bis 3,5 Prozent (ca. 10 000 Anträge). Ursächlich für die
Ablehnung dürften vor allem formale Gründe, also beispielswiese das Einrei-
chen unvollständiger Unterlagen, und nicht etwa konkrete Hinweise auf krimi-
nelle Aktivitäten des Antragstellers/der Antragstellerin sein. Auch dies geht aus
dem Papier des Ost-Ausschusses hervor. Reguläre EU-Außengrenzkontrollen
und die Nutzung fälschungssicherer Pässe beim Grenzübertritt scheinen folglich
deutlich besser geeignet, um einen Missbrauch der Reisefreiheit zu verhindern.
Bei der Durchführung der Außengrenzkontrollen und Überlegungen zu deren
Weiterentwicklung muss jedoch sichergestellt werden, dass in jedem Einzelfall
eine individuelle Entscheidung über die Einreise unter Berücksichtigung der
Grundrechte einschließlich des Datenschutzes getroffen wird.

Der Befund einer differierenden Visavergabepraxis der Schengen-Staaten ist im
Kern überraschend. Denn es handelt sich eigentlich um einen vollharmonisier-
ten Bereich, in dem – auch nach der Auffassung der Kommission, die sie in der
Vergangenheit geäußert hat – eigentlich wenig Spielraum für nationale Sonder-
wege vorhanden sein sollte. Mit dem bestehenden europäischen Recht (Visa-
kodex) und seinen europäischen Ausführungsbestimmungen (Handbuch für die
Bearbeitung von Visumanträgen vom 19. März 2010) ist es der Kommission
aber offenbar bisher nicht gelungen, eine befriedigende und einheitliche Praxis

zu erreichen. Zugleich ist die Bundesregierung augenscheinlich nicht bereit, das
ihr Obliegende für eine einheitliche und großzügige Praxis zu tun. Zwar wird

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9951

von Seiten der Bundesregierung behauptet, man setze sich auf EU-Ebene für
eine einheitliche Gestaltung der Visaverfahren durch sämtliche Schengen-Staa-
ten ein (Bundestagsdrucksache 17/8823, S. 7, 13). Allerdings ist das Auswärtige
Amt bislang offenbar nicht bereit, vor Ort mit den Vertretungen anderer Schen-
gen-Staaten zu kooperieren und von deren großzügiger Praxis zu lernen. Genau
dies – Zusammenarbeit der Konsulate vor Ort – gebietet aber der Visakodex
(VK; siehe dort Artikel 48). Die deutschen Konsulate sollten mithin vor Ort mit
den Konsulaten der anderen Staaten zusammenarbeiten und deren großzügigere
Praxis übernehmen. Zugleich ist jedoch auch die Kommission aufgefordert, das
europäische Regelwerk zu verbessern, um zu mehr Klarheit und Offenheit zu
kommen. Die Forderungen des vorliegenden Antrags richten sich daher sowohl
auf den Vollzug des geltenden Rechts (durch das Auswärtige Amt) als auch auf
von der Europäischen Kommission zu veranlassende Klarstellungen und Ver-
besserungen in der europäischen Rechtsordnung.

Ein zentraler Punkt, der der Bearbeitung bedarf, ist dabei die Frage, wann Zwei-
fel an der Rückkehrbereitschaft bestehen, die die Erteilung eines Visums behin-
dern. Der Begriff der „begründeten Zweifel“ (Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe b
VK) hat insoweit offenbar keine hinreichende Klarheit gebracht. Klar muss sein,
dass nicht jeder Zweifel eine Visumerteilung ausschließen kann. Denn absolute
Sicherheit kann es auch hier nie geben. Überdies kann es angesichts der sozialen
und wirtschaftlichen Situation in vielen Staaten nicht angehen, die Kriterien an
eine oft geforderte soziale Verankerung zu übersteigern. Ansonsten wäre vielen
jungen Menschen aus vielen Staaten der Welt ein Besuch Deutschlands nicht
möglich. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf die richtige Gewichtung bei der
Auslegung dieses Merkmals, wo es um die Wahrnehmung familiärer Kontakte
geht. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Einer Großmutter, die mehr-
fach unbeanstandet ihre Enkel in Deutschland besucht hat, darf ein Visum nicht
nur deshalb verwehrt werden, weil ihre Kinder im Herkunftsland jetzt gestorben
sind und damit nunmehr das Risiko bestehe, sie wolle bei ihren Enkeln bleiben.
Hier ist vielmehr der Wertgehalt der Grundrechte (Artikel 8 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Artikel 7 der EU-Gundrechte-Charta, Artikel 6 des
Grundgesetzes) zu berücksichtigen. Besonders ist dabei darauf hinzuweisen,
dass gerade im letzten Punkt Klarstellungen auf europäischer Ebene wichtig
sind, da das Bundesverwaltungsgericht (ohne diese Frage dem Europäischen
Gerichtshof vorzulegen und abweichend vom Oberverwaltungsgericht Berlin)
eine Berücksichtigung derartiger Umstände bei der Auslegung des Begriffs „be-
gründeter Zweifel“ nicht für möglich hält, sondern allenfalls die Erteilung eines
nationalen Visums für möglich hält (vgl. BVerwG, 15. November 2011, 1 C 15/
10, Rn. 19 der Jurisfassung). Diesem Ansatz wird die Kommission entgegen-
zutreten haben. Denn es ist nicht denkbar, dass humanitäre und menschenrecht-
liche Aspekte bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des europäi-
schen Rechtes keine Rolle spielen sollen.

Für weitere der Aspekte, die unter Abschnitt II dieses Antrags genannt werden,
kann als Problemindikator auch auf die Abkommen verwiesen werden, die die
Europäische Gemeinschaft mit einigen Staaten der Östlichen Partnerschaft so-
wie Russland über Erleichterungen bei der Ausstellung von Visa geschlossen hat
(vgl. exemplarisch das Abkommen mit Russland; ABl. L vom 17.5.2007,
S. 129/27). Wenn dort z. B. Visagebühren generell reduziert werden, ist dies ein
deutlicher Indikator, dass diese Gebühren allgemein zu hoch liegen. Gerade ge-
genüber Staaten (Anwerbestaaten), zu denen traditionell Bindungen bestehen
und die umgekehrt keine Visumpflicht gegenüber EU-Bürgern praktizieren, ist
eine entsprechende Regelung geboten. Soweit die genannten Abkommen eine
vollständige Befreiung von der Gebühr vorsehen (etwa für Verwandte), wäre
auch aus integrationspolitischen Gründen Gleiches für Staatsangehörige z. B.

der Anwerbestaaten wünschenswert. Bis zur Verankerung einer dahingehenden
Regelung im europäischen Recht muss von der schon jetzt bestehenden Re-

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gelung (Artikel 16 Absatz 5 und 6 VK), Gebühren im Einzelfall zu reduzieren,
Gebrauch gemacht werden. Zum Themenkreis Gebühren ist ergänzend darauf
hinzuweisen, dass es eine Sonderlichkeit des gegenwärtigen Rechtes ist, dass die
Gebühren sich erhöhen, wenn sich der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben Pri-
vater bedient.

Gesondert ist auf eine spezifische und kritikwürdige Praxis des Auswärtigen
Amts in Visaverfahren hinzuweisen, die nicht nur die Erteilung von Kurzfrist-
Visa, sondern auch die Visaerteilung zum Zwecke der Familienzusammenfüh-
rung betrifft. Signalisiert das Verwaltungsgericht im gerichtlichen Verfahren,
dass viel für die Argumente der ein Visum Begehrenden spricht, so erklärt sich
das Auswärtige Amt oft nur dann zu einer kurzfristigen und gütlichen Beendi-
gung des Verfahrens bereit, wenn die Antragsteller die Kosten des Verfahrens
übernehmen. Da die Betroffenen ein nachhaltiges Interesse an einer kurzfris-
tigen Erteilung haben und es bis zu einem gerichtlichen Urteil immer eine län-
gere Zeit dauert, nutzt das Auswärtige Amt insoweit eine Zwangssituation der
Betroffenen in nicht hinnehmbarer Weise aus.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass es für den Bereich der Kurzfristvisa
einen entscheidenden Fortschritt darstellt, wenn Visafreiheit für kurzfristige
Aufenthalte hergestellt wird, da damit die bürokratischen Hemmnisse für
Besuchsaufenthalte vollständig beseitigt sind. Insoweit hat auch die deutsche
Wirtschaft dargelegt, dass viel dafür spricht, Visafreiheit mit den Staaten der
Östlichen Partnerschaft, Russland sowie Kosovo herzustellen. Der vorliegende
Antrag bestärkt die Kommission in ihrer darauf gerichteten Politik und fordert
die Bundesregierung auf, ihre blockierende Haltung aufzugeben. Neben der
Aufhebung der Visumpflicht für die genannten Staaten ist dabei auch eine
europaweite Aufhebung der Visumpflicht für türkische Staatsangehörige anzu-
streben (vgl. im Einzelnen Bundestagsdrucksache 17/3686).

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