BT-Drucksache 17/9146

Europäischen Stabilitätsmechanismus ablehnen, europäisches Investitionsprogramm auflegen

Vom 27. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9146
17. Wahlperiode 27. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Roland Claus,
Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Thomas Lutze, Kornelia
Möller, Wolfgang Neskovic, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilia Seifert,
Kersten Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair und der Fraktion DIE LINKE.

Europäischen Stabilitätsmechanismus ablehnen, europäisches
Investitionsprogramm auflegen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist Teil des sogenannten
Euro-Rettungsschirms und soll ab Mitte 2012 ohne zeitliche Befristung nach
Einschätzung seiner Konstrukteure die Stabilität des Euro-Raums sichern
und Staatspleiten von Euro-Ländern abwenden helfen. Die im Juni 2010 zeit-
lich befristet gegründete Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)
soll ein Jahr parallel zum ESM betrieben werden. Der ESM soll insgesamt
über ein Kapital von 700 Mrd. Euro verfügen können, davon soll Deutsch-
land 22 Mrd. Euro Bareinlagen und 168 Mrd. Euro abrufbares Kapital tragen.

2. Mit dem ESM-Vertrag wird das Risiko von Staatspleiten und Schuldenschnit-
ten auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler abgewälzt, während sich die
Banken und Besitzer großer Vermögen aus der Verantwortung ziehen. Ent-
gegen den regelmäßigen Versicherungen des Bundesministers der Finanzen,
Dr. Wolfgang Schäuble, wird das maximale Risiko für die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler ständig erhöht. Das wird auch diesmal so sein. Noch bevor
der ESM-Vertrag mit einem Haftungsrisiko für Deutschland von mindestens
bis zu 190 Mrd. Euro verabschiedet wurde, wird durch die aktuelle Diskus-
sion deutlich, dass die nächste Aufstockung der Rettungsfonds bereits fest-
steht. Dann könnte der Gesamtbürgschaftsrahmen allein für den EFSF/ESM
auf knapp 300 Mrd. Euro ansteigen. Diese Summe entspricht fast dem ge-
samten Bundeshaushalt 2012.

3. Der ESM höhlt die ohnehin schon kleiner werdenden Spielräume nationaler
Parlamente und des Europaparlaments weiter aus, politisch zu gestalten und
dem demokratischen Wettstreit, um politische Alternativen ein Gesicht zu ge-

ben. Wenn schon der Deutsche Bundestag zu Recht darum bangt, im Zuge
vermeintlicher Sachzwänge der Krisenbewältigung demokratische Entschei-
dungsbefugnisse zu verlieren, wie sehr muss dies umso mehr für die Parla-
mente Griechenlands, Portugals und der anderen vermeintlichen Krisenländer
gelten. Die Erfahrung der überwältigenden Mehrheit der europäischen Be-
völkerungen ist, dass sie in der Krise nicht gefragt werden. Nationale Par-
lamente werden immer mehr genötigt, gegen den überwiegenden Willen ihrer

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Wählerinnen und Wähler sozial ungerechte und ökonomisch unsinnige Aus-
teritätsprogramme zu beschließen und Steuergelder für als falsch empfun-
dene Rettungsschirme bereitzustellen. Als nachvollziehbare Folge verliert
demokratische Politik dadurch noch mehr an Respekt, Demokratie wird zur
bedeutungslosen Folklore.

4. Der ESM-Vertrag wird mit dem Fiskalvertrag („Vertrag über Stabilität, Ko-
ordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“) ver-
knüpft. Dieser Vertrag verpflichtet zur Einführung nationaler Schuldenbrem-
sen, die die jeweilige, um Konjunktureffekte bereinigte Neuverschuldung auf
0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) begrenzen sollen. ESM-Hilfen
sollen nur Euro-Länder erhalten können, die den Fiskalvertrag ratifiziert ha-
ben und die mit dem Fiskalvertrag verbundenen Regeln befolgen. Die Kom-
mission der Europäischen Union (EU) wird ermächtigt, die Einhaltung der
Regeln zu überwachen. Wenn die Schuldenbremse nicht eingehalten wird,
sollen Strafzahlungen verhängt werden. Im Ergebnis verlieren Euro-Länder
ihre Haushaltssouveränität, Ausgabenkürzungen führen zu verschärftem So-
zialabbau sowie zu Privatisierung öffentlichen Eigentums und öffentlicher
Leistungen.

5. Auch die mit der Gewährung von ESM- und EFSF-„Rettungshilfen“ verbun-
denen Auflagen führen in den betroffenen Ländern zu drastischen Einschnit-
ten bei Löhnen, Renten und öffentlichen Leistungen. Die Auswirkung sol-
cher Auflagen zeigt sich am Beispiel Griechenlands. 2010 ging das
griechische BIP um 4,5 Prozent zurück, 2011 um weitere 6,8 Prozent. Die
Verursacher und Nutznießer der Krise werden geschont, die Bevölkerungs-
mehrheit in Europa haftet mit umfassenden Garantien und bezahlt mit So-
zialabbau. Die Ursachen der Schuldenkrise in Europa – die fehlende Regulie-
rung der Finanzmärkte und die teure Bankenrettung, die unzureichende
Besteuerung von Unternehmen und hohen Vermögen sowie die außenwirt-
schaftlichen Ungleichgewichte in Euro-Raum und EU und das deutsche
Lohndumping – werden nicht beseitigt.

6. Mit Hilfe der ESM- und EFSF-Kredite werden private Gläubiger von Staats-
anleihen durch öffentliche Gläubiger ersetzt, Risiken aus Staatspleiten und
Schuldenschnitten auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler übergewälzt.
ESM und EFSF helfen nicht den Menschen, sondern den Banken. Ihre Ge-
schäfte werden weiterhin staatlich subventioniert. Bei der Europäischen Zen-
tralbank (EZB) können sie sich zu einem Jahreszinssatz von 1 Prozent Geld
leihen und es für einen vervielfachten Zinssatz an Staaten weiterverleihen.
Die Euro-Länder brauchen eine Europäische Bank für öffentliche Anleihen
zur kostengünstigen und finanzmarktunabhängigen Staatsfinanzierung. Eine
Europäische Bank für öffentliche Anleihen könnte sich zinsgünstig bei der
EZB refinanzieren. Die Privatbanken im Zusammenspiel mit den Rating-
Agenturen verlören dadurch die Möglichkeit, Staaten zu erpressen. Der Ban-
kensektor muss auf seine Kernfunktionen Zahlungsverkehr, Ersparnisbil-
dung und Finanzierung zurückgeführt und entsprechend geschrumpft, private
Großbanken vergesellschaftet werden. Behoben werden müssen die Ursa-
chen der Finanzkrise: die fehlende Regulierung der Finanzmärkte und die
teure Bankenrettung, die unzureichende Besteuerung von Unternehmen und
hohen Vermögen sowie die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte im
Euro-Raum und in der EU insgesamt. Nur wenn auf diese Weise umgesteuert
wird, kann die Demokratie geschützt und der Vorrang der Politik gegenüber
den Erpressungsversuchen der Finanzmärkte durchgesetzt werden.

7. Mit Einsatz des Druckmittels Schuldenbremse soll europaweit ein angeb-
licher Sachzwang für Sozialabbau geschaffen werden. Statt Europa in einen

Abwärtsstrudel hinein zu sparen und die Perspektiven insbesondere junger
Menschen zu zerstören, ist eine Richtungsänderung einer auf Außenhandels-

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überschüsse und das Niederkonkurrieren anderer Volkswirtschaften abzie-
lenden Wirtschaftspolitik notwendig. Bestandteile einer sinnvollen Sanie-
rungsstrategie sind gemeinschaftlich getragene Maßnahmen, die eine
ökologisch anspruchsvolle Wirtschaftsstruktur stärken. Ein europäisches In-
vestitionsprogramm nach dem Vorbild des Marshallplans kann dazu beitra-
gen, die Wachstumsschwäche der Krisenländer zu überwinden. Ein solches
Investitionsprogramm sollte sowohl konjunkturfördernde Projekte als auch
längerfristig wirkende Strukturhilfen enthalten. Notwendig sind die Einrich-
tung einer europäischen Ausgleichsunion zur Eindämmung von Leistungs-
bilanzungleichgewichten, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die
wirksame Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Korruption, eine
Deutschland- und EU-weite Vermögensabgabe und eine Millionärssteuer.
Die Umverteilung von oben nach unten ist ein demokratisches Gebot, denn
sie ist notwendige Voraussetzung für eine soziale Grundsicherung und für
annähernd gleiche Chancen und Lebensbedingungen der Bürgerinnen und
Bürger.

8. Aus den genannten Gründen lehnt der Deutsche Bundestag das Gesetz zur
Ratifizierung des ESM-Vertrags ab.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Ratifizierung des ESM-Vertrags nicht weiter zu verfolgen;

2. auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten, deren Regierungen den ESM-Ver-
trag unterzeichnet haben, dafür zu werben, dass ihre Parlamente den Vertrag
nicht ratifizieren;

3. sich für ein sofortiges Ende der krisenverschärfenden Kürzungspolitik, für
eine einmalige EU-weite Vermögensabgabe zur Krisenfinanzierung einzuset-
zen und parallel dazu einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vorsieht, in
Deutschland die Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder einzuführen;

4. unverzüglich Gesetzentwürfe für geeignete Maßnahmen wie einen gesetz-
lichen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde vorzulegen, die die Inlandsnach-
frage erhöhen und Leistungsbilanzungleichgewichte abbauen;

5. sich in der EU einzusetzen für ein Investitionsprogramm nach dem Vorbild
des Marshallplans insbesondere für Südeuropa, das den sozialökologischen
Umbau befördert und vor allem die Jugendarbeitslosigkeit abbauen hilft;

6. sich in der EU dafür einzusetzen, dass die öffentlichen Haushalte der Euro-
zone von den Finanzmärkten abgeschirmt werden, indem eine zu gründende
Europäische Bank für öffentliche Anleihen ohne Umweg über private Ban-
ken und ohne Zinsaufschlag den Staaten Kredit einräumt und sich bei der
EZB refinanziert;

7. sich dafür einzusetzen, die Finanzmärkte streng zu regulieren und einen Ge-
setzentwurf vorzulegen, der eine Vergesellschaftung der Großbanken vor-
sieht und diese Banken auf die Kernfunktionen Zahlungsverkehr, Ersparnis-
bildung und Finanzierung zurückführt;

8. insbesondere in der Gruppe der Euro-Länder auf eine zügige Vereinbarung
zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer hinzuwirken und parallel dazu
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Einführung einer Finanztrans-
aktionssteuer auf alle Wertpapierumsätze, Derivate- und Devisenumsätze in
Deutschland regelt;

9. sich international für ein geordnetes Insolvenzverfahren für überschuldete
Staaten einschließlich der Möglichkeit eines Schuldenschnitts einzusetzen;

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10. sich in der EU einzusetzen für eine gemeinsame europäische Steuerpolitik,
die Steuerhinterziehung und Schattenfinanzplätze wirksam bekämpft sowie
Steuerdumping insbesondere bei Unternehmen und hohen Vermögen ver-
hindert;

11. sich für eine Revision der Grundlagenverträge der EU einzusetzen mit dem
Ziel eines demokratischen, sozialen, ökologischen und friedlichen Europas,
und hierfür einen Konvent einzuberufen, der die politische Zusammenset-
zung sowohl des Europaparlaments wie der nationalen Parlamente ange-
messen widerspiegelt. Über das Ergebnis des Konvents soll die Bevölke-
rung der EU in einem Referendum entscheiden.

Berlin, den 27. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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