BT-Drucksache 17/8868

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksachen 17/5536, 17/7131 - Zur Situation von Roma in der Europäischen Union und in den (potentiellen) EU-Beitrittskandidatenstaaten

Vom 5. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8868
17. Wahlperiode 05. 03. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler,
Katrin Göring-Eckardt, Kai Gehring, Marieluise Beck (Bremen), Agnes Brugger,
Viola von Cramon-Taubadel, Ingrid Hönlinger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja
Keul, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour,
Lisa Paus, Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof
Schmidt, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksachen 17/5536, 17/7131 –

Zur Situation von Roma in der Europäischen Union und in den (potentiellen)
EU-Beitrittskandidatenstaaten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Lebensbedingungen der Roma sind in vielen Ländern Europas nach wie vor
von Diskriminierung, sozialer Benachteiligung und Antiziganismus gezeichnet.
Zum Teil hat sich diese Diskriminierung in den vergangenen Jahren durch Gewalt
gegenüber den Angehörigen dieser Minderheit manifestiert (vgl. Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/7131 –
Vorbemerkung der Bundesregierung).

Sinti und Roma sind in Deutschland von diesen Diskriminierungen nicht aus-
genommen. Nach einer Umfrage des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma
haben 76 Prozent der Sinti und Roma in Deutschland Diskriminierung erfahren,
unter anderem bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule und bei
der Ausbildung. Die am 24. Mai 2011 vorgestellte Studie zur aktuellen Bil-
dungssituation der deutschen Sinti und Roma sowie die Studie des Europäischen
Parlaments „Measures to promote the situation of Roma EU citizens in the
European Union“ weisen deren desolate Lage in Bezug auf Schul- und Ausbil-

dungsabschlüsse nach. Die Bundesregierung vermutet, dass die Einschätzungen
dieser Studien begründet sind (ebd. – Antwort zu Frage 94a).

Um diese und andere Diskriminierungen zu verringern oder zu beseitigen, hat
die Bundesregierung mit der Umsetzung der EU-Vorgaben zur Integration der
Sinti und Roma begonnen. Sie beabsichtigt (wie in den Ratsschlussfolgerungen
des Rates für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz
– EPSCO – vom 19. Mai 2011 gefordert und durch den Europäischen Rat am

Drucksache 17/8868 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

23./24. Juni 2011 gebilligt), eine nationale Roma-Strategie oder integrierte
Pakete mit politischen Maßnahmen auszuarbeiten bzw. ihre vorhandenen Stra-
tegien und Maßnahmenpakete zu aktualisieren (vgl. Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/6698 – Antwort zu
Frage 1). Dazu im Widerspruch stehend sieht die Bundesregierung jedoch
keinen Bedarf für besondere Integrationsmaßnahmen für die in Deutschland le-
benden Sinti und Roma, da diese „sich selbst als gut in die Gesellschaft integriert
sehen“ (ebd. – Antwort zu Frage 3). Die Roma ohne deutsche Staatsangehörig-
keit lässt sie dabei unbeachtet.

Weder zur Zahl der in Deutschland lebenden Sinti und Roma (Bundestagsdruck-
sache 17/7131 – Antwort zu Frage 93) noch zu deren Bildungssituation
(Bundestagsdrucksache 17/6698 – Antwort zu Frage 6), Arbeitsmarktsituation
(ebd. – Antwort zu Frage 7), Gesundheitssituation (ebd. – Antwort zu Frage 8)
und Wohnraumsituation (ebd. – Antwort zu Frage 9) kann die Bundesregierung
Angaben machen. Begründet wird dies nachvollziehbarerweise mit der Tatsache,
dass die ethnische Zugehörigkeit kein statistisches Erhebungskriterium sei. Tat-
sächlich dient dieses Nichtwissen jedoch nur dem Bestreiten der offensichtlichen
Missstände. Öffentlich geförderte Studien zu den genannten Themen könnten
statistische Erhebungen ersetzen und valide Zahlen liefern. Im Bereich des
Bildungswesens wurde der Kultusministerkonferenz (KMK) von der Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ bereits im Mai 2011 die „Studie zur
aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ übergeben, die von der
KMK und der Bundesregierung nun genutzt werden kann.

Die Bundesregierung hat offenbar keine Erkenntnisse zu gegen Sinti und Roma
gerichteter Fremdenfeindlichkeit (Antiziganismus) (vgl. Bundestagsdrucksache
17/7131 – Antwort zu Frage 102). Unklar ist, ob sie davon ausgeht, dass es in
Deutschland keinen Antiziganismus gibt, oder ob sie die Untersuchung anti-
ziganistischer Vorfälle bisher unterlassen hat. Ersteres wäre befremdlich, bei
Letzterem stellte sich die Frage, warum solche Vorfälle nicht untersucht wurden.

Die Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti
und Roma konnte aufgrund von Nachbesserungen sowie der abschließenden
Umgebungsgestaltung noch nicht erfolgen. Die Bundesregierung plant als be-
gleitende Maßnahmen des Denkmals ein Faltblatt und eine Publikation zu Ver-
folgungsschicksalen (ebd. – Antwort zu Frage 108). Dabei darf es nicht blei-
ben. Auf diese Weise wird Deutschland seiner besonderen historischen Verant-
wortung gegenüber den Sinti und Roma nicht gerecht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ihre Ankündigung aus Bundestagsdrucksache 17/6698 umzusetzen und eine
nationale Roma-Strategie auszuarbeiten und dadurch, sowie durch beson-
dere auf Sinti und Roma (deutscher sowie nichtdeutscher Staatsangehörig-
keit) zugeschnittene Integrationsmaßnahmen, die Situation der Sinti und
Roma in Deutschland zu verbessern;

2. im Rahmen dieser Integrationsmaßnahmen gemeinsam mit den Ländern den
Schwerpunkt auf die Verbesserung der Bildungssituation der Sinti und
Roma in Deutschland zu richten, um zu verhindern, dass die soziale Benach-
teiligung vererbt wird und sich über Generationen verfestigt;

3. durch wissenschaftliche Studien valide Zahlen über die in Deutschland le-
benden Sinti und Roma (deutscher sowie nichtdeutscher Staatsangehörig-
keit) und ihre Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Wohnsituation zu
erheben;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8868

4. Erkenntnisse über gegen Sinti und Roma gerichtete Fremdenfeindlichkeit
(Antiziganismus) zu gewinnen und im Rahmen dessen auch zu erforschen,
warum Opfer von Antiziganismus sich bislang nicht an die Antidiskriminie-
rungsstelle des Bundes gewandt haben;

5. die Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten
Sinti und Roma energisch voranzutreiben und durch Maßnahmen zu beglei-
ten, die der besonderen historischen Verantwortung gegenüber den Sinti und
Roma gerecht werden.

Berlin, den 5. März 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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