BT-Drucksache 17/6304

Prävention weiter denken - Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stärken

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6304
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Herbert Behrens, Karin
Binder, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Diana
Golze, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Katrin Kunert, Cornelia
Möhring, Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, Dr. Petra Sitte, Sabine Stüber, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Prävention weiter denken – Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche
Aufgabe stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Deutschland hat 1973 den UN-Sozialpakt ratifiziert, der das Recht jedes Men-
schen auf das für ihn mögliche erreichbare Höchstmaß an Gesundheit fest-
schreibt. Gesundheit bezeichnet das vollständige geistige, soziale und körper-
liche Wohlergehen der Menschen und ist ein wesentlicher Bestandteil des
alltäglichen Lebens. Sie wird nicht allein durch eigenverantwortliches Handeln
erhalten und gefördert, sondern ist auch ganz wesentlich ein Produkt der gesell-
schaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen.

Die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit sind enorm. Perso-
nen mit einer geringeren Bildung, einer niedrigen beruflichen Stellung und/oder
einem geringen Einkommen sterben in der Regel früher. So sind die Lebens-
erwartungen von Personen mit niedrigem Sozialstatus knapp zehn Jahre niedri-
ger als die von Personen mit hohem Sozialstatus. Gleichzeitig leiden Personen
mit niedrigem Sozialstatus häufiger an chronischen Erkrankungen und den da-
mit verbundenen Auswirkungen auf die Lebensqualität. Auch Pflegebedürftig-
keit tritt in der Regel früher ein.

Eine Trendwende ist unter den gegebenen Bedingungen nicht zu erwarten. Ganz
im Gegenteil: Die Schere zwischen Arm und Reich geht sogar weiter auseinan-
der. Die Durchlässigkeit zwischen unterschiedlichen sozioökonomischen Grup-
pen sinkt. Viele Kinder sind stark von Armut betroffen, weil ihre Eltern arm
sind. Bereits die Neugeborenen von sozial benachteiligten Eltern sind leichter
und kränker als die von gutsituierten Eltern. Diese Entwicklung ist äußerst be-
denklich, schließlich werden die Grundlagen für eine gute Gesundheit in den

frühen Lebensjahren gelegt. Die gesundheitliche Lage und der Erwerb von Be-
wältigungsstrategien im Kindesalter haben langfristige Auswirkungen auf die
Gesundheit eines Menschen.

Der größte Teil der sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit erklärt sich
aus der sozialen Position selbst und generellen Einflussfaktoren wie unter-
schiedliche Arbeits- und Wohnbedingungen und nicht zuletzt dem unterschied-
lichen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Individuelle Faktoren wie das Ge-

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sundheitsverhalten begründen die Gesundheitsunterschiede nur zum geringeren
Teil. Zudem wird das individuelle Gesundheitsverhalten – ob Menschen sich
bspw. gesund ernähren oder nicht – stark von der sozialen Position beeinflusst.
Bildung, das Einkommen und die berufliche Position gelten daher als zentrale
Einflussfaktoren auf die Gesundheit. Entscheidend ist, die soziale Ungleichheit
direkt anzugehen und Gesundheit in allen Politikfeldern zu berücksichtigen. Da-
bei sind die horizontalen Ungleichheiten, wie Geschlechtszugehörigkeit, Alter,
Behinderungen oder ein Migrationshintergrund, zu berücksichtigen.

Die Verbesserung der Gesundheit muss Aufgabe aller Politikbereiche sein und
vor allem in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Sozial-, Bil-
dungs-, Sport-, Umwelt-, Verkehrs-, Verbraucherschutz-, Ernährungs-, Woh-
nungs- und Gesundheitspolitik umgesetzt werden. Beispielsweise ist das
Gesundheitssystem in Deutschland bislang zu einseitig auf die Behandlung von
akuten und chronischen Krankheiten ausgerichtet. Dagegen wird weder das Ent-
stehen von chronischen Krankheiten ausreichend verhindert noch das Wohl-
befinden und die Gesundheit adäquat gefördert. Das Gesundheitssystem kann
Vorreiter und Initiator sein, den sozial bedingten Ungleichheiten entgegenzuwir-
ken. Ein Paradigmenwechsel ist längst überfällig.

Gesundheit ist mehr als das Fehlen von Krankheit. Die Gesundheit der Men-
schen wird maßgeblich durch ihre Ressourcen und ihre Belastungen bestimmt.
Gesundheitsförderung nimmt krankheitsunabhängig die Ressourcen in den
Blick und nicht direkt die Verminderung von Krankheiten, Pflegebedürftigkeit
oder die Gesundheitsbelastungen. Teilhabe am Leben, gute Bildung, gute
Arbeitsbedingungen und stabile Beziehungen führen zu Ressourcen, die es
Menschen ermöglichen, gesund zu bleiben.

Die bisher hauptsächlich angewendete Prävention (nichtmedizinische Primär-
prävention) mündet zumeist im Versuch von Verhaltensänderungen durch Infor-
mationskampagnen. Sie blendet die gesellschaftliche Realität und Verantwor-
tung sowie die individuelle Situation der Menschen aus. Diese Form der
Prävention ist daher nicht nur zumeist unwirksam, sondern vergrößert oft die so-
ziale Schere in der Gesundheit.

Um vollständiges geistiges, soziales und körperliches Wohlergehen aller Men-
schen zu fördern, muss über das vorherrschende Präventionsverständnis hinaus
gedacht werden. Die Gesundheitsförderung ist deutlich zu stärken und die nicht-
medizinische Prävention muss in die Gesundheitsförderung eingebettet werden.
Dafür sind Anforderungen gemeinsam mit den Menschen so zu gestalten, dass
diese sie nicht überfordern, und die Verhältnisse sind unter Beteiligung der Be-
troffenen so zu gestalten, dass sie nicht gesundheitsschädlich sind. Ebenso sind
die meisten Aspekte des Lebens wie z. B. eine bestimmte Ernährung oder Sport
zumeist nicht per se gesundheitsförderlich oder gesundheitsschädlich. Sie wer-
den gesundheitsförderlich erst durch einen selbstbewussten, individuellen Um-
gang der Menschen. Ausreichende Ressourcen wie Körperbewusstsein oder
Selbstbestimmung sind dafür wesentlich. Daher reichen Angebote oder Infor-
mationen nicht aus. Wenn Ernährung und Sport zur Förderung der Gesundheit
beitragen sollen, sind sie in moderne Ansätze zur Gesundheitsförderung einzu-
binden.

Erfolgreiche Gesundheitsförderung setzt in den Lebenswelten (Settings) der
Menschen – Kindertagesstätten, Schulen, Arbeitswelt, Stadt- oder Ortsteilen –
an. Dort muss der größte Teil der Gesundheitsförderung stattfinden. Gefragt sind
Ansätze, die Menschen in den Lebenswelten erreichen, sie ernst nehmen und
fördern. Darüber hinaus sind die Lebenswelten selbst gesundheitsförderlich zu
gestalten. Beispiele dafür könnten ein kostenfreies Mittagessen in Schulen oder
die bewegungsfreundliche Ausgestaltung des Stadtteils sein. Die Menschen

müssen an der Planung, Gestaltung und Umsetzung aktiv beteiligt werden.
Partizipation ist die Schlüsselgröße von Gesundheitsförderung. Die Forschung

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zur Gesundheitsförderung – insbesondere zur sozialen Ungleichheit und Ge-
sundheit – ist zu intensivieren und finanziell abzusichern. Ebenso ist die Eva-
luation von Projekten voranzutreiben; zentrales Kriterium muss ihr Beitrag zur
Verringerung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen sein.

Trotzdem kann Gesundheitsförderung die soziale Ungleichheit nicht beheben;
sie kann aber dazu beitragen, die Lebensqualität und die Gesundheit aller Men-
schen zu verbessern. Chronische Erkrankungen, dauerhafte Beeinträchtigungen
und der Eintritt von Pflegebedürftigkeit können verhindert bzw. ihre Eintritts-
wahrscheinlichkeit gesenkt werden. Zudem kann Gesundheitsförderung die
Öffentlichkeit weiter für soziale Ungleichheit und die daraus resultierende Un-
gleichheit sensibilisieren. Dies wäre ein wichtiger Beitrag, da die Problematik
sozialer Ungleichheit und Gesundheit in der politischen Öffentlichkeit nach wie
vor eine untergeordnete Rolle spielt.

Seit den 90er-Jahren gibt es zahlreiche zeitlich begrenzte Modellprojekte, Ini-
tiativen, Programme und Aktionen im Bereich der Gesundheitsförderung und
Prävention. Doch die dort gewonnenen Erkenntnisse werden nicht zusammen-
geführt, weiterentwickelt und in die Fläche getragen. Um die Gesundheit und
das Wohlbefinden der Bevölkerung entscheidend zu befördern sowie gesund-
heitliche Chancengleichheit herzustellen, muss ein angemessener gesetzlicher
Rahmen für Gesundheitsförderung geschaffen werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. schnellstmöglich den Entwurf eines Gesetzes zur Gesundheitsförderung und
nichtmedizinischen Primärprävention vorzulegen, der folgende Eckpfeiler
umfasst:

a) eine Ziel- und Umfangsbestimmung von Gesundheitsförderung und Prä-
vention in folgendem Sinne:

● Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention wer-
den als gesamtgesellschaftliche Aufgaben anerkannt und dementspre-
chend ausgestaltet.

● Maßnahmen der Gesundheitsförderung und nichtmedizinischen Pri-
märprävention sollen die Gesundheit der gesamten Bevölkerung
verbessern, aber prioritär dazu beitragen, die sozial-, geschlechts-,
behinderungs- und migrationsbedingte Ungleichheit von Gesund-
heitschancen zu verringern.

● Die Strategien des Gender-Mainstreamings, des Gender-Budgetings
und des Disability-Mainstreamings sind verbindlich in der Gesund-
heitsförderung und Prävention zu verankern.

● Alle Maßnahmen sind an bundeseinheitlichen Gesundheitszielen aus-
zurichten, die für alle an der Gesundheitsförderung Beteiligten ver-
bindlich sind.

● Die nichtmedizinische Primärprävention ist im Fokus der Gesundheits-
förderung vorzunehmen. Mindestens zwei Drittel der Ausgaben müs-
sen in Projekte und Programme mit lebensweltbezogenen Maßnahmen
fließen.

● Für eine wirksame Gesundheitsförderungspolitik ist eine funktions-
fähige, flächendeckende und barrierefreie Infrastruktur zu schaffen, um
vom Aktionismus zur Verstetigung zu kommen. Wissenschaftlich eva-
luierte Modellprojekte, die ihre hohe Wirksamkeit bewiesen haben
(Leuchtturmprojekte), müssen verstetigt und in die Fläche gebracht

werden. Die Aktivitäten sind unter dem Ziel der Verringerung sozial
bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen zu bündeln.

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● Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention müs-
sen sich an der Lebenslaufperspektive ausrichten. Da im Kindes- und
Jugendalter die zentralen Weichenstellungen für die gesundheitliche
Entwicklung im weiteren Lebenslauf gestellt werden, müssen Gesund-
heitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention in den frühen
Lebensphasen, d. h. nicht zuletzt in Bildungseinrichtungen wie Kinder-
tagesstätten und Schulen, einen besonderen Stellenwert erhalten und
unabhängig von Unternehmensinteressen erfolgen.

● Die Evaluation und Qualitätssicherung von Maßnahmen zu Gesund-
heitsförderung und nichtmedizinischer Primärprävention werden ver-
bindlich verankert. Die Befunde werden zentral ausgewertet und die-
nen der Qualitätsverbesserung und Weiterentwicklung künftiger
Maßnahmen;

b) eine Organisationsstruktur:

● Es ist eine Koordinierungs- und Entscheidungsstelle auf Bundesebene
zu schaffen, die organisatorisch an die Bundeszentrale für gesundheit-
liche Aufklärung angebunden wird und über eigene finanzielle Mittel
im Rahmen eines Fonds verfügt. Dem Gremium gehören insbesondere
Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft, der Finanzierungsträ-
ger, der Leistungserbringer im Gesundheits- und Pflegesystem, des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), der kommunalen Spit-
zenverbände, der Gewerkschaften, der Sozialverbände sowie von Pa-
tienten- und Selbsthilfeorganisationen an. Zentral werden so bundesein-
heitliche und verbindliche Gesundheitsziele festgelegt, Empfehlungen
für die Weiterentwicklung der Präventionsforschung gegeben und die
Qualitätsberichte zusammengeführt.

● Es sind Strategien zu entwickeln, wie partizipative Entscheidungs-
strukturen von der Konzeption von Projekten und Programmen der Ge-
sundheitsförderung und nichtmedizinischen Primärprävention bis hin
zur Qualitätssicherung gewährleistet werden können.

● Vorhandene bewährte Strukturen auf Landes- und kommunaler Ebene
sind so weiterzuentwickeln, dass sinnvolle und integrierende Präven-
tionsmaßnahmen verstetigt und damit institutionell anerkannt werden
können. Hierfür ist ein entsprechendes Zusammenwirken von Bund
und Ländern notwendig. Der Grad der Vernetzung ist zu erhöhen.

● Ein Präventionsbericht ist von der Koordinierungs- und Entschei-
dungsstelle auf Bundesebene alle vier Jahre dem Bundestag vorzule-
gen;

c) folgende Prämisse in der Finanzierung:

● Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung muss in der Finanzierung
des Fonds zur Gesundheitsförderung und nichtmedizinischen Primär-
prävention zum Ausdruck kommen. Bund und Länder müssen sich
ebenso wie die Sozialversicherungszweige und die private Kranken-
und Pflegeversicherung beteiligen. Zusätzlich sind zum Start aus dem
Bundeshaushalt in den nächsten vier Jahren jeweils 1 Mrd. Euro in den
Fonds einzuzahlen.

● Von den Gesamtmitteln des Fonds können 75 Prozent von der kommu-
nalen Ebene abgerufen werden. Den Kommunen dürfen keine zusätzli-
chen Kosten auferlegt werden.

● Nach Abschluss der Aufbauphase sind der Finanzierungsbeitrag des
Bundes für die Folgejahre rechtzeitig festzulegen und eine Mindest-

höhe zu verstetigen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6304

● Zu prüfen ist, ob über eine zweckgebundene Abgabe die Industrie-
zweige an der Finanzierung beteiligt werden, die beträchtliche Gesund-
heitsrisiken hervorrufen können;

2. eine umfassende und systematische Forschungsstrategie zur Verbesserung
des Wohlbefindens und der Gesundheit sowie der Verringerung der sozial be-
dingten gesundheitlichen Ungleichheit zu entwickeln. Dazu sind anerkannte,
moderne Public-Health-Strategien wie Lebenswelt-, Empowerment-, Saluto-
genese- und Ressourcenansätze in den Fokus der Forschung zu rücken und
weiterzuentwickeln. Horizontale und vertikale Faktoren sozialer Ungleich-
heit wie Alter, Geschlecht, Migration, Behinderung, Bildung und Einkom-
men sind zentral in der Forschung zu verankern;

3. für das Ziel der gesundheitlichen Chancengleichheit eine gesundheitsförder-
liche Gesamtpolitik zu entwickeln, die darauf zielt, die Ursachen sozialer Un-
gleichheit und Armut zu beseitigen. Gleichzeitig sind Gesetzentwürfe einer
Prüfung zu unterziehen, welche Auswirkungen sie auf die sozial bedingte
Ungleichheit haben („Health-Mainstreaming“).

Berlin, den 29. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Auf dem Gebiet der primären Prävention besteht in Deutschland eine erhebliche
Unterversorgung. Dies hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Ent-
wicklung im Gesundheitswesen bereits in seinen früheren Gutachten konstatiert
und sich in seinem Gutachten von 2007 für die Verabschiedung eines Präven-
tionsgesetzes ausgesprochen. Seines Erachtens sollten Interventionen in der Re-
gel fünf Anforderungen genügen. Sie sollten
1. sich nicht nur darauf konzentrieren, gesundheitliche Belastungen zu senken,

sondern auch gesundheitliche bzw. gesundheitsdienliche Ressourcen stärken,
2. nicht nur krankheitsspezifische, sondern auch unspezifische Belastungen und

Ressourcen beeinflussen,
3. auf eine Veränderung der Lebenswelten in Richtung Gesundheitsförderlich-

keit zielen und
4. die Zielgruppen so umfassend wie möglich von der Konzeption bis zur Qua-

litätssicherung beteiligen,
5. im Falle von komplexen Präventionsprojekten in Lebenswelten sollten auch

„viel versprechende“ Interventionen gefördert werden.

Auf der Grundlage dieser Empfehlungen muss der quantitative und qualitative
Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention erfolgen. Während die Pri-
märprävention Maßnahmen und Strategien bezeichnet, die darauf zielen, be-
stimmte Erkrankungen zu vermeiden bzw. ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu
senken, unterstreicht der Begriff der Gesundheitsförderung ausdrücklich die
Ressourcenstärkung. Gemäß der Ottawa-Charta von 1986 zielt die Gesundheits-
förderung in ihrer Gesamtheit auf die Förderung umfassenden Wohlbefindens
und verdeutlicht damit das Erfordernis einer integrierten Handlungsstrategie.
Angesichts des engen Zusammenhangs von Gesundheit und dem Aspekt sozia-
ler Ungleichheit sind die sozialen Determinanten von Gesundheit in den Blick

zu nehmen.

Drucksache 17/6304 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Bundesregierung setzt in ihren Präventionsansätzen (nichtmedizinische Pri-
märprävention) auf überkommene Vorstellungen von Information und Anreizen
für ein besseres Gesundheitsverhalten. Beispielhaft dafür ist der im Gesund-
heitsforschungsprogramm 2011 angekündigte Aktionsplan zu Prävention und
Ernährungsforschung. Im Kern zielen die Bemühungen der Bundesregierung
darauf, den Menschen nahezubringen, wie wichtig Bewegung und Ernährung
für ihre Gesundheit seien, ohne die Ursachen der unterschiedlichen Ernährungs-
oder Bewegungsgewohnheiten unterschiedlicher sozialer Millieus angemessen
zu berücksichtigen. Solche Programme scheitern, weil sie besonders sozial Be-
nachteiligte nicht erreichen. Die nichtmedizinische Primärprävention ist daher
unter den Gesichtspunkten der Gesundheitsförderung, insbesondere des Lebens-
weltansatzes, durchzuführen und von reinen Informationskampagnen ist abzu-
sehen.

Zudem bekämpft die Bundesregierung nicht die zentralen Ursachen der stark
unterschiedlichen Gesundheitschancen. Ganz im Gegenteil: Die Lohnquote
sinkt seit Jahren. Selbst volle Erwerbstätigkeit schützt nicht mehr vor Armut: So
sind immer mehr Vollzeiterwerbstätige ergänzend zu ihrem Einkommen auf
Arbeitslosengeld II angewiesen. Die Armutsrisikoquote ist in den letzten zehn
Jahren rund um ein Drittel gestiegen (DIW-Berlin-Wochenbericht 7/2010, DIW
= Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e. V.). Betroffen sind vor allem
Kinder, junge Erwachsene und Alleinerziehende. Gleichzeitig findet eine starke
Vermögenskonzentration statt. Die oberen 10 Prozent besitzen fast siebenmal so
viel wie die unteren 50 Prozent der Bevölkerung (Hans-Böckler-Stiftung 2009).
In keinem anderen Industrieland entscheidet die soziale Herkunft so stark über
die Bildungschancen und damit sowohl über die späteren Lebens- und Arbeits-
bedingungen als auch über die Gesundheitschancen wie in Deutschland.

Ein Präventionsgesetz allein kann also die bestehende soziale Chancenungleich-
heit nicht ausgleichen, aber Gegenakzente setzen und dazu beitragen, das Thema
der sozial bedingten Ungleichheit der Gesundheitschancen auf der Agenda zu
halten. Entscheidend ist daher, dass Gesundheitsförderung in allen Politikfel-
dern umgesetzt wird. Ein wesentlicher Ansatzpunkt hierfür ist, alle Gesetzent-
würfe, die Auswirkungen auf die Gesundheit haben könnten, hinsichtlich ihrer
Wirkungen auf die gesundheitliche Ungleichheit zu überprüfen. Ein Präven-
tionsgesetz schafft aber insbesondere die Voraussetzungen dafür, Menschen vor
Ort unmittelbar erreichen und unterstützen zu können. Deshalb müssen die Maß-
nahmen der nichtmedizinischen Primärprävention hauptsächlich in den Lebens-
welten (Settings) der Menschen ansetzen. Settingansätze zielen auf eine Ver-
mehrung der persönlichen Fähigkeiten, auf eine Einbindung und Veränderung
der Lebenswelten (z. B. Schule, Arbeitsplatz etc.) und die umfassende Beteili-
gung der Menschen. Damit die so genannten Setting-Ansätze dauerhaft gestärkt
werden, sind hierfür zwei Drittel der Mittel für die nichtmedizinische Primärprä-
vention vorgesehen.

Im Unterschied zur reinen Verhaltensprävention sind die gesundheitlichen Wir-
kungen anspruchsvoller, komplexer Interventionen wie die Setting-Projekte in
Stadtteilen, Schulen etc. nicht leicht messbar. Vor Aufnahme der Intervention
sollte daher ein konsensfähiges Konzept der Qualitätssicherung vorgelegt wer-
den. Die Informationen und Befunde hinsichtlich ihrer Qualität und Wirksam-
keit sind zentral zusammenzuführen und auszuwerten. Insgesamt ist der Ausbau
der Forschung eine wesentliche Voraussetzung für die notwendige Weiterent-
wicklung der Primärprävention. Ein besonderer Fokus ist auf Vorhaben zu sozial
Benachteiligten zu legen, wie vom Sachverständigenrat in seinem Gutachten
von 2007 empfohlen.

Es ist ein Koordinierungs- und Entscheidungsgremium auf Bundesebene zu

schaffen, damit die für die nichtmedizinische Primärprävention zur Verfügung
gestellten Mittel über ein zentrales Gremium gebündelt und zielgerecht zur Ver-

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fügung gestellt werden können. Zudem ist es ein Gebot des Grundgesetzes, ein-
heitliche Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland zu gestalten.
Die Präventionsziele sollten daher auf Bundesebene entwickelt und verbindlich
festgelegt werden. Die organisatorische Anbindung des Gremiums an die Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ermöglicht eine Vernetzung
mit dem dort betreuten bundesweiten Kooperationsverbund „Gesundheitsförde-
rung bei sozial Benachteiligten“. Das bundesweite Gremium kann auf Ebene der
Länder auf vorhandene Strukturen aufbauen, insbesondere auf die jeweiligen
Landesvereinigungen für Gesundheit und die dort angesiedelten Regionalen
Knoten als Vernetzungs- und Koordinierungsstellen. Dies erfordert gleichzeitig,
dass solche bestehenden integrierenden Strukturen verstetigt und weiter gestärkt
werden. Erfolgreiche Modellprojekte sind in den Regelbetrieb zu überführen.

Gesundheitsförderung und Prävention sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben.
Die öffentlichen Haushalte von Bund und Ländern, alle Sozialversicherungs-
zweige und die private Kranken- und Pflegeversicherung müssen einen spürba-
ren Beitrag leisten. Neben der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen
Pflegeversicherung, der Unfallversicherung und der gesetzlichen Rentenver-
sicherung ist die Arbeitslosenversicherung einzubeziehen. Denn Langzeit-
erwerbslose sind im Durchschnitt einem ungefähr doppelt so hohen Risiko aus-
gesetzt, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, als Menschen, die
berufstätig sind. Es ist zu prüfen, ob über eine zweckgebundene Abgabe die
(Verursacher-)Industrie beteiligt werden kann. Dies wäre nur folgerichtig, wenn
die beträchtlichen gesundheitlichen Risiken, die anerkanntermaßen beispiels-
weise der Alkohol- und Zigarettenkonsum hervorruft, bedacht werden. In die
Prüfung sind innerhalb der Lebensmittelfertigung die Produktreihen einzubezie-
hen, die übergebührlich fett-, salz- und zuckerangereichert sind.

Für einen Paradigmenwechsel sind erhebliche finanzielle Mittel erforderlich.
Deshalb wird der Anteil der Steuermittel auf 1 Mrd. Euro für die nächsten vier
Jahre festgelegt. Nach Abschluss der Aufbauphase ist ein jährlicher Finanzie-
rungsbeitrag des Bundes gefordert, damit Angebote der Gesundheitsförderung
und Prävention auf eine stabile, dauerhafte Grundlage gestellt werden können.
Die Kommunen sollen die Mittel hauptsächlich abrufen. Eine Eigenbeteiligung
der Kommunen würde dazu führen, dass Maßnahmen von der Finanzlage der
Kommunen abhingen. Damit wären besonders ärmere Kommunen von Gesund-
heitsförderung und nichtmedizinischer Primärprävention abgeschnitten. Daher
werden die Kommunen nicht finanziell an den Kosten für Projekte und Pro-
gramme zur Gesundheitsförderung beteiligt.

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