BT-Drucksache 17/5477

Agrarförderung in Deutschland und Europa geschlechtergerecht gestalten

Vom 12. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5477
17. Wahlperiode 12. 04. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Möhring, Dr. Dietmar Bartsch,
Diana Golze, Agnes Alpers, Karin Binder, Matthias W. Birkwald, Steffen Bockhahn,
Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Barbara Höll,
Ulla Jelpke, Katja Kipping, Harald Koch, Katrin Kunert, Caren Lay, Ulla Lötzer,
Kornelia Möller, Petra Pau, Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Sabine Stüber,
Alexander Süßmair, Dr. Axel Troost, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der
Fraktion DIE LINKE.

Agrarförderung in Deutschland und Europa geschlechtergerecht gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Aktive Gleichstellungspolitik für Frauen ist auch in den ländlichen Räumen
keine Frage der Gewährung von Zugeständnissen, sondern die Umsetzung
eines Rechtsanspruchs. Im Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Besei-
tigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) vom 18. Dezember
1979, das in der Bundesrepublik Deutschland am 9. August 1985 in Kraft ge-
treten ist, bestimmt der Artikel 141 einen verbindlichen Handlungsauftrag. Da-
rüber hinaus haben das Grundrecht auf Gleichberechtigung der Geschlechter
und die Verpflichtung zur Durchsetzung dieses Grundrechts Verfassungsrang
(Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes).

In Deutschland und in der EU wird aktuell über die Weiterentwicklung der Ge-
meinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) für die Förderperiode nach 2013
diskutiert. In Zusammenarbeit der europäischen Institutionen (Rat, Parlament
und Kommission) soll bis spätestens Sommer 2012 ein Legislativvorschlag
erarbeitet und verabschiedet werden. Wesentliche Aspekte der Ausgestaltung
zukünftiger Politik in den ländlichen Räumen in Europa werden über die Ge-
staltung der Förderpolitik in den europäischen Agrarfonds bestimmt. Die
Agrar- und Agrarförderpolitik sind damit bestimmende Elemente für die Ge-
staltung der Lebensbedingungen in ländlichen Regionen. Entscheidungen über
die Verwendung von Geldern beeinflussen wesentlich die Lebensverhältnisse
von Frauen und Männern.

Die Handlungsdefizite sind gerade in Bezug auf die Lebensbedingungen von
Frauen in den Dörfern und kleinen Städten bundesweit sehr groß. Immer noch
kehren vor allem junge Frauen den ländlichen Räumen den Rücken zu und
wandern in die städtischen Siedlungsräume ab. Dieser Prozess wurde umfang-

1 Artikel 14:
(1) Die Vertragsstaaten berücksichtigen die besonderen Probleme der Frauen auf dem Lande und die
wichtige Rolle dieser Frauen für das wirtschaftliche Überleben ihrer Familien, einschließlich ihrer
Arbeit in nichtmonetären Wirtschaftsbereichen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um dafür zu
sorgen, dass die Bestimmungen dieses Übereinkommens auch auf Frauen in ländlichen Gebieten An-
wendung finden.

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reich im Nationalatlas des Leibniz-instituts für Länderkunde im November 2010
dokumentiert. Fehlende Einkommens- und Ausbildungsperspektiven sowie
Verschlechterungen der öffentlichen Infrastruktur (z. B. Mobilität, Gesund-
heitsversorgung, Kinderbetreuung, Kultur) gelten als häufige Motivation, abzu-
wandern. Verstärkt wird dieser Effekt durch Lohndiskriminierung, die nach
einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
der Bundesagentur für Arbeit (Herbst 2009) in ländlichen Räumen stärker aus-
fällt als in den Städten. Danach werden Frauen bei gleicher Arbeit um
35 Prozent niedriger entlohnt als Männer.

In den ländlichen Regionen ist die Abwanderung von Frauen zu einem der
Schlüsselfaktoren geworden, die über die Zukunftsfähigkeit der Dörfer und
kleinen Städte entscheiden. In vielen Regionen droht mittel- bis langfristig eine
weitere Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Dauerhaft verlieren die
Gebiete mit starken Ungleichgewichten in der Geschlechterverteilung an
Attraktivität – und sozialem Zusammenhalt. Entwicklungspotentiale bleiben
ungenutzt. Der Bericht „Über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und
im ländlichen Raum“ des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Ent-
wicklung des Europäischen Parlaments vom 31. Januar 2011 (2010/2054(INI))
stellt diese Zusammenhänge aktuell und umfassend dar und setzt deutliche
Alarmsignale.

Die Politik für die ländlichen Räume muss daher den Fokus auf die gezielte
Verbesserung der Lebensverhältnisse für Frauen legen. Dabei geht es nicht da-
rum, junge Menschen an der Abwanderung zu hindern und ihnen damit die
Möglichkeit einer Horizonterweiterung zu nehmen, sondern ihnen in den länd-
lichen Räumen eine Perspektive zum Bleiben oder Zurückkehren zu eröffnen.
Ländliche Räume müssen als vielfältige und integrierte Wirtschafts- und Le-
bensräume gefördert werden, die auf den Sachverstand und die Kompetenz von
Frauen setzen.

Dazu sind den Frauen neue Lebensperspektiven und Erwerbschancen zu eröff-
nen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Qualität und die Zugänglichkeit
von alltagsrelevanten Infrastrukturen wie öffentlicher Nahverkehr, Dienstleis-
tungseinrichtungen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Gesundheitsdiensten (ins-
besondere auch Pflegedienste) sowie Bildungseinrichtungen.

Nach Auffassung der Bundesregierung ist „Die Gemeinsame Agrarpolitik
(GAP) […] generell geschlechtsneutral gehalten“ (Antwort auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 17/2879). Sie wirkt
damit aber nicht geschlechtsneutral, sondern verfestigt die diskriminierenden
Ungleichgewichte zu Gunsten der Männer. Die Agrarpolitik wird überwiegend
technisch-formal gesehen. Geschlechtsspezifische, d. h. Frauen benachteili-
gende Auswirkungen werden so weder wahrgenommen noch korrigiert. Wäh-
rend im Europäischen Sozialfonds (ESF) die Umsetzung von Gender Budge-
ting (geschlechtergerechte Haushaltsführung) breit diskutiert und umgesetzt
wird, bleibt dieser Politikansatz im Agrarbereich trotz formaler Festschreibung
EU-weit überwiegend und in Deutschland nahezu völlig unberücksichtigt.

Die spanische EU-Ratspräsidentschaft hatte im ersten Halbjahr 2010 das
Thema „Frauen und ländliche Räume“ zwar als eines ihrer Schwerpunktthemen
benannt, ist aber über einen begrenzten Sensibilisierungseffekt nicht hinaus-
gekommen (Schlussfolgerungen des Seminars „Frauen in der nachhaltigen Ent-
wicklung des ländlichen Raums“ vom 27. bis 29. April 2010 in Cáceres). Für
die Zukunftsfähigkeit der ländlichen Räume in Deutschland und Europa wird
es geradezu zwingend sein, den Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit stärker in
die Diskussion über eine zukünftige Gemeinsame Agrarpolitik einfließen zu
lassen. Um die Attraktivität in den ländlichen Regionen für Frauen zu steigern,
ist es unabdingbar, die Teilhabe von Frauen an den Entscheidungen und der
Verteilung des Agrarfonds zu stärken. Ihr Anteil an den ausgereichten Mitteln

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aus den Agrarfonds liegt deutlich unter ihrem Anteil in der Bevölkerung. Be-
reits mittelfristig untergräbt diese Benachteiligung die Zukunftsfähigkeit der
peripheren ländlichen Gebiete. Frauen müssen daher umgehend in allen politi-
schen, wirtschaftlichen und sozialen Gremien des Agrarsektors angemessen
vertreten sein, damit ihre Sichtweisen und Bedürfnisse in den Entscheidungs-
prozessen berücksichtigt werden und ihr Grundrecht auf Gleichberechtigung
durchgesetzt wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in der Politik für ländliche Räume und der Agrarpolitik Artikel 14 des CE-
DAW-Abkommens umzusetzen und seine politischen Ziele in der Ressort-
politik konsequent zu berücksichtigen;

2. zu beachten, dass im Rahmen der Erarbeitung und der Nutzung von För-
derprogrammen der ländlichen Räume eine substantielle Gleichstellung
zwischen Frauen und Männern im Sinne des Artikels 8 der Verordnung
über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Eu-
ropäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen
Raums (ELER) verankert wird und dabei über eine rein formelle Gleichbe-
handlung der Geschlechter hinauszuwirken;

3. in Vorbereitung auf die Diskussion des Mitte 2012 zu erwartenden Legis-
lativvorschlags zur nächsten EU-Förderperiode bis Ende 2011 dem Deut-
schen Bundestag einen Bericht „Zum Stand der Gleichstellung in den länd-
lichen Räumen“ vorzulegen;

4. auf der Grundlage des unter Nummer 3 geforderten Berichts ein Aktions-
programm zu erarbeiten und dem Deutschen Bundestag vorzulegen, wie
die Instrumente der Agrarförderung genutzt werden können, um die Pers-
pektiven für Frauen in ländlichen Räumen nachhaltig zu verbessern;

5. einen Gesetzentwurf vorzulegen, in welchem Maßnahmen gegen die Lohn-
diskriminierung von Frauen in ländlichen Räumen und die Einführung
eines gesetzlichen Mindestlohns vorgeschlagen werden;

6. über den Rahmen der formellen Verankerung der Gleichstellung hinaus da-
für Sorge zu tragen, dass Frauen mittel- und langfristig deutlich höhere An-
teile der europäischen Agrarfonds erhalten. Dazu müssen sie in die Ent-
scheidungsprozesse über die Förderpolitik konsequent einbezogen werden;

7. Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Frauen in den landwirtschaft-
lichen Betrieben mehr Verantwortung übertragen wird. Ziel sollte dabei
sein, zum einen Eigentumsanteile der Frauen in den Landwirtschaftsbetrie-
ben zu erhöhen und zum anderen in den größeren Betrieben, die genossen-
schaftlich oder als andere juristische Person organisiert sind, den Anteil in
den Führungspositionen der Betriebe zu steigern;

8. das Thema Geschlechtergerechtigkeit in die Debatte zur Zukunft der Ge-
meinsamen Agrarpolitik (GAP) nach 2013 einzubringen, insbesondere in
die Gestaltung der Förderprogramme für ländliche Räume (ELER-Fonds),
mit dem Ziel, Frauen aktiver in die Programmatik und die Umsetzungs-
strategien des Fonds einzubeziehen;

9. mit der Vorlage eines Gesetzentwurfs im Planungsausschuss für Agrar-
struktur und Küstenschutz (PLANAK) für die Einbeziehung des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zu sor-
gen. Die Vertretung des Bundesministeriums sollte dazu – gleichberechtigt
zu den Bundesländern – Stimmrecht erhalten;

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10. die Bundesländer im Rahmen der PLANAK zu motivieren, Frauen aktiv in
die Programmentwicklung und die Entscheidungen zur Ausgestaltung ein-
zubinden;

11. Initiativen gezielt zu fördern, die die Etablierung und Vernetzung von
Frauenbeiräten in den LEADER-Gruppen ermöglichen und finanziell
absichern. Diese Frauenbeiräte sollten ein eigenes Vorschlagsrecht für die
Gestaltung von Programmen in den ländlichen Regionen erhalten;

12. dafür Sorge zu tragen, dass die Beratungsmöglichkeiten für Frauen zur
Nutzung der Förderung aus den Agrarfonds, insbesondere aus dem ELER-
Fonds, gezielt und auf die besonderen Voraussetzungen und Interessen von
Frauen ausgerichtet verbessert werden;

13. sich für eine konsequente Evaluierung geschlechtsspezifischer Auswirkun-
gen von Förderprogrammen einzusetzen;

14. darauf hinzuwirken, dass die Bewilligung beantragter Fördermaßnahmen
konsequenter an die Berücksichtigung von Gleichstellungsaspekten gebun-
den und überprüft wird;

15. eine Initiative für die Aufnahme eines neuen und für sich gestellten Förder-
bereichs: „Verbesserung der Lebensbedingungen für Frauen in ländlichen
Regionen“ in den nationalen Rahmenplan 2010 bis 2013 und in die Folge-
pläne aufzunehmen;

16. Forschungsprojekte „Frauen in ländlichen Räumen“ in der Ressortfor-
schung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz (BMELV) zu initiieren bzw. zu intensivieren;

17. in der Agrarberichterstattung auf Bundes- und Länderebene dafür zu sor-
gen, dass der Themenbereich „Frauen in ländlichen Räumen“ stärker als
bislang aufgenommen wird;

18. sich auf europäischer Ebene stärker für das Gender-Budgeting der Agrar-
fonds in allen ländlichen Gebieten einzusetzen;

19. dafür zu sorgen, dass gemäß der Forderungen der EU-Kommission eine
aussagekräftige Datengrundlage über die wirtschaftliche und soziale Situa-
tion von Frauen und ihr unternehmerisches Engagement im ländlichen
Raum der Bundesrepublik Deutschland geschaffen wird.

Berlin, den 12. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Eine Vielzahl unterschiedlicher Ansatzpunkte und verschiedener Maßnahmen
sind notwendig, um mehr Geschlechtergerechtigkeit in dem für die ländlichen
Räume wesentlichen Bereich der Agrarpolitik zu erreichen. Sowohl in der Eva-
luierung bislang ausgereichter Fördermittel und beantragter Fördermaßnahmen
als auch in der Forschung und in der Berichterstattung zur Gleichstellung von
Frauen in ländlichen Räumen ist eine Reihe von Defiziten festzustellen.

Mit der Einrichtung der interministeriellen Arbeitsgruppe für die Entwicklung
der ländlichen Räume im Jahr 2008 ist unter dem damaligen Bundesminister
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, die Ver-
antwortung für den Politikbereich „ländlicher Raum“ federführend dem Bundes-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/5477

ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV)
zugeordnet worden. Politische Entscheidungen in diesem Ressort prägen die
Politik für die ländlichen Räume insgesamt und haben Einfluss auch auf we-
sentliche, nicht ressortspezifische Aspekte in den Regionen.

In der Kombination mit der Verbesserung der Position von Frauen bei der Etab-
lierung und Durchsetzung eigener Programme, der Kompetenzausweitung und
Kompetenzstärkung sowie der faktischen Anteilserhöhung an den ausgereich-
ten Mitteln, die derzeit ein Volumen von ca. 60 Mrd. Euro pro Jahr in Europa
umfassen, müssen Verbesserungen der Lebensverhältnisse für Frauen in länd-
lichen Räumen erzielt werden.

Gelingt die Durchsetzung der Geschlechtergerechtigkeit im Sinne einer sub-
stantiellen Gleichstellung für Frauen auf dem Land, ist ein wesentlicher Schritt
getan gegen die oft unfreiwillige Abwanderung insbesondere junger Frauen in
peripheren Regionen. Mehr Geschlechtergerechtigkeit für ländliche Regionen
bedeutet in diesem Sinne eine Orientierung auf eine größere Nachhaltigkeit der
Agrarpolitik.

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