BT-Drucksache 17/3215

Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung

Vom 6. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3215
17. Wahlperiode 06. 10. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder, Roland Claus,
Dr. Rosemarie Hein, Dr. Gesine Lötzsch, Jens Petermann, Ingrid Remmers,
Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke,
Sabine Stüber, Dr. Kirsten Tackmann, Kathrin Vogler, Harald Weinberg
und der Fraktion DIE LINKE.

Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfs-
gerechten gesundheitlichen Versorgung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Gesundheitsversorgung umfasst neben der medizinischen auch die thera-
peutische und pflegerische Behandlung. Die Sicherstellung dieser Versorgung
für alle Menschen ist ein zentrales Anliegen sozialer Gesundheitspolitik. Die
Ermittlung des Bedarfs ist dafür ebenso von entscheidender Bedeutung wie die
Möglichkeit zur Regulierung und längerfristigen Planung einer Gesundheits-
versorgung, die alle erreicht. Um die gesundheitliche Versorgung für alle zu
sichern, sind neben einer wirksamen Bedarfsplanung personelle, räumliche,
sächliche wie finanzielle Voraussetzungen zu erfüllen, beispielsweise die
Garantierung der Barrierefreiheit aller gesundheitlichen Einrichtungen.

Derzeit wird mit dem Begriff „Bedarfsplanung“ vor allem die Sicherung der
vertragsärztlichen Versorgung verbunden, die den Kassenärztlichen Vereini-
gungen obliegt. Die Planung der Krankenhäuser findet unabhängig davon in
Verantwortung der Bundesländer statt. Der Bedarf an Pflege- und sonstigen
Heilberufsleistungen sowie an therapeutischen Leistungen wird derzeit weder
geplant noch werden die Leistungen koordiniert. Damit entstehen Doppelstruk-
turen, Reibungsverluste und Kosten. Ressourcen für eine hochwertige wohnort-
nahe Gesundheitsversorgung bleiben ungenutzt.

Mit der Einführung der bis heute gültigen vertragsärztlichen Bedarfsplanung
Anfang der 90er-Jahre wurde die damalige vertragsärztliche Versorgungs-
situation fest- und fortgeschrieben. Die bis dahin ohne jede Regulierung ge-
wachsenen Strukturen wurden zum Standard erklärt, ohne je den tatsächlichen
Bedarf an ärztlicher Versorgung festgestellt zu haben. Die daraus resultierenden
Bedarfszahlen bilden also nicht den tatsächlichen Bedarf ambulanter ärztlicher
Leistungen ab. Sie sind aber bis heute Grundlage der Bewertung von Über- und
Unterversorgung sowie Neuzulassungen in der ambulanten medizinischen Ver-
sorgung.

Obwohl die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den letzten Jahren stetig gestiegen
ist, wird in medizinischen Einrichtungen und in verschiedenen Regionen ein
Mangel an Ärztinnen und Ärzten beklagt oder für die Zukunft befürchtet. Tat-

Drucksache 17/3215 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

sächlich finden sich zum Teil gravierende Unterschiede in der Versorgung zwi-
schen Stadt und Land, Ost und West, Nord und Süd sowie zwischen ärmeren
und reicheren Regionen.

Die Größe der Planungsbereiche für die vertragsärztliche Versorgung reicht
zum Teil über mehrere politische Landkreise hinaus und orientiert sich nicht an
der tatsächlichen Mobilität der Patientinnen und Patienten. Die durchschnittli-
che Arztdichte in den Planungsbereichen spiegelt die tatsächliche Versorgungs-
situation nicht wider, da die Ärztinnen und Ärzte innerhalb der Bereiche sehr
unterschiedlich verteilt sein können.

Mit den bisherigen rechtlichen Instrumentarien gelingt es nicht, die Arztdichte
effektiv zu regulieren. Gesetzliche Regelungen ermöglichen die „Vererbung“
von Praxissitzen und sogar die Ausweitung der ärztlichen Versorgung in Gebie-
ten mit hoher Arztdichte. Eine ärztliche Überversorgung ist aber zu vermeiden,
da das Angebot sich die Nachfrage schafft. Dadurch werden nicht nur materi-
elle und personelle Ressourcen verschwendet. Unnötige Untersuchungen und
Behandlungen stellen auch eine Gefährdung für die Gesundheit der Patientin-
nen und Patienten dar.

Die ambulante ärztliche Versorgung wird bisher überwiegend von Ärztinnen
und Ärzten in Einzelpraxen erbracht. Auf dem Land bedeutet dies oft: Lebens-
lange Bindungen an einen Ort, Einzelkämpfertum und Dienste rund um die
Uhr. Das entspricht nicht mehr den modernen Berufsvorstellungen. Neben ge-
sicherten Einkommen gewinnen zunehmend plan- und gestaltbare Arbeits-
zeiten, die kulturelle und soziale Infrastruktur der Region für eine Ansiedlung
an Bedeutung. Außerdem verhindert das Festhalten am Prinzip der Einzelpraxis
eine flexible Regulation der medizinischen Angebote.

Ärztinnen und Ärzte müssen momentan einen erheblichen Teil ihrer Zeit auf
Tätigkeiten verwenden, die nicht zwangläufig ein medizinisch-wissenschaft-
liches Studium erfordern. Das betrifft nicht nur organisatorische und Abrech-
nungsfragen, sondern auch Aufgaben in der Betreuung von Patientinnen und
Patienten. Modellversuche haben gezeigt, dass Ärztinnen und Ärzte über an-
dere Berufsgruppen, z. B. Gemeindeschwestern, entlastet werden können, ohne
dass darunter die Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten leidet.

Die Entwicklung der Altersstruktur sowohl der Bevölkerung wie auch der Ärz-
tinnen und Ärzte lassen befürchten, dass in einzelnen ärztlichen Fachgruppen
die flächendeckende ambulante Versorgung zunehmend gefährdet ist. Beson-
ders in dünn besiedelten Gebieten sind die Gesundheitsangebote aufgrund lan-
ger Anfahrtswege und häufig mangelhafter Infrastruktur schlecht zu erreichen.

Die Krankenhausplanung, also die Planung der stationären Betten- und Leis-
tungskapazitäten in Krankenhäusern, soll laut Krankenhausfinanzierungsgesetz
die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhäusern sichern.
Sie ist Aufgabe der Bundesländer und wird von diesen unterschiedlich gehand-
habt. Es findet in der Regel keine Abstimmung mit vergleichbaren fachärztli-
chen ambulanten/teilstationären Leistungen statt. Teilweise ist die Kranken-
hausplanung differenzierter als die vertragsärztliche Bedarfsplanung. So
werden häufig demographische und Morbiditätsdaten einbezogen und es wird
längerfristig vorausschauend gearbeitet. Häufig sind in Krankenhausplänen
Kriterien zur Qualitätssicherung festgelegt und auch die Versorgung mit ärztli-
chen Subspezialisierungen und Spezialindikationen geplant und sichergestellt.

Im Bereich der stationären Pflege gibt es seit 1996 keine Pflegepersonalregelung
mehr. Seitdem ist zwar der Bestand an Pflegekräften bekannt, nicht aber der
Bedarf. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 70 000 Pflegekräfte in den
Krankenhäusern fehlen (Simon, 2008). Bei den Hebammen hat die Bundes-
regierung dargelegt, dass ihr keine Daten zur Versorgungssituation der Bevölke-
rung mit Hebammenhilfe vorliegen (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3215

Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 17/1680).
Der genaue Bedarf an Heilmitteln (z. B. Logopädie, Physiotherapie) ist weder
bekannt noch gibt es irgendwelche Instrumente, um eine wohnortnahe Versor-
gung zu gewährleisten.

Überlegungen, die vertragsärztliche Bedarfsplanung und damit Zulassungs-
beschränkungen abzuschaffen und stattdessen eine völlige vertragsärztliche
Niederlassungsfreiheit einzuführen (Beispiel: Lars Lindemann, FDP, Schütze-
Brief Nr. 43/2010 oder Johannes Singhammer und Max Straubinger, CSU,
FINANCIAL TIMES, 8. April 2010), führen in die falsche Richtung. Mit den
Überlegungen, die Finanzierung der Krankenhäuser allein den Krankenkassen
zu übertragen, wird die Planung der Bundesländer infrage gestellt. Die beiden
Planungsinstrumente gehören nicht abgeschafft oder eingeschränkt. Sie sind
auf neuer Grundlage komplex weiterzuentwickeln.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ein Gesetz vorzu-
legen, das Folgendes gewährleistet:

1. Eine alle Bereiche der gesundheitlichen Versorgung umfassende Bedarfs-
planung erfolgt langfristig vorausschauend und in den drei Phasen Analyse,
Planung und Umsetzung. In allen Phasen werden insbesondere die Morbidi-
tät, die Mobilität, die Handicaps und die Geschlechterverteilung der Ver-
sicherten, die Entwicklung der Altersstruktur von Versicherten sowie von
Leistungserbringerinnen und -erbringern, die regionale Infrastruktur und die
soziale Entwicklung integriert.

2. Die Ermittlung des Bedarfs an gesundheitlicher Versorgung wird auf eine
fundierte, evidente Basis gestellt. Ein Optimum an medizinischer, therapeu-
tischer und pflegerischer Versorgung wird unter Beachtung obiger Kriterien
ermittelt.

3. Die Bedarfsplanung wird kleinräumig organisiert. Insbesondere für die fach-
ärztliche Versorgung werden benachbarte Planungsbereiche integriert. Die
strikte Unterscheidung zwischen den Sektoren – ambulant, stationär und
pflegerisch – bei Planung und Versorgung wird sukzessiv zu Gunsten einer
sektorübergreifenden Bedarfsplanung überwunden. Die Beteiligten vor Ort
werden beispielsweise durch Gesundheitskonferenzen einbezogen. Ärzt-
liche Subspezialisierungen werden zur Sicherung der Versorgung angemes-
sen einbezogen.

4. In dünn besiedelten Regionen wird die Mobilität sowohl von Leistungs-
erbringerinnen und -erbringern als auch von Versicherten erhöht. Dafür wer-
den in Modellversuchen fahrende barrierefreie Praxen erprobt und mittels
eines barrierefreien Shuttle-Services die Erreichbarkeit von ambulanten und
stationären Strukturen gesichert. Der höhere Zeitaufwand in der Versorgung
von ländlichen Gebieten (z. B. Hausbesuche) wird bei der Vergütung stärker
berücksichtigt.

5. Die ärztliche Tätigkeit wird sowohl in der ambulanten als auch der statio-
nären Versorgung von Aufgaben entlastet, die auf andere, bereits existente
oder zu schaffende Berufe flächendeckend übertragen und die ebenso in die
Bedarfsplanung einbezogen werden.

6. Zur Sicherung und Verbesserung der Versorgung werden für alle Gesund-
heitsberufe verstärkt Angestelltenverhältnisse ermöglicht. Dafür werden
poliklinische Strukturen verbessert und ausgebaut. Um ärztliche Unterver-
sorgung bekämpfen zu können, werden Zweigniederlassungen erleichtert
und Ärztinnen und Ärzten beispielsweise eingerichtete Praxen an zentralen
Orten tageweise zur Verfügung gestellt.

Drucksache 17/3215 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

7. Um flexible Anpassungen zu ermöglichen bzw. möglicher Überversorgung
wirksam entgegentreten zu können, werden Automatismen zur Ausweitung
und Zementierung der Menge an ambulant ärztlicher Versorgung aufge-
hoben. Dazu zählen die garantierte „Vererbung“ (vgl. § 103 Absatz 4 des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch – SGB V) von Praxisstandorten sowie die
Ausweitung vertragsärztlicher Angebote durch Praxisteilung (vgl. § 101 Ab-
satz 1 Satz 1 Nummer 4 und Satz 4 SGB V). Der festgestellte Bedarf an
Gesundheitsversorgung (und nicht wie bisher die vorhandenen Versorgungs-
strukturen) bestimmt künftig, wie viel Geld für die Versorgung in die klein-
räumigen Planungsbereiche fließt.

Berlin, den 5. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Wenn in Deutschland derzeit von Unterversorgung die Rede ist, dann wird dar-
unter in der Regel ein Mangel an Ärztinnen und Ärzten verstanden. Von einem
grundsätzlichen Mangel kann aber nicht gesprochen werden. Die Zahl der Ver-
tragsärztinnen und Vertragsärzte ist von 1990 bis 2008 um 36 Prozent auf
knapp 120 500 gestiegen (GGW 3/2006 bzw. KBV Grunddaten 2008/2009). In
den Krankenhäusern ist die Zahl der Ärztinnen und Ärzte zwischen 1991 und
2008 um ca. ein Drittel auf über 128 000 angewachsen (Statistisches Bundes-
amt). Trotzdem wird in Einrichtungen und Regionen Ärztemangel beklagt oder
zukünftig befürchtet. Da der tatsächliche Bedarf an gesundheitlicher Ver-
sorgung bislang unbekannt ist, kann derzeit weder ein Mangel noch eine Über-
versorgung konstatiert werden. Sicher ist nur, dass die Versorgung sehr unter-
schiedlich dicht ist. So reicht der hausärztliche Versorgungsgrad nach den
derzeitigen Bemessungen von 66,9 Prozent bis 166,6 Prozent und zum Beispiel
bei Radiologen von 60,3 Prozent bis 818,3 Prozent (vdek, Stand Januar 2010).

Die bestehenden Regelungen der vertragsärztlichen Bedarfsplanung ermög-
lichen nicht die Regulierung der ambulanten ärztlichen Versorgung anhand des
tatsächlichen Bedarfs. Gleichzeitig werden große Teile der gesundheitlichen Ver-
sorgung nicht erfasst. Um die Unzulänglichkeiten der jetzigen Bedarfsplanung
zu überwinden und die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung sicher-
zustellen, ist ein umfassendes Bündel an Maßnahmen umzusetzen. Die Fokussie-
rung auf ein einzelnes Problem ist ebenso wie das Festhalten am Althergebrach-
ten nicht geeignet, um die bestehenden und zu befürchtenden Versorgungseng-
pässe zu beseitigen.

1. Die riesige Koordinierungsaufgabe der Planung und Deckung des gesund-
heitlichen Bedarfs wird bisher ohne jegliche Steuerungskriterien gelenkt.
Solche Instrumente verfahren nach dem erprobten Schema: Analyse,
Planung, Umsetzung und führen über die Evaluierung der Ergebnisse mit
korrigierter Planung in einen Kreislauf.

Um die gesundheitliche Versorgung sicherzustellen, bietet es sich an, auf
solche Steuerungsinstrumente zurückzugreifen. Daher wird in einem ersten
Schritt eine wissenschaftliche Analyse des Bedarfs an gesundheitlicher Ver-
sorgung benötigt. Danach muss dieser Bedarf möglichst konkret und diffe-
renziert geplant werden. Anschließend erfolgen die Umsetzung der Planung
und damit die Schaffung einer Versorgungsrealität. Kontinuierlich muss die
Erhebung dieser Versorgungswirklichkeit erfolgen und die Wirksamkeit der

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/3215

Maßnahmen eingeschätzt werden. Die Ergebnisse müssen neben den Verän-
derungen des Bedarfs in die erneute Planung einfließen. Nur so kann eine
flexible, permanent angepasste, auf unabhängigen Daten beruhende Versor-
gungssicherung gelingen.

2. Die Forderung nach einer effektiven und wissenschaftlich fundierten Ermitt-
lung des Bedarfs sollte selbstverständlich sein. Dabei darf sich die Ermitt-
lung des Bedarfs nicht allein an der bestehenden Versorgung orientieren,
sondern muss auf den tatsächlichen Bedarf abheben. So gehen die Menschen
in Deutschland europaweit am häufigsten zum Arzt, was nicht bedeutet, dass
sie besonders krank sind. Die Versorgung folgt offensichtlich auch anderen
Gesichtspunkten, z. B. den Verdienstinteressen der Leistungserbringerinnen
und -erbringer.

Deshalb darf nicht allein auf die Daten der Leistungserbringer zurückgegrif-
fen werden, sondern viel mehr auf wissenschaftliche Erhebungen der gesund-
heitlichen Lage der Bevölkerung, auf Gesundheitsberichte, Sozialstatistiken,
Versorgungsforschung etc.

Grundsätzlich darf gesundheitliche Versorgung keine Zugangsbarrieren
beispielweise für Menschen mit Behinderung oder für Migrantinnen und
Migranten aufweisen. Soweit es erforderlich ist, muss dies bereits bei der
Planung berücksichtigt werden.

3. Die Planung sowohl des Bedarfs als auch des Angebots sollte mindestens
zehn Jahre in die Zukunft erfolgen. Der Bedarf einer Region an gesundheit-
licher Versorgung verändert sich ständig. Die Altersstruktur der Bevölkerung
wie der Leistungserbringer sowie sich verändernde Umweltbedingungen und
Sozialstruktur sowie neue Möglichkeiten im Sinne des wissenschaftlichen
Fortschritts müssen dringend einbezogen werden.

Die Forderung nach der Überwindung der Sektorentrennung besteht seit
Langem. Allerdings werden Schritte in diese Richtung nur zögerlich und
halbherzig gegangen.

Die Größe der Planungsbereiche sollte sich an der tatsächlichen Mobilität
der Patientinnen und Patienten bemessen. Viele Akteure im Gesundheits-
system setzen sich daher für eine kleinräumigere Analyse des Bedarfs und
Planung der Versorgung ein. Damit die Wege effektiv sind und insbesondere
größere Unterschiede in der Versorgungsdichte von benachbarten Planungs-
bereichen einbezogen werden, sind diese in der Analyse und Planung zu be-
rücksichtigen. Je kleinteiliger dieser Prozess läuft, umso notwendiger wird
dieser Blickwinkel.

Um das Ziel der sektoren- und bereichsübergreifenden Versorgung zu er-
reichen, gehören im Planungsprozess alle Akteure an einen Tisch, die bishe-
rige Trennung der Planungs- und Zulassungsverfahren in ambulanten und
stationären Bereich muss überwunden und neue Versorgungsformen wie
auch alle Berufsgruppen, die an der Versorgung der Bevölkerung teilneh-
men, einbezogen werden.

Hinter der Planungsgröße „Fachärztlicher Internist bzw. Internistin“ verber-
gen sich zahlreiche Subspezialisierungen, beispielsweise Nierenspezialisten,
Schilddrüsenspezialisten etc. Dadurch kann es in einem Planungsbereich mit
hundertprozentiger Versorgung gleichzeitig zu einer Überversorgung einer
Subspezialisierung und der Unterversorgung einer anderen Subspezialisie-
rung kommen. Die derzeitige Möglichkeit, Sonderbedarfe festzustellen, löst
dieses Problem nicht adäquat.

4. Die Erreichbarkeit gesundheitlicher Leistungen ist von zentraler Bedeutung.
In ländlichen Regionen sind die Wege zum nächsten Arzt oder zur nächsten
Ärztin nicht nur weiter, sondern die Anbindung an den öffentlichen Nahver-

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kehr ist auch deutlich schlechter als in städtischen Regionen. Zudem findet
sich vor allem auf dem Land eine zunehmende Überalterung der Bevölke-
rung, Hausbesuche gewinnen dadurch an Bedeutung, Arztkontakte nehmen
zu. In ländlichen Regionen wird nie eine ärztliche Dichte wie in Städten er-
reicht werden. Umso wichtiger ist es, den dort Lebenden Angebote zu schaf-
fen, wie sie die größeren Distanzen gut überwinden können. Das Modell der
fahrenden und angemessen ausgestatteten Praxen ist zunächst in Pilotprojek-
ten in dünn besiedelten Regionen zu erproben und nach Evaluation und
Erfolg in das Regelangebot zu überführen. Ebenso sind Shuttledienste ein-
zuführen, die Patientinnen und Patienten effizient zur Praxis oder in die
Poliklinik befördern. Die Mobilität darf nicht auf Ärztinnen und Ärzte be-
grenzt sein. Der Erfolg des Modellversuchs der Gemeindeschwester AGnES
ist auch ein Beleg für die Sinnhaftigkeit der Vergrößerung der Mobilität auf
Seiten anderer Leistungserbringerinnen und -erbringer. Sowohl Shuttles wie
auch fahrende Praxen müssen barrierefrei zugänglich sein, um Menschen
mit Behinderung nicht von diesen Angeboten auszuschließen.

5. Verschiedene Modellprojekte haben gezeigt, dass einige ärztliche Tätigkei-
ten ohne Qualitätsverlust auch auf andere Berufsgruppen übertragen werden
können. Ein gelungenes Beispiel dafür ist AGnES, bei der Gemeinde-
schwestern im Auftrag der Ärztinnen und Ärzte Aufgaben vor Ort bei den
Patientinnen und Patienten übernehmen. Neben solcher Delegation ur-
sprünglich ärztlicher Aufgaben, sollten dort, wo dies sinnvoll und möglich
ist, ärztliche Tätigkeiten selbständig von anderen Gesundheitsberufen ver-
richtet werden. Dauerhaft erfordert die Verbesserung und Sicherstellung der
gesundheitlichen Versorgung eine umfassende Neuordnung der Gesund-
heitsberufe.

6. Besonders in ländlichen Gebieten sind zunehmend Bereiche mit deutlich un-
terdurchschnittlicher Arztdichte zu finden. Die Landärztinnen und -ärzte, die
momentan praktizieren, sind überdurchschnittlich alt, viele scheiden in den
nächsten Jahren aus dem Berufsleben aus. So werden bis 2020 über 40 Pro-
zent der Hausärztinnen und Hausärzte im Bundesgebiet altersbedingt aus-
scheiden (Studie zur Altersstruktur und Arztzahlentwicklung, KBV, 2010).
Frei werdende Arztsitze sind nur schwer wieder zu besetzen. Bisherige An-
sätze, Niederlassungen über finanzielle Anreize zu fördern, haben nur gerin-
gen Erfolg, denn die Ursachen liegen nicht beim Geld allein: Fehlende Infra-
struktur, Bedenken sich ein Leben lang an einen Ort zu binden, modernere
Lebensentwürfe, Angst vor Verschuldung und davor, später eventuell keinen
Praxisnachfolger zu finden, schrecken insbesondere junge Ärztinnen und
Ärzte ab. Poliklinische Strukturen, verschiedene Formen kooperativer Arbeits-
organisation, die ermöglichen, angestellt zu arbeiten oder Zweigniederlas-
sungen eröffnen Medizinerinnen und Medizinern attraktive Perspektiven, um
zeitweise, in Teilzeit, befristet und ohne Verschuldung zu arbeiten.

7. Die gegenwärtige Regelung der Zulassungen auf Lebenszeit, hohe Inves-
titionskosten in Praxen, die durch Weiterverkauf refinanziert werden und
damit vererbt werden dürfen, verhindern die Anpassung der Versorgung an
einen geringeren Bedarf. Ein Arztsitz kann so ewig weiterbestehen und
weitergegeben werden. Oder die Kassenärztlichen Vereinigungen müssen
diesen Sitz für viel Geld aufkaufen, wenn sie Überversorgung abbauen wol-
len. Ärzte in vermeintlich unattraktiven Gebieten gehen hingegen oft leer aus,
weil sie keinen Nachfolger finden. Hier ist gegenzusteuern. In einem unter-
versorgten Gebiet die Arbeit aufzunehmen, darf für Ärztinnen und Ärzte
nicht zum persönlichen Risiko werden. Zudem fehlt in unterversorgten Ge-
bieten oft das Geld, um die vorgeschlagenen Maßnahmen wie Aufbau von
Polikliniken, Einrichtung von Praxen zur Anstellung von Leistungserbrin-
gern, fahrende Praxen, Shuttle-Services etc. umzusetzen. Daher ist es sinn-
voll, dass die Regionen das Geld für den jeweils analysierten Bedarf erhalten

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/3215

und dieses Geld nicht in die Unterhaltung von Überversorgung fließt. Über-
versorgte Gebiete werden dadurch unattraktiver und unterversorgte Gebiete
gewinnen an Handlungsspielräumen.

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