BT-Drucksache 17/1781

zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok 8399/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Europäische Bürgerinitiative - Für mehr Bürgerbeteiligung in der EU

Vom 19. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1781
17. Wahlperiode 19. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken,
Jerzy Montag, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,
Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Memet Kilic, Ute Koczy, Tom Koenigs,
Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele, Josef
Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission
für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über die Bürgerinitiative KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok 8399/10

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung
gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes

Europäische Bürgerinitiative – Für mehr Bürgerbeteiligung in der EU

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Demokratie lebt von Partizipation und bürgerschaftlichem Engagement. Den
Weg für eine breitere Teilhabe von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern an der
künftigen Ausgestaltung europäischer Politik ebnet der Vertrag von Lissabon.
Mit dem neu geschaffenen Instrument der Europäischen Bürgerinitiative (Arti-
kel 11 Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union – EUV) können eine
Million EU-Bürgerinnen und -Bürger aus einer bestimmten Anzahl von Mit-
gliedstaaten die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Zustän-
digkeiten geeignete Rechtsetzungsvorschläge zu unterbreiten, um die bestehen-
den Verträge umzusetzen.

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) verkörpert ein neues Element partizipa-
torischer Demokratie. Der Einfluss möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger
auf die politische Willensbildung wird die demokratische Arbeitsweise der
Europäischen Union bereichern. Das neue Instrument bietet der EU eine einzig-

artige Chance, näher an ihre Bürgerinnen und Bürger zu rücken, grenzüber-
schreitende Debatten über europäische Fragen zu fördern und zum Aufbau
einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen.

Diese Chance wollen wir nutzen. Daher muss das Verfahren für die Durch-
führung einer EU-Bürgerinitiative verbindlich, nutzerfreundlich und unbürokra-
tisch ausgestaltet werden. Gleichzeitig müssen höchste Datenschutzstandards

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gewahrt bleiben und das europäische Interesse für ein vorgebrachtes Anliegen
deutlich werden.

II. In Ausübung seiner Rechte nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes for-
dert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, in den Verhandlun-
gen im Rat darauf hinzuwirken, dass

1. für die Europäische Kommission ein verbindliches Verfahren für den Umgang
mit Bürgerinitiativen festgelegt wird. Dies beinhaltet die Aufnahme einer
angemeldeten Initiative in ein Onlineregister, eine Zulässigkeitsprüfung zum
Zeitpunkt der Registrierung und die schriftliche Begründung des Resultats,
eine Überprüfung der festgelegten Quoren und Kriterien zum Zeitpunkt der
Einreichung, die Gelegenheit einer Nachprüfung durch den Europäischen
Bürgerbeauftragten, die Veröffentlichung der Prüfungsergebnisse, die obliga-
torische Befassung mit einer formal erfolgreich eingebrachten Initiative und
die ausführliche Begründung des endgültigen Beschlusses, ob ein Vorschlag
für einen Rechtsetzungsakt vorgelegt wird;

2. den Organisatorinnen und Organisatoren einer Bürgerinitiative umfassende
Rechte zugesprochen werden. Dies impliziert ein Widerspruchsrecht gegen
das Ergebnis der Zulässigkeitsprüfung sowie das Recht auf Überprüfung des
Ergebnisses durch den Europäischen Gerichtshof, ein einklagbares Recht auf
obligatorische Befassung der EU-Kommission mit einer formal erfolgreich
eingereichten Initiative, ein Recht auf öffentliche Anhörung sowie eine infor-
melle Vorabberatung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EU-Kom-
mission oder geeigneter dritter Stellen. Zur Förderung der Transparenz müs-
sen die Organisatorinnen und Organisatoren zum Zeitpunkt der Registrierung
alle Finanzierungsquellen der geplanten Initiative offenlegen und kontinuier-
lich über neue finanzielle Unterstützerinnen und Unterstützer informieren;

3. auch jungen Menschen die aktive Teilhabe an europäischen Prozessen und
Debatten ermöglicht wird und nur so wenige EU-Bürgerinnen und -Bürger
wie irgend möglich von der Beteiligung am Verfahren der Bürgerinitiative
ausgeschlossen werden. Das einheitliche Mindestalter ist auf 16 Jahre fest-
zulegen;

4. eine freie Sammlung von Unterstützungsbekundungen möglich ist. Ins-
besondere muss ein transparentes, benutzerfreundliches und zentral bei der
EU-Kommission oder einer geeigneten dritten Stelle angesiedeltes System
zur Onlinemitzeichnung geschaffen werden. Liegen der EU-Kommission
oder der dritten Stelle ausreichende Hinweise auf Missbrauch vor, sollten
die Mitgliedstaaten zur Verifizierung der Unterschriften aufgefordert werden
können;

5. die für eine Europäische Bürgerinitiative laut Artikel 11 Absatz 4 EUV be-
nötigten eine Million Unterschriften aus mindestens einem Viertel der Mit-
gliedstaaten stammen und das Quorum für die Mindestzahl an Unterstüt-
zungsbekundungen pro Mitgliedstaat je nach Größe des Landes zwischen
0,05 Prozent und 0,2 Prozent der Bevölkerung gestaffelt ist;

6. innerhalb des gesamten Verfahrens der Schutz natürlicher Personen bei der
Verarbeitung personenbezogener Daten sichergestellt sowie der Zweck-
bindungsgrundsatz sowohl rechtlich als auch technisch gewahrt wird. Aus-
schließlich autorisierte Institutionen sind berechtigt, auf die im Verfahren er-
hobenen Daten zuzugreifen. Die Einhaltung der Vorschriften muss von einer
unabhängigen Stelle überwacht werden;

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7. das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative in seiner vollen Ausgestal-
tung schnellstmöglich von den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern an-
gewendet werden kann. Die Verordnung muss unmittelbar nach ihrer Ver-
öffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten.

Berlin, den 18. Mai 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative ist in Artikel 11 Absatz 4 EUV
verankert. Demnach bedarf es der Unterstützung von mindestens einer Million
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger aus einer erheblichen Anzahl von Mit-
gliedstaaten, um die EU-Kommission auffordern zu können, im Rahmen ihrer
Befugnisse geeignete Rechtsetzungsvorschläge zur Umsetzung der Verträge zu
unterbreiten. Die genauen Verfahren und Bedingungen für solche Bürgerinitia-
tiven müssen durch eine Verordnung vom Europäischen Parlament und vom Rat
gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegt werden. Die Euro-
päische Kommission hat am 31. März 2010 den Vorschlag für eine Verordnung
über die Bürgerinitiative (KOM(2010) 119) vorgelegt.

Mit der Europäischen Bürgerinitiative soll EU-Bürgerinnen und -Bürgern die
Möglichkeit gegeben werden, gemeinsame Anliegen zu formulieren und diese
im Rahmen eines institutionalisierten Verfahrens bei der EU- Kommission,
die das Initiativrecht zur EU-Rechtsetzung innehat, einzureichen. Ziel ist es,
den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern eine umfangreichere Teilhabe am
politischen Gestaltungsprozess der EU zu ermöglichen, grenzüberschreitende
Debatten zu europäischen Themen zu fördern und den Dialog zwischen den
Bürgerinnen und Bürgern auf der einen und den europäischen Institutionen auf
der anderen Seite zu stärken. Das neue Instrument kann wesentlich dazu bei-
tragen, die EU bürgernäher und für die Menschen erlebbarer zu gestalten.

Die Europäische Bürgerinitiative ist derzeit nur ein Instrument des sogenannten
agenda-settings und verfügt über auffordernden Charakter. Mit dem Einreichen
einer Initiative wird keinerlei Entscheidung getroffen. Dies obliegt weiterhin
der EU-Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat. Unnötig hohe
Hürden und restriktive Vorgaben sind daher nicht angemessen. Die Verfahren
und Bedingungen für die EU-Bürgerinitiative müssen zwei grundlegenden Prä-
missen folgen. Zum einen müssen die Regeln und Verfahren so klar, einfach,
verbindlich, unbürokratisch, bürger- und nutzerfreundlich wie möglich sein.
Zum anderen müssen die Bürgerinitiativen ein europäisches Interesse repräsen-
tieren.

Die Anliegen von mindestens einer Million Bürgerinnen und Bürger müssen
nicht nur gehört, sondern auch gebührend beachtet und bei der Ausgestaltung
der künftigen EU-Politik angemessen berücksichtigt werden. Selbstverständ-
lich kann die EU-Kommission im letzten Schritt frei entscheiden, ob sie einen
Rechtsetzungsvorschlag unterbreitet. Doch bis zu diesem Schluss braucht es
ein transparentes Verfahren, verbindliche Regeln und angemessene Zeiträume
für den Umgang mit einer Initiative. Dieses Verfahren beinhaltet vor allem die
Klagemöglichkeit für die Organisatorinnen und Organisatoren hinsichtlich des
Rechts auf obligatorische Befassung und des Ergebnisses der Zulässigkeits-

prüfung. Die Zulässigkeitsprüfung zum Zeitpunkt der Registrierung muss be-
gutachten, ob sich das Ziel der Bürgerinitiative im Rahmen der Zuständigkeiten

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der Europäischen Kommission befindet und vereinbar mit den grundlegenden
EU-Rechtsvorschriften, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der
Grundrechtecharta der Europäischen Union ist.

Die Interessen künftiger Generationen müssen bei der weiteren Umsetzung der
Verträge hinreichend berücksichtigt werden. Gerade junge Menschen sollten
ermutigt werden, sich aktiv am demokratischen Leben zu beteiligen und ihre
Anliegen über nationale Grenzen hinaus zu formulieren. Das Ziel muss sein,
so wenige Menschen wie möglich von der Beteiligung auszuschließen. Die
Festlegung eines einheitlichen Mindestalters von 16 Jahren ist daher angemes-
sen. Rückschrittlich wäre die Kopplung des Mindestalters an die Altersgrenze
für die Beteiligung an Wahlen zum Europäischen Parlament. Denn das Instru-
ment der Bürgerinitiative hat lediglich auffordernden Charakter und ist mit
einem Wahlakt nicht gleichzusetzen.

Um zum Entstehen einer europäischen Zivilgesellschaft beitragen zu können,
muss die Europäische Bürgerinitiative auch ein Instrument für kleinere und noch
weniger gut vernetzte Organisationen sowie Privatpersonen werden. Dazu be-
darf es möglichst niedriger Hürden und unkomplizierter Regeln. Die Sammlung
und Verifizierung auch von online abgegebenen Unterstützungsbekundungen
müssen für die Organisatorinnen und Organisatoren ohne hohen finanziellen
und organisatorischen Aufwand bewältigt werden können. Gleichzeitig muss
jedoch gewährleistet werden, dass die Europäische Bürgerinitiative nicht als
Deckmantel für rein nationale Interessen genutzt wird.

Gemäß Artikel 8 der EU-Grundrechtecharta muss der Schutz natürlicher Perso-
nen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie der Zweckbindungs-
grundsatz und die Überwachung der Vorschriften von einer unabhängigen
Stelle gewährleistet werden.

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